European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2006:0020OB00044.06V.0316.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei und der Nebenintervenientin auf Seiten der klagenden Partei deren jeweils mit EUR 962,88 (darin EUR 160,48 USt) bestimmte Kosten ihrer Revisionsbeantwortungen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung
Rechtliche Beurteilung
Die Zurückweisung einer Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).
Das Berufungsgericht hat die ordentliche Revision für zulässig erklärt, weil zur Frage, ob bei einer Reaktionsverspätung von 0,5 Sekunden eine „EKHG‑Haftung" zu bejahen sei, keine aktuelle oberstgerichtliche Rechtsprechung existiere.
Die von den beklagten Parteien gegen das Berufungsurteil erhobene Revision ist entgegen diesem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichtes nicht zulässig.
Gemäß § 9 Abs 1 EKHG ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch einem Versagen der Verrichtungen der Eisenbahn oder des Kraftfahrzeuges beruhte. Gemäß § 9 Abs 2 EKHG gilt als unabwendbar ein Ereignis insbesondere dann, wenn es auf das Verhalten des Geschädigten, eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres zurückzuführen ist, sowohl der Betriebsunternehmer oder Halter als auch die mit Willen des Betriebsunternehmers oder Halters beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben und der Unfall nicht unmittelbar auf die durch das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist.
Die Haftungsbefreiung kommt dem Betriebsunternehmer oder Halter somit nur dann zugute, wenn er die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche und zumutbare Sorgfalt eingehalten hat; es muss alles vermieden werden, was zur Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte (RIS‑Justiz RS0058326, RS0058278, RS0058411; Koziol, Haftpflichtrecht2 II 551 ff; Apathy Komm z EKHG § 9 Rz 15 f; Schauer in Schwimann, ABGB3 § 9 EKHG Rz 21). An diese Sorgfaltspflicht sind strengste Anforderungen zu stellen; sie darf andererseits aber auch nicht überspannt werden, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung vermieden werden (RIS‑Justiz RS0058425 [T 3], RS0058326 [T 1], RS0058278 [T 5]; vgl ferner die Judikaturnachweise bei Danzl, EKHG7 § 9 E 68; Apathy aaO Rz 18; Schauer aaO Rz 22). Dabei ist nicht rückblickend zu beurteilen, ob der Unfall bei anderem Verhalten vermieden worden wäre, sondern von der Sachlage vor dem Unfall auszugehen (RIS‑Justiz RS0058216). Der Umfang der gemäß § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt hängt regelmäßig von den besonderen Umständen des Einzelfalles ab (2 Ob 93/05y; RIS‑Justiz RS0111708).
Die - auch in den Ausführungen zur Beweiswürdigung und zur rechtlichen Beurteilung auffindbaren - Feststellungen des Erstgerichtes sind in ihrem Gesamtzusammenhang dahin zu verstehen, dass die Erstbeklagte den von der Nebenintervenientin geschobenen Kinderwagen „maximal" 0,3 Sekunden nach jenem Zeitpunkt als Gefahr erkannte, in dem ihr die Gefahrenerkennung bei gehöriger Aufmerksamkeit möglich gewesen wäre. Weitere 0,2 Sekunden davor war der auf der Fahrbahn zwischen zwei parkenden Fahrzeugen hervorkommende Kinderwagen in ihren Sichtbereich gelangt, wobei von der sich dahinter vorwärts bewegenden Nebenintervenientin nur der Kopf zu sehen war.
Bei dieser Sachlage hält sich die den dargestellten Rechtsprechungsgrundsätzen folgende Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, von einem besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrer wäre zu verlangen gewesen, schon bei erster Sicht auf den Kinderwagen zu reagieren, im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden Beurteilungsspielraumes. Zwar stellt das verkehrswidrige Verhalten von Fußgängern für den Lenker eines Kraftfahrzeuges dann ein unabwendbares Ereignis dar, wenn er nach den Umständen damit nicht zu rechnen brauchte und er den Unfall bei Anwendung der Vorsicht und Aufmerksamkeit eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern konnte (2 Ob 19/04i = JBl 2004, 725; RIS‑Justiz RS0058217). Deuten aber - wie im vorliegenden Fall - Anzeichen darauf hin, dass der Fußgänger die Fahrbahn überqueren könnte, so muss der Kraftfahrer darauf durch Herabsetzung der Geschwindigkeit oder Abgabe eines Warnsignals reagieren, um dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG zu entsprechen (8 Ob 143/71 = ZVR 1972/75; Schauer aaO Rz 26).
Der Oberste Gerichtshof hatte schon mehrfach Fälle zu beurteilen, in denen die um Sekundenbruchteile verspätete, zur Begründung eines (Mit‑)Verschuldens nicht ausreichende (RIS‑Justiz RS0027729) Reaktion eines Kraftfahrers auf einen verkehrswidrig die Fahrbahn betretenden Fußgänger das Gelingen des Entlastungsbeweises gemäß § 9 Abs 2 EKHG hinderte (2 Ob 165/72 = ZVR 1974/101; 2 Ob 178/80 = ZVR 1981/195; RIS‑Justiz RS0058372; vgl auch die Rechtsprechungsübersicht bei Schauer aaO Rz 31 FN 174). Im Falle der Entscheidung 8 Ob 180/81, die das Berufungsgericht als Belegstelle für eine gegenteilige Judikatur zitiert, war - entgegen dem unter RIS‑Justiz RS0058354 (missverständlich) formulierten Rechtssatz - im Revisionsverfahren gar nicht mehr strittig, dass dem (bezogen auf den Zeitpunkt der objektiven Erkennbarkeit der Gefahr) um 0,3 Sekunden verspätet reagierenden Kraftfahrer, der den „flotten Schrittes" herannahenden Fußgänger überdies schon vor dem Betreten der Fahrbahn sehen hätte können, der Entlastungsbeweis misslungen ist.
Das Berufungsgericht hat demnach die Grenze des ihm zustehenden Ermessens nicht überschritten, wenn es unter den konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalles den den beklagten Parteien obliegenden Entlastungsbeweis als misslungen angesehen und den Unfall nicht als unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 EKHG beurteilt hat. Die Ungewissheit über das tatsächliche Ausmaß der Reaktionsverspätung geht zu Lasten der beklagten Parteien (RIS‑Justiz RS0058926).
Auch in der Revision werden keine erheblichen Rechtsfragen dargetan.
In der Entscheidung ZVR 1984/150 (= 8 Ob 12/83), auf die sich die beklagten Parteien berufen, hat der Oberste Gerichtshof bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 9 Abs 2 EKHG ausgeführt, dass der am Unfall beteiligte Kraftfahrer seine Fahrgeschwindigkeit nicht schon wegen der auf der Gegenfahrbahn angehaltenen Fahrzeugkolonne hätte herabsetzen müssen, ohne dass mit einem die Fahrbahn überquerenden Fußgänger konkret zu rechnen war (ähnlich auch 2 Ob 19/04i = JBl 2004, 725). Daraus sind aber für den hier vorliegenden Fall, in welchem die Erstbeklagte auf eine konkrete Gefahr verspätet reagierte, keine Erkenntnisse zu gewinnen, die eine Korrektur der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit erfordern würde.
Selbst wenn die Erstbeklagte den Unfall auch bei Einhaltung der äußersten zumutbaren Sorgfalt nicht vermeiden hätte können, kann doch nicht ausgeschlossen werden, dass bei geringerer Kollisionsgeschwindigkeit, einer möglicherweise geringeren Überdeckung der Fahrzeugfront mit dem Kinderwagen oder einem möglichen anderen Anstoßwinkel die Unfallfolgen geringer ausgefallen wären. Auch diese Unklarheit geht aber zu Lasten der haftpflichtigen beklagten Parteien (2 Ob 165/72 = ZVR 1974/101; 2 Ob 2178/96z = ZVR 1999/54). Den in der Revision zum Thema der Unvermeidbarkeit des Unfalles vermissten Feststellungen käme daher keine streitentscheidende Bedeutung zu.
Da es somit der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO nicht bedurfte, war die Revision als unzulässig zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Der Kläger und die Nebenintervenientin haben in ihren Revisionsbeantwortungen jeweils auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
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