European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:E100546
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 818,66 EUR (darin enthalten 136,44 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 18. Juli 2008 gegen 15:00 Uhr ereignete sich im Gemeindegebiet von Furth/Palt auf der L 114 nächst dem Straßenkilometer 4,0 bei Tageslicht und trockener Fahrbahn ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker seines Mopeds sowie ein vom Erstbeklagten gehaltener und gelenkter, bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherter PKW beteiligt waren. Dadurch wurden beide Fahrzeuge beschädigt und der Kläger sowie sein Mitfahrer schwer verletzt.
Die Unfallstelle befindet sich an der Einmündung des Altersheimwegs in die L 114. Der Straßenkilometer 4,0 befindet sich nach dieser Kreuzung. Auf Höhe der Kilometrierung wurde die Bezugslinie quer zur Fahrbahnlängsachse der Landesstraße gelegt. Die verwendeten Bezeichnungen vor und nach der Bezugslinie gelten stets in Fahrtrichtung der Unfallfahrzeuge gesehen, also aus Richtung Furth kommend Richtung Brunnkirchen. Die L 114 verläuft nach der Kreuzung mit der L 100 (Kreisverkehr) annähernd 70 m geradlinig und geht dann in eine langgezogene leicht ansteigende Rechtskurve über. Der Altersheimweg mündet linksseitig, was den Trichter betrifft, unter einem Winkel von 160 bis 165 Grad, in die L 114 ein. Der Einmündungstrichter des Altersheimwegs beginnt 19 m vor der Bezugslinie und endet rund 1 m vor dieser. In Richtung Altersheimweg geblickt mündet die gedachte Verlängerung des linken Fahrbahnrands dieses Weges etwa 13 m vor der Bezugslinie in den Fahrbahnrand der L 114 ein. Im Bereich der Unfallstelle steigt die Fahrbahn stärker werdend mit etwa 3 bis 5 % an. Die rechte, Richtung Brunnkirchen führende Fahrbahnhälfte ist dort 3,0 m und die linke Fahrbahnhälfte 3,4 m breit. Die Fahrbahnhälften werden durch eine Leitlinie getrennt. Für einen Richtung Brunnkirchen fahrenden Fahrzeuglenker ist ab Verlassen des Kreisverkehrs mit der L 100 und damit etwa ab dem Bereich 170 m vor der Bezugslinie Sicht auf den Kreuzungsbereich des Altersheimwegs und darüber hinaus auf mehr als 100 m gegeben. Es gilt eine höchstzulässige Fahrgeschwindigkeit von 100 km/h. Der Altersheimweg ist außerhalb des Trichters rund 3 m breit. Die Tiefe des Einmündungstrichters gemessen in geometrischer Mitte des Trichters ist ca 8 m tief. Der Altersheimweg weist wie auch die Fahrbahn der L 114 einen Asphaltbelag auf. Das Moped ist 2,10 m lang und 0,7 m breit, unter Berücksichtigung der Aufsassen ca. 0,8 m. Der PKW ist 4,67 m lang und 1,79 m breit.
Der Kläger fuhr mit dem Mofa und seinem Freund auf dem Sozius vor dem PKW auf der L 114 von Furth kommend Richtung Brunnkirchen mit 40 km/h auf dem rechten Teil des rechten Fahrstreifens. Er wollte 20 m vor der Bezugslinie links in den Altersheimweg abbiegen. Die Annäherungsgeschwindigkeit des PKW betrug etwa 50 km/h. Ob beim Moped der linke Blinker rechtzeitig eingeschaltet wurde, steht nicht fest. 60 bis 80 m vor der Kreuzung begann der Erstbeklagte, ohne seine Geschwindigkeit zu erhöhen, den linken Blinker zu setzen und zu überholen. Er veränderte seine Fahrlinie derart, dass er in einem Abstand von 1,5 m am Moped vorbeifahren wollte.
Obwohl der PKW in Überholposition unmittelbar hinter dem Kläger zu erkennen gewesen wäre, wenn dieser den Nachfolgeverkehr beobachtet hätte, begann er 1,1 Sekunden vor der Kollision durch seichte Querneigung des Lenkers um rund 10 Grad mit der Fahrlinienänderung nach links. Etwa 20 m vor der Bezugslinie, somit im Nahbereich des Beginns des Einmündungstrichters des Altersheimwegs, kam es mit einer Differenzgeschwindigkeit der Fahrzeuge von unter 10 km/h und einem Kollisionswinkel von nicht mehr als 10 Grad zur streifenden Berührung. Die Lage der Kollisionsstelle kann in Bezug auf die Fahrbahnbreite ebensowenig wie die Fahrlinien der beteiligten Lenker unmittelbar vor dem Abbiegen des Klägers festgestellt werden. Der Erstbeklagte bremste danach und lenkte nach links aus. Das Mofa wurde vor dem Aufschlagen im Gelände außerhalb der Fahrbahn noch über eine Strecke von 20 m bis zum Kippvorgang gelenkt. Es kam nahezu tangential aus dem Straßenverlauf der L 114 kurvenseitig ab. Der Kläger sowie sein Mitfahrer kamen im angrenzenden Weingarten neben dem Mofa zu liegen.
Der Unfall wäre unterblieben, wenn der Erstbeklagte nicht mit 50 km/h, sondern mit 60 km/h überholt hätte.
Der Kläger begehrt unter Anerkenntnis des halben Mitverschuldens die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 5.504 EUR zur ungeteilten Hand sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für die Unfallfolgen, hinsichtlich der Zweitbeklagten beschränkt auf die bestehende Haftpflichtversicherungssumme. Das Zahlungsbegehren setzt sich aus Schmerzengeld (5.000 EUR) und weiteren unfallkausalen Schäden zusammen. Der Kläger brachte vor, er habe beabsichtigt, nach links in den Altersheimweg abzubiegen. Er habe in den Spiegel geblickt, danach den linken Blinker betätigt und sich zur Fahrbahnmitte eingereiht. Als er das Abbiegemanöver mit 25 km/h durchführen habe wollen, sei es zu einer streifenden Kollision mit dem im Überholvorgang und somit auf unmittelbarer Höhe des Mopeds befindlichen PKW gekommen. Für den Erstbeklagten sei das Abbiegemanöver des Klägers leicht erkennbar gewesen. Es liege ein Mitverschulden des Erstbeklagten von 50 % vor. Dieser habe in zu geringem Seitenabstand überholt, seine Fahrlinie nicht zur Gänze auf die linke Fahrbahnseite verlegt und darüber hinaus beim Überholen eine zu geringe Differenzgeschwindigkeit eingehalten. Da der Kläger Spät- und Dauerfolgen erlitten habe, bestehe ein rechtliches Interesse am Feststellungsbegehren.
Die Beklagten entgegneten, den Erstbeklagten treffe kein Verschulden. Er habe ein ordnungsgemäßes Überholmanöver mit ausreichendem Sicherheitsabstand zum Moped durchgeführt. Der beabsichtigte Überholvorgang sei durch das Betätigen des Blinkers angezeigt worden. Ohne das Linksabbiegemanöver in irgendeiner Art und Weise anzukündigen, habe der Kläger vom äußerst rechten Fahrbahnrand gegen die Fahrbahnmitte gelenkt. Um eine Kollision zu vermeiden, habe der Beklagte sein Fahrzeug unverzüglich nach links verrissen und abgebremst, einen Zusammenstoß aber nicht vermeiden können. Ein Seitenabstand von 1,5 m sei ausreichend. Darüber hinaus fehle es am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der eingehaltenen Geschwindigkeit im Zuge des Überholmanövers und dem Linksabbiegemanöver vom rechten Fahrbahnrand weg.
Das Erstgericht traf die schon wiedergegebenen Feststellungen und wies das Klagebegehren ab. Die Negativfeststellungen betreffend die Betätigung des linken Blinkers und das Einordnen des Mopeds zur Fahrbahnmitte gingen zu Lasten des Klägers, weil ihm der Beweis eines ordnungsgemäßen Linksabbiegens und damit eines unzulässigen Überholvorgangs des Erstbeklagten nicht gelungen sei. Der vom Erstbeklagten eingehaltene seitliche Sicherheitsabstand von 1,5 m beim Überholen des Mopeds sei ausreichend. Da ausreichende Sicht über mehr als 100 m auf die Fahrbahnoberfläche bestanden habe und kein Gegenverkehr vorhanden gewesen sei, demnach eine Gefahr beim Wiedereinordnen allenfalls durch „Hineinschneiden“ nicht ansatzweise erkennbar sei, verstoße das Überholen mit einer geringen Differenzgeschwindigkeit nicht gegen § 16 Abs 1 lit b StVO. Die Norm schütze nicht den rechtswidrig Linksabbiegenden. Den Erstbeklagten treffe somit kein Verschulden.
Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts. Gemäß § 16 Abs 1 lit c StVO sei Überholen unzulässig, wenn der Lenker nicht einwandfrei erkennen könne, dass er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen könne, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern. Der Oberste Gerichtshof habe in der Entscheidung 2 Ob 56/05g ausgesprochen, diese Bestimmung bezwecke nicht den Schutz eines Verkehrsteilnehmers, der in dieselbe Richtung fahre und vorschriftswidrig nach links abbiege. Dieser Entscheidung sei zu Grunde gelegen, dass der Überholte aus einer fahrenden Kolonne ohne rechtzeitige Anzeige nach links abzubiegen versucht habe; diese Gefahr stehe mit der Gefahr aus der Unabsehbarkeit der Möglichkeit des Wiedereinordnens in keinem Zusammenhang. Ebenso habe sich hier keine Gefahr aus der Dauer des Überholvorgangs verwirklicht, sondern nur aus dem Umstand, dass sich der PKW zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befunden habe und der Kläger, ohne sich zu vergewissern, nach links abzubiegen versucht habe. § 16 Abs 1 lit b StVO bezwecke somit auch nicht den Schutz eines Verkehrsteilnehmers, der in dieselbe Richtung fahre und vorschriftswidrig nach links abbiege. Das Erstgericht habe daher zu Recht den Rechtswidrigkeitszusammenhang verneint.
Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil zur hier zu lösenden Rechtsfrage (womit erkennbar die Frage des Schutzzwecks von § 16 Abs 1 lit b StVO in Zusammenhang mit rechtswidrig nach links abbiegenden Überholten gemeint ist) keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege und die Frage über den Einzelfall hinaus Bedeutung habe.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen in klagsstattgebendem Sinn abzuändern.
Die Beklagten beantragen in der Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
Der Kläger versucht in der Revision mit verschiedenen Argumenten darzulegen, dass der Kläger gegen § 16 Abs 1 lit b StVO verstoßen habe und diese Bestimmung auch den Schutz vorschriftswidrig nach links abbiegender (überholter) Verkehrsteilnehmer bezwecke.
Rechtliche Beurteilung
Der erkennende Senat hat erwogen:
Die vom Kläger vorgetragenen Argumente überzeugen nicht, vielmehr kann er auf die zutreffende rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts verwiesen werden (§ 510 Abs 3 ZPO), die folgendermaßen ergänzt wird:
Nach § 16 Abs 1 lit b StVO darf ein Lenker eines Fahrzeugs nicht überholen, wenn der Unterschied der Geschwindigkeiten des überholenden und des eingeholten Fahrzeugs unter Bedachtnahme auf allenfalls geltende Geschwindigkeitsbeschränkungen für einen kurzen Überholvorgang zu gering ist.
Das Gesetz schreibt weder bestimmte absolute noch bestimmte relative Geschwindigkeitsunterschiede beim Überholen vor. Auch die Rechtsprechung hat sich diesbezüglich nicht festgelegt. Danach wird der Forderung des Gesetzes nach einem kurzen und zügigen Überholvorgang nur dann entsprochen, wenn die Geschwindigkeit des Überholenden wesentlich höher ist als die des zu überholenden Fahrzeugs (RIS-Justiz RS0074133). Aus 8 Ob 32/76 = ZVR 1977/39 ergibt sich implizit, dass bei 60 km/h des überholten Fahrzeugs 80 bis 85 km/h des überholenden Fahrzeugs ausreichend sind.
Da der Kläger für ein Verschulden des Erstbeklagten beweispflichtig ist (RIS-Justiz RS0022783), ist bei der festgestellten Differenzgeschwindigkeit von „unter 10 km/h“ von einem Wert nahe bei 10 km/h auszugehen. Somit wäre der Erstbeklagte ohnehin fast 25 % schneller als der Kläger gefahren.
Ob der Erstbeklagte unter diesen Umständen überhaupt gegen § 16 Abs 1 lit b StVO verstoßen hat, kann aber schon wegen des von den Vorinstanzen zutreffend verneinten Rechtswidrigkeitszusammenhangs zwischen dem dem Erstbeklagten angelasteten Verstoß und dem eingetretenen Schaden dahingestellt bleiben.
Der Schutzzweck der Überholverbote nach § 16 Abs 1 lit a bis c und Abs 2 lit b StVO besteht zwar grundsätzlich nicht nur darin, den Gegenverkehr gefahrlos zu ermöglichen, sondern auch darin, alle jene Schäden zu verhindern, die beim Überholvorgang während des Vorbeibewegens an dem überholten Fahrzeug und beim Wiedereinordnen nach dem Überholen entstehen können (RIS‑Justiz RS0027630).
Der Oberste Gerichtshof hat aber in bestimmten Konstellationen den Schutzzweck der genannten Überholverbote für eingetretene Schäden verneint. So bezieht sich das auch hier in Frage stehende Überholverbot gemäß § 16 Abs 1 lit b StVO nicht auf den benachrangten Querverkehr (2 Ob 17/03v = RIS-Justiz RS0027630 [T2]). Vergleichbar mit dem vorliegenden Fall bezweckt § 16 Abs 1 lit c StVO nicht den Schutz des Verkehrsteilnehmers, der in dieselbe Richtung fährt und vorschriftswidrig nach links abbiegt (2 Ob 56/05g = RIS-Justiz RS0027630 [T4]). Nach der Entscheidung 2 Ob 64/09i (= RIS-Justiz RS0125195) dient das Überholverbot nach § 16 Abs 1 lit a StVO (bei Gefährdung oder Behinderung anderer, insbesondere entgegenkommender Verkehrsteilnehmer oder bei ungenügendem Platz für ein gefahrloses Überholen) nicht dem Schutz des von links kommenden, wartepflichtigen Querverkehrs.
Ebenso bezweckt § 16 Abs 1 lit b StVO nicht den Schutz des überholten Verkehrsteilnehmers, der in dieselbe Richtung fährt und vorschriftswidrig nach links abbiegt. Dessen Schutz kann schon deshalb nicht bezweckt sein, weil eine hohe Differenzgeschwindigkeit zwischen überholendem und überholtem Fahrzeug bei dem zu erwartenden Zusammenstoß als Folge eines vorschriftswidrigen Linksabbiegens des Überholten in der Regel schwerwiegendere Folgen haben wird als eine geringe Differenzgeschwindigkeit.
Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 41, 50 ZPO.
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