OGH 2Ob56/05g

OGH2Ob56/05g5.10.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Veith und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Grohmann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Johann G*, vertreten durch Dr. Klaus Reisch und Dr. Anke Reisch, Rechtsanwälte in Kitzbühel, gegen die beklagten Parteien 1. Heinrich F*, 2. Martha B*, und 3. G* AG, *, alle vertreten durch Dr. Brüggl und Dr. Harrasser, Rechtsanwälte OEG in Kitzbühel, wegen EUR 16.110,39 sA und Feststellung (Streitwert EUR 1.000) über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 26. November 2004, GZ 3 R 163/04a‑29, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 6. August 2004, GZ 8 Cg 212/03g‑25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2006:E82035

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 789,91 (darin enthalten EUR 131,65 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Am 3. 10. 2002 ereignete sich ein Verkehrsunfall, an welchem der Kläger als Lenker eines Motorrollers und ein vom Erstbeklagten gelenkter, der Zweitbeklagten als Halterin gehöriger und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherter PKW beteiligt waren. Der Kläger war gerade im Begriffe, eine wegen einer ampelgeregelten Baustelle zunächst stehengebliebene und wiederangefahrene Kolonne zu überholen, als der in die gleiche Richtung fahrende Erstbeklagte nach links in den Gemeindeweg „Am See" einbiegen wollte, um über diesen die Baustelle umfahren zu können. Die Fahrzeuge kollidierten seitlich; der Kläger erlitt schwere Verletzungen.

Der Motorroller des Klägers hat eine Fahrzeugbreite von ca 80 cm, der PKW eine solche von ca 166 cm. Die Straße war im Unfallsbereich ca 6 Meter breit. Es war eine Mittelleitlinie vorhanden. In Fahrtrichtung der beiden Fahrzeuglenker bestand eine Steigerung von 5 bis 6 %. Die Straße verlief ca 70 Meter vor der späteren Unfallstelle geradlinig. Es bestand eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h.

Der Kläger begehrt Zahlung von EUR 16.110,39 sA (unstrittiger Sachschaden zuzüglich Schmerzengeld von EUR 12.000) sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für seine künftigen Schäden. Unstrittig ist weiters, dass der Kläger ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Haftung der Beklagten aus dem Unfall hat. Der Kläger brachte vor, das Alleinverschulden treffe den Erstbeklagten, der plötzlich, ohne vorher zu blinken, nach links abgebogen sei. Der Erstbeklagte hätte den Kläger bei entsprechender Aufmerksamkeit in Überholposition sehen können und deshalb vom Linksausscheren Abstand nehmen müssen. Der Kläger habe den für das Überholen nötigen Seitenabstand eingehalten. Er habe sich zur Gänze auf der linken Fahrbahnhälfte befunden.

Die Beklagten wendeten dagegen ein, der Kläger habe die geschlossene Kolonne mit überhöhter Geschwindigkeit unaufmerksam trotz des linksblinkenden und zur Fahrbahnmitte eingeordneten Beklagtenfahrzeuges überholt. Der Überholvorgang sei unzulässig gewesen, weil er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang nicht mehr hätte einordnen können. Sie wendeten den am Fahrzeug der Zweitbeklagten entstandenen Sachschaden als Gegenforderung ein.

Das Erstgericht stellte ausgehend vom Alleinverschulden des Erstbeklagten die Klagsforderung als mit EUR 15.483,71 als zu Recht bestehend, hingegen die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend fest. Dementsprechend wurden die Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von EUR 15.483,71 sA verurteilt und die Haftung der beklagten Parteien zum Ersatz der künftigen Schäden des Klägers zu 100 % festgestellt. Ein Mehrbegehren auf Zahlung weiterer EUR 626,68 sA wurde abgewiesen.

Das Erstgericht traf noch folgende Feststellungen:

Der Kläger und der Erstbeklagte waren zunächst in Richtung Westen gefahren. Auf der Bundesstraße ergab sich dann in dieser Fahrtrichtung ein Verkehrsstau durch eine ampelgeregelte Baustelle. Der Erstbeklagte hielt hinter einer Vielzahl von PKWs an. Der Kläger näherte sich von hinten, nachdem er in der Kolonne nur kurzfristig angehalten hatte und auf die linke Fahrbahnhälfte ausgeschert war. Seine Fahrposition im Bereich der linken Fahrbahnhälfte steht nicht fest, auch nicht der Seitenabstand, mit dem er das Beklagtenfahrzeug überholen wollte. Dieses war, als der Kläger auf seine Höhe kam, auf der rechten Fahrbahnhälfte mittlerweile angefahren und fuhr 10 bis 15 km/h.

Die Erstbeklagte wollte nur mehr kurz in der Kolonne bleiben, weil er nach links in die Abzweigung „Am See" abbiegen wollte. Nicht erwiesen war, dass er mit der linken Wagenseite in Fahrbahnmitte fuhr, insofern aus der Kolonne nach links herausragte. Jedenfalls blinkte der Erstbeklagte erst unmittelbar vor dem Ausscheren. Der schon nahe herangekommene Kläger, der mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 30 km/h fuhr, hatte keine Abwehrchancen mehr. Ein Reaktionsverzug konnte für den Kläger nicht festgestellt werden. Dagegen stand hinsichtlich des Erstbeklagten fest, dass er bei gehöriger Aufmerksamkeit, wenn er vor Beginn des Linksausscherens in den Außenspiegel geblickt hätte, den Kläger hätte sehen müssen.

Nicht festgestellt werden konnte, dass ein Überholverbot bestand.

Der Kläger wurde beim Unfall durch Prellungen, eine Beckenringfraktur rechts, eine Fraktur der fünften Rippe rechts sowie eine Fraktur des fünften Mittelhandknochens rechts schwer verletzt. Er befand sich bis zum 5. 10. 2002 stationär im Krankenhaus in St. Johann und dann bis 5. 11. 2002 in einem Krankenhaus in Deutschland. In der Zeit vom 5. 11. bis 3. 12. 2002 war er Patient an einer Rehabilitationsklinik. Am 1. 2. 2003 begann er wieder mit seiner Arbeit als Anästhesiepfleger, dies zunächst nur mit vier Stunden pro Woche. Er erlitt drei bis vier Tage schwere Schmerzen, zwei Wochen lang mittlere Schmerzen und zehn bis zwölf Wochen lang leichte Schmerzen. Gesundheitliche Spätfolgen sind nicht auszuschließen.

Rechtlich vertrat das Erstgericht die Auffassung, der Erstbeklagte habe den Unfall allein verschuldet, zumal den Beklagten der Nachweis eines Mitverschuldens des Klägers (überhöhte Geschwindigkeit, Reaktionsverzug, zu geringer seitlicher Abstand beim Überholen) nicht gelungen sei. Insbesondere sei den Beklagten auch der Nachweis nicht gelungen, dass der Kläger gegen ein Überholverbot verstoßen habe. Das Verschulden des Erstbeklagten bestehe darin, dass er sich über einen allfälligen Überholverkehr nicht ausreichend vergewissert habe. Er hätte vor dem Linksabbiegen zumindest einen Seitenblick in den Außenspiegel werfen müssen. Das Schmerzengeld sei mit EUR 11.500 zu bemessen.

Das von den Beklagten angerufene Berufungsgericht gab deren Berufung nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und hielt weitere begehrte Feststellungen, nämlich dass für den Kläger das Ende der Kolonne jedenfalls bei Beginn und während seines Überholmanövers nicht einsehbar gewesen sei, für entbehrlich. Dem Kläger werde auch ein Verstoß gegen das Überholverbot des § 16 Abs 1 lit c StVO zum Vorwurf gemacht, wonach der Lenker eines Fahrzeuges dann nicht überholen dürfe, wenn er nicht einwandfrei erkennen könne, dass er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen könne, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern. Der Schutzzweck des Überholverbotes nach § 16 Abs 1 lit c StVO bestehe zwar nach ständiger Rechtsprechung nicht nur darin, den Gegenverkehr gefahrlos zu ermöglichen, sondern auch darin, alle jene Schäden zu verhindern, die beim Überholvorgang während des Vorbeifahrens an dem überholten Fahrzeug und beim Wiedereinordnen nach dem Überholen entstehen könnten. Die zitierte Gesetzesbestimmung könne aber nicht als Schutznorm im Sinn des § 1311 ABGB dahin verstanden werden, dass damit Unfälle wie der gegenständliche, die auf ein Linksabbiegen des überholten Fahrzeuges im Sinne der §§ 11 bis 13 StVO zurückzuführen seien, verhindert werden sollten. Der Schutzzweck des § 16 Abs 1 lit c StVO könne demnach nicht auf ein überholtes und links ausscherendes Fahrzeug bezogen werden. Da sonst kein weiteres Fehlverhalten des Klägers behauptet werde und auch die dem Erstbeklagten gemachten Verschuldensvorwürfe unbekämpft geblieben seien, bleibe für eine Schadensteilung iSd § 11 EKHG kein Raum.

Schließlich könnten sich die Beklagten durch die Bemessung des Schmerzengeldes mit EUR 11.500 nicht für beschwert erachten.

Die ordentliche Revision sei zuzulassen, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob auch der aus einer überholten Fahrzeugkolonne nach links abbiegende Fahrzeuglenker vom Schutzzweck des Überholverbotes nach § 16 Abs 1 lit c StVO erfasst sei.

Die Beklagten beantragen in ihrer Revision die angefochtene Entscheidung abzuändern, festzustellen, dass die Forderung des Klägers mit EUR 6.491,85 zu Recht bestehe, jene der Beklagten mit EUR 1.542,55, und dem Kläger lediglich EUR 4.949,30 sA zuzusprechen, dies bei Feststellung einer lediglich 50 %igen Haftung der Beklagten für künftige Schäden.

Der Kläger beantragt der Revision der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die an den Obersten Gerichtshof herangetragene Rechtsfrage einer Antwort bedarf, sie ist aber nicht berechtigt.

Nach § 16 Abs 1 lit c StVO darf der Lenker eines Fahrzeuges nicht überholen, wenn er nicht einwandfrei erkennen kann, dass er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen kann, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern.

Der Schutzzweck der Norm ergibt sich aus ihrem Inhalt. Das Gericht hat das anzuwendende Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren, um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den in einem konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten wollte. Es genügt, dass die Verhinderung des Schadens bloß mitbezweckt ist; die Norm muss aber die Verhinderung eines Schadens, wie des später eingetretenen, zumindest intendiert haben (RIS‑Justiz RS0008775; zuletzt 2 Ob 279/05a).

Im Leitsatz der auch in der Revision zitierten Entscheidung 2 Ob 103/83 (= ZVR 1984/162; RIS‑Justiz RS0027630) wird zwar allgemein ausgesprochen, der Schutzzweck der Überholverbote nach § 16 Abs 1 lit a bis c und Abs 2 lit b StVO bestehe nicht nur darin, den Gegenverkehr gefahrlos zu ermöglichen, sondern auch darin, alle jene Schäden zu verhindern, die beim Überholvorgang während des Vorbeibewegens an dem überholten Fahrzeug und beim Wiedereinordnen nach dem Überholen entstehen könnten. Bei dem dort zu beurteilenden Sachverhalt konnte aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass der Überholende wegen ungünstiger Sichtverhältnisse versuchte, in den zwischen dem überholten Fahrzeug und einem davor befindlichen LKW vorhandenen freien Raum zu lenken, wodurch die Kollision herbeigeführt wurde.

Dieser Sachverhalt unterscheidet sich daher wesentlich von dem hier zu beurteilenden, weil hier feststeht, dass der Erstbeklagte aus einer fahrenden Kolonne ohne rechtzeitige Anzeige nach links abzubiegen versuchte. Diese Gefahr steht aber mit der Gefahr aus der Unabsehbarkeit der Möglichkeit des Wiedereinordnens in keinem Zusammenhang.

Somit bezweckt die Bestimmung des § 16 Abs 1 lit c StVO nicht den Schutz eines Verkehrsteilnehmers, der in dieselbe Richtung fährt und vorschriftswidrig nach links abbiegt.

Soweit in der Revision die Bemessung des Schmerzengeldes bemängelt wird, bestehen gegen diese keine Bedenken.

Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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