OGH 2Ob286/05f

OGH2Ob286/05f29.6.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Hon. Prof. Dr. Danzl und Dr. Veith sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Grohmann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Olga Z*****, vertreten durch Mag. Bernd Moser, Rechtsanwalt in Saalfelden, gegen die beklagten Parteien 1. Dr. Ronald G*****, und 2. Marcella G*****, vertreten durch Mag. Michael Rettenwander, Rechtsanwalt in Saalfelden, wegen EUR 14.842 sA, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Zwischenurteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 20. September 2005, GZ 4 R 168/05m-12, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 25. Mai 2005, GZ 10 Cg 141/04z-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Die Zurückweisung einer Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO). Das Berufungsgericht hat die ordentliche Revision in Abänderung seines ursprünglichen Ausspruches doch für zulässig erklärt, weil die Beklagten im Interesse der Rechtssicherheit wahrzunehmende „Mangelhaftigkeiten des Berufungsverfahrens" aufgezeigt hätten. Die von den Beklagten gegen das Zwischenurteil des Berufungsgerichtes erhobene Revision ist entgegen diesem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichtes nicht zulässig.

Die Beklagten rügen in ihrem Rechtsmittel keineswegs, wie vom Berufungsgericht unzutreffend dargestellt, „Mangelhaftigkeiten des Berufungsverfahrens", sondern einen erstinstanzlichen Verfahrensmangel sowie eine dem Erstgericht unterlaufene Aktenwidrigkeit. Des weiteren werden im Rahmen der Rechtsrüge Feststellungsmängel geltend gemacht.

Gemäß § 468 Abs 2 ZPO ist die in erster Instanz obsiegende Partei gehalten, primäre Verfahrensmängel und ihr nachteilige Feststellungen - sei es wegen unrichtiger Beweiswürdigung, sei es wegen Aktenwidrigkeit (vgl E. Kodek in Rechberger, ZPO² § 468 Rz 5 und § 473a Rz 2 sowie § 503 Rz 4; Zechner in Fasching/Konecny² IV/1 § 503 ZPO Rz 177) - in der Berufungsbeantwortung zu rügen, sofern sich der Berufungswerber ausdrücklich auf Feststellungen des Erstgerichtes bezieht. Der Oberste Gerichtshof vertritt seit der Entscheidung 1 Ob 41/99g = SZ 72/75 in ständiger Rechtsprechung die Rechtsansicht, dass sich der Berufungswerber im Falle einer Rechtsrüge nach deren prozessualem Wesen auf alle Feststellungen bezieht, die ausdrücklich als solche im so bezeichneten Abschnitt des Ersturteils zusammengefasst wurden. Ausschließlich dann, wenn der Berufungswerber seine Rechtsrüge auf allenfalls in anderen Urteilsabschnitten „verborgene" Feststellungen stützen will, müsste er sich darauf ausdrücklich beziehen, um damit eine Rügepflicht des Berufungsgegners in der Berufungsbeantwortung nach § 468 Abs 2 Satz 2 iVm § 473a Abs 1 ZPO auszulösen (2 Ob 72/02f; 1 Ob 241/05f; RIS-Justiz RS0112020, insbesondere T1 und T7).

Die Klägerin hat in der Berufung eine Rechtsrüge ausgeführt, ohne sich dabei auf „verborgene" Feststellungen gestützt zu haben. Die Beklagten, deren Rechtsanwalt die Berufungsschrift zugestellt worden ist, haben keine Berufungsbeantwortung eingebracht. Sie begaben sich dadurch der Möglichkeit, die ihrem Standpunkt nachteilige Feststellung über das Schuhwerk der Klägerin in der Berufungsbeantwortung als Ergebnis eines mangelhaften Verfahrens und als aktenwidrig zu rügen. Diese Rügen können in der Revision nicht nachgeholt werden und sind somit unbeachtlich (1 Ob 241/05f; vgl RIS-Justiz RS0041773).

In der Revision werden aber auch keine sonstigen erheblichen Rechtsfragen im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dargetan:

1. Die Bestimmungen über die Streupflicht nach § 93 Abs 1 StVO dienen dem Fußgängerverkehr (2 Ob 59/05y = ZVR 2005/112; RIS-Justiz RS0075581). Es handelt sich um Schutznormen im Sinne des § 1311 ABGB, deren Zweck im Schutz der die dort genannten Verkehrsflächen bestimmungsgemäß benützenden Fußgänger liegt (ZVR 1990/107; 2 Ob 59/05y = ZVR 2005/112). Gemäß § 93 Abs 5 StVO kann die Verpflichtung nach § 93 Abs 1 StVO durch ein Rechtsgeschäft übertragen werden. Eine derartige Übertragung kann auch schlüssig geschehen (2 Ob 119/98h = ZVR 1999/43 mwN). In ständiger Rechtsprechung wird die schlüssige Übernahme der Verpflichtung zu Räumungs- und Streumaßnahmen durch eine andere (juristische) Person als den Eigentümer eines Grundstückes auch dann bejaht, wenn diese Person die dem Eigentümer obliegenden Tätigkeiten über einen längeren Zeitraum hindurch

ausgeführt hat (ZVR 1988/50; 2 Ob 1104/94 = ZVR 1996/113; 2 Ob

119/98h = ZVR 1999/43; 2 Ob 299/04s).

Dies ändert aber nichts daran, dass bei der Frage der schlüssigen Übernahme einer derartigen Verpflichtung ein strenger Maßstab anzulegen ist (2 Ob 119/98h = ZVR 1999/43 mwN). Nach den von Lehre und Rechtsprechung geforderten Kriterien muss die Handlung oder Unterlassung nach den im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuchen eindeutig in einer Richtung zu verstehen sein, also den zwingenden Schluss zulassen, dass die Parteien einen Vertrag schließen, ändern oder aufheben wollten. Es darf kein vernünftiger Grund bestehen, daran zu zweifeln, dass ein ganz bestimmter Rechtsfolgewille vorliegt, wobei stets die gesamten Umstände des Einzelfalles zur Beurteilung heranzuziehen sind (2 Ob 119/98h = ZVR 1999/43 mwN; RIS-Justiz RS0014150). Die Beurteilung der Schlüssigkeit eines Verhaltens hat aber regelmäßig keine über die besonderen Umstände des Einzelfalles hinausgehende Bedeutung, es sei denn, es läge eine krasse Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen vor, die im Interesse der Rechtssicherheit bzw der Einzelfallgerechtigkeit wahrgenommen werden müsste (RIS-Justiz RS0043253 [T2 und T8]). Eine derartige Fehlbeurteilung ist dem Berufungsgericht hier nicht unterlaufen. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes werden die Liegenschaftseigentümer alljährlich im „Gemeinde-Rundbrief" auf ihre Pflichten gemäß § 93 StVO hingewiesen. Auch den Beklagten waren diese Hinweise bekannt. Die Auffassung der Vorinstanzen, im Hinblick auf diese Bekanntmachungen sei von einer schlüssigen Übernahme der Räum- und Streupflichten nach § 93 Abs 1 StVO durch die Stadtgemeinde nicht auszugehen, steht mit der zitierten Rechtsprechung im Einklang. Müssen doch für die Beklagten zumindest Zweifel daran bestehen, ob die Stadtgemeinde die den Anrainern obliegenden Verpflichtungen vertraglich übernehmen wollte.

Der weiteren Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, die Beklagten hätten den ihnen infolge der (objektiven) Übertretung eines Schutzgesetzes obliegenden Entlastungsbeweis nicht erbracht, treten diese in der Revision nicht entgegen.

2. Die erörterte Rügepflicht des Berufungsgegners bezieht sich nicht auf Feststellungsmängel (RIS-Justiz RS0115460). Wird das Urteil des Erstgerichtes im Berufungsverfahren abgeändert, kann die im zweitinstanzlichen Verfahren (hier: dem Grunde nach) unterlegene Partei allfällige Feststellungsmängel in der Revision rügen (1 Ob 124/01v). Hievon machen die Beklagten Gebrauch. Soweit sie allerdings eine fehlende Feststellung zur Rutschfestigkeit des Schuhwerks der Klägerin relevieren, gehen sie in ihren diesbezüglichen Rechtsmittelausführungen nicht von der als aktenwidrig gerügten Feststellung aus. Insoweit ist die Rechtsrüge daher nicht gesetzmäßig ausgeführt und vermag schon deshalb keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zu begründen.

Die Frage nach einem allfälligen (Mit)Verschulden der Klägerin ist eine solche des Einzelfalls, die grundsätzlich nicht revisibel ist (2 Ob 299/04s mwN; vgl RIS-Justiz RS0087606). Die Beurteilung des Berufungsgerichtes, dass ein Mitverschulden der Klägerin nicht erkennbar sei, hält sich angesichts der Feststellungen zum Schuhwerk der Klägerin und zu deren Bemühen, das Betreten der erkennbar glatten Stellen des schneebedeckten Gehsteiges zu vermeiden, im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden Ermessensspielraumes (vgl 2 Ob 299/04s). Waren die Schuhe der Klägerin aber als für die festgestellten Witterungsverhältnisse geeignet anzusehen, was im Übrigen auch bei der von den Beklagten angeführten Rillentiefe der Schuhsohle nicht anders zu beurteilen wäre, käme auch der vermissten Feststellung zu den Möglichkeiten der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu.

Mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO war die Revision daher als unzulässig zurückzuweisen. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 2 iVm § 393 Abs 4 ZPO (RIS-Justiz RS0117737).

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