OGH 2Ob1104/94

OGH2Ob1104/9429.2.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Monika I*****, vertreten durch Dr.Erich Schwarz, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagte Partei Stadtgemeinde S*****, vertreten durch Dr.Rudolf Bruckenberger, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen S 106.602,10 und Feststellung (Streitgegenstand S 30.000,--), infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Berufungsgerichtes vom 22.November 1993, GZ 21 R 421/93-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Salzburg vom 10.Juni 1993, GZ 15 Cg 1812/92-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Entscheidung der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Das pädagogische Institut des Bundes in S***** liegt an der E*****. Davor befindet sich ein von der Straße durch Poller abgegrenzter kombinierte Geh- und Radweg, der im Zuge einer Neugestaltung dieses Bereiches von der beklagten Partei im Jahre 1991 geschaffen wurde.

Am 19.2.1992 stürzte die Klägerin gegen 8 Uhr 40 auf diesem Gehweg, als sie das Institutsgebäude in Richtung N***** verlassen hatte. Sie zog sich dabei eine Verletzung im rechten Knöchelbereich zu.

Die Klägerin begehrt Zahlung von S 100.000,-- an Schmerzengeld, S 6.602,10 an Verdienstentgang sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für alle Schadensfolgen aus dem Unfall. Die beklagte Partei sei Wegehalter und habe es aus grober Fahrlässigkeit über Tage unterlassen, den vereisten Gehweg entsprechend zu streuen und habe nur den Neuschnee beseitigt. Die beklagte Partei habe die Verpflichtung zur regelmäßigen Streuung des Gehweges gem § 93 StVO übernommen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Im Unfallszeitpunkt sei keine Schneeglätte vorhanden gewesen, der betroffene Bereich werde ständig ordnungsgemäß mit Splitt bestreut; die Klägerin sei aus Unaufmerksamkeit auf dem gestreuten Bereich des Gehweges gestürzt. Die beklagte Partei habe am 18.2.1992 am Vormittag und am 19.2.1992 in der Zeit von 10 Uhr bis 10 Uhr 30 den Weg gestreut. Es sei der beklagten Partei unmöglich, überall gleichzeitig zu streuen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.

Es ging von nachstehenden Feststellungen aus.

Die beklagte Partei als Straßenerhalterin bestreut im Stadtgebiet von S***** die kombinierten Geh- und Radwege. Hinsichtlich der Gehwege werden mit den Anrainern keine Vereinbarungen getroffen.

Am 18.2.1992 befand sich am ziemlich breiten Gehweg festgefrorener Schnee bei einer Temperaturlage von minus fünf bis null Grad Celsius. In der folgenden Nacht gab es leichten Schneefall. Am 18.2.1992 hat die beklagte Partei nicht ausreichend Streugut ausgebracht, sodaß im Zusammenhang mit dem Neuschnee eine äußerst glatte Oberfläche am 19.2.1992 bei Außentemperaturen von ca minus fünf Grad Celsius am Vormittag vorhanden war. Vor dem Unfall wurde durch die beklagte Partei nicht gestreut. Der stark benützte Gehweg wies durch das Gehen bedingt eine unebene Oberfläche auf, sodaß das Gehen grundsätzlich sehr beschwerlich war.

Die Klägerin begab sich um 7 Uhr 40 zum Institut und hatte dabei bereits Schwierigkeiten. Beim Weggehen um 8 Uhr 40 stürzte sie dann trotz betont vorsichtiger Gehweise. Auch andere Personen hatten um die Unfallszeit größte Schwierigkeiten, nicht zu Sturz zu kommen.

Das Erstgericht bejahte nach Darstellung der Haftungsgrundsätze des § 1319 a ABGB das Vorliegen grober Fahrlässigkeit. Der Weg werde insbesondere bei Schulzeiten stark begangen. Es sei geradezu wahrscheinlich, daß bei mangelhafter bzw nicht vorhandener Streuung dort jemand zu Sturz komme. Richtig sei zwar, daß die beklagte Partei aufgrund des großen Stadtgebietes nicht überall streuen könne, doch wenn sich aus Temperatur und Schneelage ergebe, daß eine Gefahr für Menschen bestehen könne, bestehe die Pflicht, mit dem Streuen früher zu beginnen, um um 7 Uhr gesicherte Verkehrsverhältnisse zu erreichen. Sowohl das Leistungs- als auch das Feststellungsbegehren seien daher berechtigt.

Das Berufungsgericht gab der dagegen von der beklagten Partei erhobenen Berufung Folge und wies das Klagebegehren zur Gänze ab.

Es traf noch die ergänzende Feststellung, daß an die Begrenzungsmauern der Liegenschaft E*****-Straße ein durch eine Sperrlinie vom Radweg getrennter Gehweg anschließe, wobei der Radweg seinerseits baulich von der Straße getrennt sei. Es übernahm die Feststellung, die Unfallstelle sei vor dem Unfall nicht ausreichend gestreut gewesen.

Rechtlich erörterte es, daß die beklagte Partei keine vertragliche Verpflichtung im Sinne des § 93 StVO übernommen habe, weil nach den Feststellungen mit den Anrainern hinsichtlich der Gehwege keine Vereinbarung getroffen worden sei. Es verneinte das Vorliegen einer für die Haftung im Sinne des § 1319 a ABGB erforderlichen groben Fahrlässigkeit. Im vorliegenden Fall komme maßgebliche Bedeutung dem Umstand zu, daß es für den Gehweg im Bereich der Unfallstelle vor dem pädagogischen Institut tatsächlich Liegenschaftseigentümer gebe, die als Anrainer der Unfallstelle gem § 93 Abs 1 StVO in der Zeit zwischen 6 Uhr bis 22 Uhr zur Gehsteigräumung und Bestreuung verpflichtet seien. Unter diesem Gesichtspunkt sei es vertretbar, wenn sich eine Stadtgemeinde von der Größe der beklagten Partei in Bezug auf den Winterdienst in erster Linie auf Stellen konzentriere, wo Anrainer überhaupt fehlten oder eben auf die Straßenräumung. Die beklagte Partei habe auch als Wegehalter darauf vertrauen dürfen, daß die Anrainer ihrer Räum- und Streupflicht nachkämen. Sie hätte erst zur Haftung herangezogen werden können, wenn ihr bekannt gewesen wäre, daß der in Betracht kommende Anrainer wiederholt gegen seine Verpflichtung nach § 93 Abs 1 StVO verstoßen habe. In dieser Richtung seien keine Behauptungen aufgestellt worden. Grobes Verschulden sei daher der beklagten Partei ungeachtet des Umstandes, daß der Gehweg zum Unfallszeitpunkt nicht gestreut gewesen sei, nicht vorzuwerfen.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der klagenden Partei wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidung des Erstgerichtes wiederherzustellen. Hilfsweise wird Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kann dem Geschädigten sowohl ein unter das Haftungsprivileg des § 1319 a ABGB fallender Ersatzanspruch gegen den Halter des Weges als auch ein nicht auf die Schuldformen des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit eingeschränkter Ersatzanspruch gegen den Anrainer zustehen (SZ 54/21; SZ 54/92; SZ 58/154; 2 Ob 34/89). Tritt ein Dritter durch ein Rechtsgeschäft nach § 93 Abs 5 StVO an die Stelle des Liegenschaftseigentümers, hat er ebenfalls bei Verletzung seiner Pflichten auch für leichte Fahrlässigkeit einzustehen (SZ 54/21; ZVR 1984/226; 2 Ob 34/89). Der rechtsgeschäftlich Verpflichtete haftet daher so, als ob er Eigentümer wäre (SZ 44/187).

Auszugehen ist zunächst davon, daß nach den Feststellungen der Gehsteig im Unfallbereich unzureichend bestreut war und daher objektiv eine Verletzung der Streupflicht vorlag. Ob die beklagte Partei dafür als Wegehalterin nur wegen grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 1319a ABGB haftet oder auch für leichte Fahrlässigkeit als rechtsgeschäftlich Verpflichtete einzustehen hat, kann noch nicht abschließend beurteilt werden.

Zutreffend verweist nämlich die Revisionswerberin darauf, ihren Anspruch ausdrücklich auch darauf gestützt zu haben, daß die beklagte Partei die dem Anrainer obliegende Verpflichtung gem § 93 StVO übernommen habe. Damit hat sie sich auf die strengere Haftung der beklagten Partei als Übernehmerin der Verpflichtungen nach § 93 StVO berufen.

Das Erstgericht trifft zwar die Feststellung, die beklagte Partei als Straßenerhalterin bestreue generell im Stadtgebiet von Salzburg die kombinierten Geh- und Radwege, doch werde hinsichtlich der Gehwege mit den Anrainern keine Vereinbarung getroffen.

Diese Feststellungen reichen aber zur abschließenden rechtlichen Beurteilung des vorliegenden Sachverhaltes nicht aus. Grundsätzlich kann nämlich auch eine Stadtgemeinde die den Anrainern obliegende Verpflichtung nach § 93 StVO auch ohne ausdrückliche Vereinbarung durch stillschweigende Übung im Sinne des § 863 ABGB übernehmen (vgl SZ 44/187; JBl 1980, 482; 8 Ob 581/85). Ob dies im vorliegenden Fall zutrifft, kann noch nicht beurteilt werden. Im fortgesetzten Verfahren werden daher ergänzende Feststellungen zu treffen sein, in welcher Form die beklagte Partei nach Herstellung des kombinierten Rad- und Gehweges den Winterdienst besorgte. Insbesondere wird zu klären sein, ob sie bei Räumung und Bestreuung der Radwege auch regelmäßig die anschließenden, lediglich durch eine Linie getrennten Gehwege derart mitbetreute, daß die Anrainer nach Überlegung aller Umstände keinen Grund zum Zweifel an einer rechtsgeschäftlichen Übernahme der ihnen obliegenden Verpflichtung durch die beklagte Partei hatten. Traf daher die beklagte Partei nach den oben aufgezeigten Überlegungen tatsächlich die nicht auf die Schuldformen des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit beschränkte Haftung der Anrainer im Sinne des § 93 StVO, wird weiter zu klären sein, ob ihre Organisation für die Aufrechterhaltung eines entsprechenden Schneeräumungs- und Streudienstes ausreichend war (vgl 8 Ob 581/85, EvBl 1977/99; SZ 44/187; SZ 51/80).

Sollte nach den Feststellungen eine stillschweigende konkludente vertragliche Übernahme der Anrainerverpflichtungen durch die beklagte Partei nicht vorliegen, käme ihr daher das Haftungsprivileg des § 1319 a ABGB zu Gute. In diesem Fall wäre die das Vorliegen grober Fahrlässigkeit verneinende Rechtsmeinung des Berufungsgerichtes nicht zu beanstanden, weil die beklagte Partei tatsächlich davon ausgehen konnte, daß die Schneeräumungs- und Streupflicht zunächst durch die Anrainer ausgeübt wird. Eine Haftung der beklagten Partei könnte erst dann bejaht werden, wenn ihr ein (mehrmaliger) Verstoß gegen diese Verpflichtung bekannt geworden wäre und somit ein kausaler Schadenseintritt geradezu als wahrscheinlich anzusehen ist.

Das Erstgericht wird daher im aufgezeigten Sinne die entsprechenden Feststellungen nachzutragen haben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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