European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00213.15K.0525.000
Spruch:
Die Revision der Klägerin wird zurückgewiesen.
Die Klägerin ist schuldig, dem Beklagten binnen 14 Tagen die mit 559,15 EUR (hierin enthalten 93,19 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.
Dagegen wird der Revision des Beklagten Folge gegeben; die Entscheidungen der Vorinstanzen werden insoweit, also im Zuspruch eines Betrags von 1.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 16. 8. 2010, aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten der Revision des Beklagten und der Revisionsbeantwortung der Klägerin sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Am 6. 6. 2010 ereignete sich gegen 17:20 Uhr bei Tageslicht und trockener Fahrbahn in W***** auf der L 128 im Bereich des Gasthauses „D*****“ ein Verkehrsunfall, an dem die damals zwölfjährige Klägerin als Fußgängerin und der Beklagte als Lenker und Halter eines PKW beteiligt waren.
Im Unfallsbereich (Ortsgebiet) besteht eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h, die Fahrbahn verläuft geradlinig nach einer Linkskurve. In Annäherung des PKW‑Lenkers gesehen befinden sich links der Straße das Gasthaus und danach dessen Gastgarten und gegenüber, rechts der Fahrbahn nach einem Wirtschaftsgebäude der Parkplatz des Gasthauses, der von der Straße durch einen ca 1,5 m breiten Gehsteig getrennt wird. Der Beklagte hielt auf seinem 3,3 m breiten Fahrstreifen bei einer Geschwindigkeit von 35 bis 45 km/h eine etwa mittige Fahrlinie ein.
Das Erstgericht konnte die näheren Umstände des Unfalls, insbesondere wie sich die Klägerin genau vom Parkplatz zur Straße hin bewegte, ob sie stehen blieb, ging oder durchgehend lief, nicht feststellen. In der Folge stellte es mit „1. entweder“ und „2. oder“ die zwei vom Sachverständigen technisch analysierten Unfallvarianten nach dem jeweiligen Vorbringen bzw den Aussagen der Streitteile dar. Danach blieb die im Unfallszeitpunkt „1,50 bis 1,55 m große, kräftig gebaute und gut genährte“ Klägerin entweder auf dem Gehsteig stehen, führte einen Kontrollblick nach links und danach rechts durch und beschloss dann die Fahrbahn zu überqueren, sodass sie rund 1,1 bis 1,3 m innerhalb der Fahrbahn mit dem PKW kollidierte, oder sie lief vom Parkplatz kommend zwischen geparkten Fahrzeugen über den Gehsteig auf die Fahrbahn und kollidierte so mit dem PKW.
Die Klägerin schloss sich dem Strafverfahren gegen den Beklagten, das ursprünglich von der Staatsanwaltschaft St. Pölten eingestellt und über Antrag der Klägerin fortgeführt wurde, am 7. 9. 2010 als Privatbeteiligte mit Schmerzensgeldansprüchen in Höhe eines vorläufigen Teilbetrags von 1.000 EUR an, welcher Antrag in der Hauptverhandlung vom 2. 12. 2013 wiederholt wurde. Das Strafverfahren endete mit einem rechtskräftigen Freispruch.
Das Erstgericht wies das am 19. 2. 2014 eingebrachte Klagebegehren zur Gänze wegen unabwendbaren Ereignisses für den PKW-Lenker sowie Verjährung ab.
Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung dahingehend ab, dass es nach Ausspruch, dass die Gegenforderung nicht zu Recht besteht, 1.000 EUR sA zusprach und das restliche Schmerzengeldbegehren wegen Verjährung abwies. Die Klägerin habe kein Verschulden des Beklagten nachweisen können. Beim Entlastungsbeweis nach § 9 EKHG sei jedoch der Beklagte beweispflichtig und deshalb von der für die Klägerin günstigsten Unfallversion auszugehen, nach der sie 1,3 m vom rechten Fahrbahnrand entfernt auf dem Gehsteig stehen blieb, einen Kontrollblick nach links und danach nach rechts durchführte, und sich dann entschied, die Fahrbahn zu überqueren und losging. Bei erster Sichtmöglichkeit auf den ganzen Körper der Klägerin habe sich das Beklagtenfahrzeug bei einer Geschwindigkeit von 45 km/h rund 55 m vor der Kollisionsposition befunden und hätte mit einer Betriebsbremsung und Verzögerung unter 3 m/sec² die Kollision verhindern können. Der Beklagte habe der erhöhten Sorgfaltspflicht des § 9 EKHG nicht entsprochen, weil er die Klägerin überhaupt erst durch die Kollision bemerkt habe. Es sei ihm daher der Entlastungsbeweis nicht gelungen. Ob die Klägerin als Kind anzusehen sei, sei nach 2 Ob 379/69 sowie Obholzer , ZVR 1978, 1, nach dem äußeren Erscheinungsbild der Person zu beurteilen. Dies reiche aber nach Ansicht des Berufungsgerichts nicht aus, weil § 29a StVO eine Vorrangbestimmung sei, die ihren Zweck nur erfüllen könne, wenn sie eindeutig und klar sei, sodass ein aufmerksamer Verkehrsteilnehmer sofort überschauen könne, wer im Vorrang sei. Es bedürfe daher einer Altersgrenze, wobei dem Fahrzeuglenker die Berufung darauf offen stehen müsse, dass für ihn auf Basis des äußeren Erscheinungsbildes nicht erkennbar gewesen sei, dass es sich um ein Kind gehandelt habe. Der Beklagte habe hier nicht einmal behauptet, die Klägerin sei nicht als Kind erkennbar gewesen. Es sei daher davon auszugehen, dass die Klägerin noch ein Kind im Sinne des § 29a StVO gewesen sei, sodass ein Mitverschulden ihrerseits zu verneinen sei.
Allerdings könne nach der Judikatur eine Privatbeteiligung im Strafverfahren nur in ihrer ziffernmäßigen Höhe die Verjährung verhindern. Hier habe sich die Klägerin mit 1.000 EUR angeschlossen, sodass lediglich dieser ‑ außer Streit stehende ‑ Betrag nicht verjährt und daher zuzusprechen sei.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zur Frage zu, ob eine 12‑Jährige mit altersgemäßem äußeren Erscheinungsbild noch als Kind im Sinne des § 29a StVO anzusehen sei.
Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionen der Klägerin mit dem Antrag, dem Klagebegehren zur Gänze stattzugeben, sowie jene des Beklagten mit dem Antrag, das Klagebegehren zur Gänze abzuweisen (jedenfalls aber eine Schadensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu Lasten der Klägerin vorzunehmen); in eventu wird jeweils ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Parteien beantragen in ihren Revisionsbeantwortungen, jeweils der Revision der Gegenseite nicht Folge nicht zu geben; nur die beklagte Partei beantragt auch, diese mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
1. Zur Revision der Klägerin:
Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) ‑ Ausspruch des Berufungsgerichts hängt die Entscheidung insoweit nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:
1.1. Die Klägerin meint, dass die Verjährungsfrist durch das Strafverfahren „fortlaufend gehemmt“ bzw unterbrochen worden sei. Das Berufungsgericht berufe sich auf ständige Rechtsprechung, wonach dem Privatbeteiligtenanschluss im Strafverfahren nur insoweit Unterbrechungswirkung hinsichtlich der Verjährung zukomme, als dieser der Höhe nach beziffert worden sei. Der Oberste Gerichtshof habe sich zwar in 2 Ob 180/00k der Lehrmeinung Ch. Hubers in NZ 1985, 1963 ff, angeschlossen; dagegen habe die frühere Rechtsprechung eine ziffernmäßige Geltendmachung des Anspruchs zur Herbeiführung der Unterbrechungswirkung nicht vorausgesetzt. Letzterer Ansicht sei aber zu folgen. Die durch den Privatbeteiligtenanschluss bewirkte Verjährungs-unterbrechung sei nicht der Einbringung einer Leistungsklage gleichzusetzen. Es bestünden diverse, näher ausgeführte Unterschiede; auch sei die Unterbrechungswirkung analog zu § 1494 ABGB zu betrachten und daher die Verjährung des Anspruchs nicht erfolgt, sofern innerhalb angemessener Frist nach Beendigung des Strafverfahrens der Zivilprozess eingeleitet werde. Der Gesetzestext des § 1497 ABGB enthalte keine Beschränkung der Unterbrechungswirkung auf die Höhe der „Belangung“.
1.2. Der Anschluss als Privatbeteiligter im Strafverfahren hat an sich die gleichen rechtlichen Wirkungen iSd § 1497 ABGB wie eine Klage (RIS-Justiz RS0034631; zuletzt 6 Ob 71/15g). Wie die Klägerin selbst ausführt, judiziert der Oberste Gerichtshof allerdings seit der Entscheidung 2 Ob 180/00k SZ 74/89, dass der Anschlusserklärung als Privatbeteiligter in einem Strafverfahren die Unterbrechungswirkung des § 1497 ABGB nur hinsichtlich der darin tatsächlich geltend gemachten Ansprüche zukommt. Ist die Schadenersatzforderung bereits bezifferbar (wovon hier auszugehen ist; weder im Straf‑ noch im Zivilverfahren bedurfte es eines medizinischen Sachverständigengutachters; ein solches wurde von der Klägerin auch gar nicht beantragt), so muss deren Höhe auch schon in der Anschlusserklärung angegeben sein, um Unterbrechungswirkung für die gesamte Forderung entfalten zu können. Diese Judikatur wurde in der Folge in mehreren Entscheidungen fortgeschrieben (vgl RIS‑Justiz RS0115181, RS0115182; 2 Ob 271/00t, 2 Ob 186/01v, 4 Ob 193/12d).
1.3. Der erkennende Senat gelangte in der Ausgangsentscheidung 2 Ob 180/00k zu diesem Ergebnis aufgrund der Überlegung, dass gemäß § 1497 ABGB die Verjährung durch die gerichtliche Belangung des Schuldners durch den Gläubiger unterbrochen werde. Da ein zivilrechtlicher Anspruch auch im Strafverfahren im Wege der Privatbeteiligung geltend gemacht werden könne, komme dieser Erklärung grundsätzlich verjährungsunterbrechende Wirkung zu. Bei teilbaren Verbindlichkeiten habe eine Klage aber nur insoweit Unterbrechungswirkung, als der Anspruch der Höhe nach geltend gemacht werde, weil eine Klage ein bestimmtes Begehren zu enthalten habe und der Schuldner nur in diesen Umfang „gerichtlich belangt“ werde. Auch für die Anschlusserklärung als Privatbeteiligter könne nichts anders gelten, weil nur durch die konkrete Angabe des ziffernmäßigen Betrags die „Warnfunktion“ im Sinn eines „gerichtlichen Belangens“ erfüllt werde.
1.4. Die Ausführungen in der Revision vermögen diese gefestigte Rechtsansicht nicht zu erschüttern:
Dass § 1497 ABGB lediglich die Wendung „Belangung“ enthält, zeigt schon im Hinblick auf den dargestellten Gleichklang mit der Judikatur zur Teileinklagung keinerlei Notwendigkeit einer anderen Betrachtung auf. Auch die Ausführungen, dass der Anschluss als Privatbeteiligter der Prozessökonomie diene und eine Ausmittlung der Höhe des Schmerzengeldanspruchs im Strafverfahren „mit Sicherheit nicht erfolgt“ wäre, und die Klägerin daher auch, hätte sie ihre Schmerzensgeldansprüche in voller Höhe beziffert, auf den Zivilrechtsweg verwiesen worden wäre (was im vorliegenden Fall gemäß § 366 Abs 1 StPO bereits zwingende Folge des Freispruchs des Beklagten im Strafverfahren war), sind keine Argumente, die die Richtigkeit der neueren Judikatur in Frage stellen (zur Unterbrechungswirkung nicht schlechthin, sondern nur für jene Ansprüche, die im Anschlusserklären tatsächlich ‑ also ziffernmäßig und individualisiert nach der Art des Schadens ‑ geltend gemacht werden, vgl auch Danzl in Danzl/Gutiérrez-Lobos/Müller, Schmerzengeld10 324).
Inwieweit die Unterbrechung analog zu § 1494 ABGB „betrachtet“ werden müsse, ist schon deshalb nicht erfindlich, weil Voraussetzung dieser Bestimmung die mangelnde gesetzliche Vertretung des Minderjährigen ist, die hier unzweifelhaft nicht vorliegt.
Ob ein vor Beendigung des Strafverfahrens eingeleitetes Zivilverfahren ohnehin unterbrochen worden wäre oder nicht, wie die Revision weiter argumentiert, ist für die Beurteilung der Verjährungsfrage nicht entscheidungsrelevant.
1.5. Die Revision der Klägerin zeigt daher insgesamt keine erhebliche Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 ZPO genannten Qualität auf. Da der Beklagte in seiner Revisionsbeantwortung zutreffend auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen hat, steht ihm hiefür auch Kostenersatz zu (§§ 41, 50 ZPO; 7 Ob 178/02f).
2. Zur Revision des Beklagten:
Hingegen ist die Revision des Beklagten zulässig, weil die Rechtsansicht der Vorinstanzen zum Mitverschulden der Klägerin korrekturbedürftig ist; sie ist im Sinn des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt:
2.1. Der Beklagte bezieht sich auf die vom Berufungsgericht aufgeworfene Rechtsfrage der Qualifikation der Klägerin als Kind iSd § 29a StVO. Gemäß § 65 StVO sei Kindern über 12 Jahren die selbstständige Teilnahme am öffentlichen Verkehr als Radfahrer gestattet. Auch die Ausnahmebestimmung des § 3 StVO bedeute nicht, dass ein Kraftfahrer damit rechnen müsse, dass ein schulpflichtiges Kind, das am Fahrbahnrand stehen bleibe, plötzlich die Fahrbahn betrete. Auch Fußgänger seien iSd § 76 Abs 4 und 5 StVO verpflichtet, den Fahrzeugverkehr nicht zu behindern und erst dann auf die Fahrbahn zu treten, wenn dies ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer möglich sei.
2.2. Das Erstgericht hat hier im Rahmen seiner Feststellungen zwar den Unfallhergang, insbesondere die genaue Bewegung der Klägerin nicht feststellen können, danach aber dennoch alternativ mit „entweder“ die ‑ verkehrsunfallstechnisch aufbereitete ‑ Unfallsvariante des Beklagten, und mit „oder“ jene der Klägerin in seine Feststellungen aufgenommen.
Unbestritten ist, dass die Klägerin vom vorbeifahrenden PKW des Beklagten erfasst und dabei verletzt wurde, weshalb von einer ‑ vom Revisionswerber auch nicht mehr substanziell bestrittenen ‑ EKHG-Haftung des Beklagten als Halter des Kfz ‑ Unfall „beim Betrieb“ seines Kraftfahrzeugs ‑ auszugehen ist (§§ 1, 5 EKHG).
Die vom Berufungsgericht und dem Revisionswerber aufgeworfene Frage, ob die Klägerin als Kind iSd § 29a StVO anzusehen ist oder nicht, ist hier deshalb nicht entscheidungsrelevant, weil Normadressat dieser Bestimmung nur die Lenker von Kraftfahrzeugen sind und nicht die Fußgänger, und sich daher aus der Verletzung dieser Bestimmung nur Auswirkungen auf die normerfassten Kfz-Lenker ableiten lassen (was im Rechtsmittel der Klägerin aber nicht geltend gemacht wurde), nicht aber auf Fußgänger, wie hier die Klägerin (vgl Grubmann, StVO3 § 29a Rz 1).
Nach § 29 a Abs 1 letzter Satz StVO bleibt aber die Bestimmung des § 76 StVO ausdrücklich unberührt.
Auf ein Allein- oder zumindest Mitverschulden der Klägerin wegen unzulässigen Betretens der Fahrbahn ‑ somit § 76 StVO ‑ hat sich der Beklagte aber schon in erster Instanz berufen (ON 10). Auch in der Revision kommt er darauf zurück.
Diese Rechtsfrage ‑ zu der es grundsätzlich ausreichend Rechtsprechung auch in Zusammenhang mit dem Kindern abzuverlangenden Verhalten gibt (vgl RIS‑Justiz RS0027473, RS0027645, RS0027758) ‑ kann aber derzeit nicht abschließend beurteilt werden, weil auch in der für die Klägerin günstigeren Unfallversion, ihren eigenen Angaben folgend, keine Feststellungen zu den Sichtverhältnissen und der Entfernung zwischen den Unfallbeteiligten aus Sicht der Klägerin, insbesondere als sie letztlich die Fahrbahn betrat, getroffen wurden. Es kann daher derzeit noch nicht beurteilt werden, ob und wenn ja in welchem Ausmaß die Klägerin ‑ unter Berücksichtigung ihres Alters im Unfallzeitpunkt (RIS‑Justiz RS0026996) ‑ ein Mitverschulden (§ 7 Abs 1 EKHG, § 1304 ABGB) trifft ‑ wobei Unklarheiten und Zweifel zu Lasten des Halters gehen (RIS‑Justiz RS0058926; zuletzt 2 Ob 99/15w).
III. Der Kostenvorbehalt beruht auf §§ 50 Abs 1, 52 Abs 1 ZPO.
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