Spruch:
Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben.
Die Entscheidung des Erstgerichts wird wiederhergestellt.
Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei die mit 4.189,01 EUR (darin enthalten 482,17 EUR USt und 1.296 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 12. 11. 2010 gegen 9:45 Uhr ereignete sich in Wien, auf der Kreuzung des Rennwegs mit der benachrangten Stanislausgasse bei Regen und nasser Fahrbahn ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin aus der Stanislausgasse kommend als Radfahrerin und der Zweitbeklagte auf dem Rennweg stadteinwärts mit einem Kleinkraftrad fahrend beteiligt waren.
Auf dem Rennweg befindet sich in Fahrrichtung des Zweitbeklagten ein ca 4 m breiter Fahrstreifen und daran anschließend die Straßenbahngleise, die vom Fahrstreifen durch eine vor der Kreuzung in eine Sperrfläche übergehende Sperrlinie getrennt sind.
Auf dem Rennweg stadteinwärts bewegte sich im Unfallzeitpunkt eine Kolonne. Unmittelbar vor der Kreuzung mit der Stanislausgasse war sie so zum Stillstand gekommen, dass für den Querverkehr eine Durchfahrtsgasse frei blieb.
Die Klägerin wollte den Rennweg gerade übersetzen, hielt vorerst im Kreuzungsbereich kurz vor dem ersten nach der Durchfahrtslücke stehenden Fahrzeug an und nahm mit dessen Lenker Blickkontakt auf. Dann fuhr sie mit etwa 10 km/h weiter. Der Zweitbeklagte war bereits seit mehr als 300 m vor der Unfallkreuzung mit einer Geschwindigkeit von etwa 25 km/h jenseits der Sperrlinie im Gleisbereich unterwegs. Durch die Kolonne nahm er die Klägerin erst etwa 2 m vor der Kollision wahr. Auch umgekehrt war der Zweitbeklagte für die Klägerin bis unmittelbar vor der Kollision (ohne Vortasten oder neuerliches Anhalten) nicht sichtbar.
Infolge der Kollision stürzten beide Unfallbeteiligte.
Zwischen der Kolonne und der Begrenzung des Fahrstreifens zum Schienenbereich hin bestand ein Abstand von rund 1,1 m. Ein einspuriges Fahrzeug hätte dort „theoretisch“ nach vor fahren können, ohne den Fahrstreifen zu verlassen.
Die Haftung der Beklagten mit 2/3 steht im Hinblick auf ein Teilanerkenntnisurteil rechtskräftig fest.
Die Klägerin macht aus dem Alleinverschulden des Zweitbeklagten Schadenersatz in Höhe von 18.961,31 EUR sA und ein Feststellungsbegehren geltend. Er sei mit überhöhter Geschwindigkeit auf dem Gleisköper jenseits der Sperrlinie gefahren.
Die Beklagten wenden ein Mitverschulden der Klägerin im Ausmaß von einem Drittel ein. Sie habe mit (aus Sicht des Zweitbeklagten) links abbiegendem bevorrangten Fahrzeugverkehr rechnen müssen und sei im Hinblick auf die Sichteinschränkung daher verpflichtet gewesen, sich in die Kreuzung vorzutasten.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren, ausgehend vom Alleinverschulden des Zweitbeklagten, im Wesentlichen statt.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung über Berufung (auch im Kostenpunkt) der beklagten Parteien dahingehend ab, dass es von einem Mitverschulden der Klägerin im Ausmaß von einem Drittel ausging. Die Klägerin habe mit berechtigt von links kommenden Fahrzeugverkehr rechnen müssen und habe sich nur in die Kreuzung vortasten dürfen. Dann hätte sie den Zweitbeklagten wahrnehmen können.
Die ordentliche Revision wurde zugelassen, weil gesicherte Rechtsprechung zu allen für die Entscheidung des Falls bedeutsamen Aspekten der Frage, unter welchen Umständen eine so krasse Verkehrswidrigkeit vorliege, dass der Vorrang verloren gehe, nicht ersichtlich sei.
Die Klägerin strebt in der Revision die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung an.
Die Beklagten beantragen, das Rechtsmittel zurückzuweisen, in eventu, ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht Judikatur des Obersten Gerichtshofs nicht beachtet hat; sie ist auch berechtigt.
1. Die Klägerin bringt vor, dass der Zweitbeklagte selbst bei einem zulässigen „Vorschlängeln“ iSd § 12 Abs 5 StVO die Kreuzung mit der Stanislausgasse nicht ohne weiteres überqueren hätte dürfen. Auch werde dadurch das Verbot des § 17 Abs 4 StVO nicht außer Kraft gesetzt. Der Zweitbeklagte habe seinen Vorrang verloren, weil er keine erlaubte Möglichkeit gehabt hätte, in die Kollisionsposition zu gelangen. Die Klägerin habe mit Verkehrsteilnehmern aus dieser Richtung daher nicht rechnen müssen.
2. Zwar geht nach der Judikatur der Vorrang durch die Übertretung von Verkehrsvorschriften grundsätzlich nicht verloren; dies gilt aber dann nicht, wenn der Wartepflichtige mit einer derartigen Fahrweise nicht rechnen musste bzw bei besonders krassen Verkehrswidrigkeiten (RIS‑Justiz RS0074976 [T11 bis T14]). Der Grundsatz verliert dann seine Wirkung, wenn der auf der bevorrangten Straße fahrende Verkehrsteilnehmer vom Wartepflichtigen nicht oder nicht aus dieser Annäherungsrichtung erwartet werden kann (RIS-Justiz RS0073421). Ein Verkehrsteilnehmer, der eine Verkehrsfläche benutzt, die überhaupt nicht befahren werden darf, kann sich nicht auf die Vorrangregel berufen (RIS-Justiz RS0073375). Die frühere Rechtsmeinung, dass eine Verwirkung des Vorrangs auch dann nicht eintritt, wenn der bevorrangte Verkehrsteilnehmer im Zuge eines Überholmanövers vor dem Zusammenstoß eine Sperrfläche überfährt, wird seit 2 Ob 33/94 in dieser allgemeinen Form nicht mehr aufrecht erhalten (RIS-Justiz RS0073418 [T2]).
3. Auch im vorliegenden Fall musste die Klägerin mit im Gleisbereich fahrenden und die Sperrfläche überfahrenden Verkehrsteilnehmern auf dem an sich bevorrangten Rennweg nicht rechnen. Da sie den Zweitbeklagten und sein verkehrswidriges Fahrmanöver bis unmittelbar vor der Kollision nicht wahrnehmen konnte, war ihr auch eine unfallverhütende Reaktion nicht mehr möglich, sodass vom Alleinverschulden des Zweitbeklagten auszugehen ist (vgl 2 Ob 172/04i). Zu dem vom Berufungsgericht verlangten weiteren Vortasten war die Klägerin unter den festgestellten Umständen nicht verpflichtet.
4. Dass in dem ca 1,1 m breiten Bereich zwischen der Kolonne und der Sperrlinie ein Vorschlängeln möglich gewesen wäre, ist insofern unbeachtlich, als sich diese Gefahr hier nicht verwirklicht hat: Der Zweitbeklagte hat diesen Bereich nicht befahren. Im Übrigen wird selbst durch ein erlaubtes Vorfahren gemäß § 12 Abs 5 StVO das Verbot des Vorbeifahrens iSd § 17 Abs 4 StVO nicht außer Kraft gesetzt (2 Ob 54/10w = RIS‑Justiz RS0126191).
5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO. Infolge Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung war über die Verfahrenskosten zu entscheiden (2 Ob 164/12z mwN). Die Beklagten haben den erstinstanzlichen Kostenzuspruch mit dem Argument bekämpft, das Erstgericht habe eine Klagseinschränkung übersehen. Sie haben aber keine Einwendungen gegen die Kostennote erhoben; abgesehen davon ist insoweit lediglich eine Umstellung auf ein Feststellungsbegehren erfolgt. Kosten für die Beantwortung der Berufung der Beklagten im Kostenpunkt sind der Klägerin nicht zusätzlich zuzusprechen (3 Ob 66/06m). Im Übrigen war der von der Klägerin in der Berufungsbeantwortung herangezogene Streitwert zu berichtigen, weil die Beklagten nicht den gesamten erstinstanzlichen Zuspruch bekämpft haben.
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