Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.783,68 (darin enthalten S 797,28 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 29.9.1992 ereignete sich auf der (T-förmigen) Kreuzung Mariahilferstraße/Turnergasse ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem Pkw Audi 100 und die Erstbeklagte mit ihrem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Pkw Mercedes 250 beteiligt waren. Der Kläger beabsichtigte, aus der Turnergasse nach links in die Mariahilferstraße Richtung stadtauswärts einzubiegen. Er hielt sein Fahrzeug vor dem Einfahren in die Mariahilferstraße zunächst so an, daß der auf der Mariahilferstraße Richtung stadteinwärts fahrende Kolonnenverkehr passieren konnte. In der Folge bildete sich auf der Mariahilferstraße Richtung stadteinwärts ein Rückstau. Der auf der Mariahilferstraße fahrende Franz M***** hielt sein Fahrzeug vor der Kreuzung mit der Turnergasse so an, daß dem Querverkehr ein Passieren möglich war. Er deutete dem Kläger an, daß er losfahren könne. Nachdem sich der Kläger auch selbst vergewissert hatte, daß keine Fahrzeuge kommen, fuhr er langsam nach vor in Richtung Kreuzungsmitte, wobei er sein Fahrzeug ca. alle halben Meter kurz anhielt und letztlich zunächst so zum Stillstand brachte, daß sich die Front seines Fahrzeuges etwa auf Höhe der verlängerten linken Seite des Fahrzeuges des Franz M***** befand. Aus dieser Position fuhr er neuerlich um mindestens einen halben Meter vor, um sein Fahrzeug bei den stadteinwärts führenden Schienen anzuhalten. Die Erstbeklagte, die sich zunächst in der vor der Kreuzung mit der Turnergasse aufgestauten Kolonne befand, fuhr etwa auf Höhe der Sperrgasse aus dieser Kolonne heraus. Mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 km/h fuhr sie sodann über die stadteinwärts führenden Schienen und über die dort befindliche Sperrfläche an den in der Kolonne aufgestauten Fahrzeugen vorbei. Ca. 16 m bzw 1,6 sec vor der Kollison nahm sie das Fahrzeug des Klägers als Gefahr wahr. Dies war für beide Fahrzeuglenker der Zeitpunkt der ersten Sichtmöglichkeit aufeinander. Die Erstbeklagte reagierte mit einer Vollbremsung, konnte die Kollision jedoch nicht mehr vermeiden. Der Kläger, der das Fahrzeug der Erstbeklagten vor der Kollision nicht bewußt wahrgenommen hatte, da er ohnedies bei den Schienen anzuhalten beabsichtigte, kam etwa im Kollisionszeitpunkt zum Stillstand.
Der Widerbeschaffungswert des Fahrzeuges des Klägers betrug S 71.000,-; es trat wirtschaftlicher Totalschaden ein. Für die Einholung eines Kostenvoranschlages hatte der Kläger S 2.436,- zu bezahlen.
Der Kläger begehrt den Zuspruch eines Betrages von S 73.436,- samt Anhang. Das Alleinverschulden treffe die Erstbeklagte, die in unzulässiger Weise die gesamte Fahrzeugkolonne "überholt", die Sperrflächen überfahren und eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten habe.
Die beklagten Parteien beantragten die Abweisung des Klagebegehrens, weil der Kläger den Vorrang der Erstbeklagten mißachtet habe.
Das Erstgericht gab der Klage mit einem Betrag von S 35.000,- samt 4 % Zinsen statt und wies das darüberhinausgehende Mehrbegehren von S 37.936,- sowie das weitergehende Zinsenbegehren ab.
Rechtlich erörterte das Erstgericht, daß der Kläger den Vorrang der Erstbeklagten verletzt habe. Dieser beziehe sich auf die gesamte Fahrbahn, zu der auch der Schienenbereich und die darauf befindlichen Sperrflächen gehörten. Die Fahrweise des Klägers, der um rund einen halben Meter vorgefahren sei, sei nicht mehr als Vortasten anzusehen. Die Erstbeklagte treffe ein gleich zu gewichtendes Mitverschulden, da sie die stehende Kolonne im Hinblick auf die vorhandenen Bodenmarkierungen (Sperrlinie und Sperrflächen) nicht überholen hätte dürfen. Die Kosten des Kostenvoranschlages seien nicht zuzusprechen, weil sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht notwendig gewesen seien.
Das Berfungsgericht gab der erkennbar gegen den klagestattgebenden Teil des Urteils gerichteten Berufung der beklagten Parteien nicht Folge, wohl aber jener des Klägers in der Hauptsache und verpflichtete die beklagten Parteien zur Bezahlung eines Betrages von S 73.436 samt 4 % Zinsen.
Es führte, soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung, aus:
Der Vorrang beziehe sich nur auf jenen Teil der Straße, der zum Befahren von Fahrzeugen bestimmt sei. Sperrflächen dürften gem § 9 Abs 1 StVO nicht befahren werden. Gerate ein Verkehrsteilnehmer vorsätzlich oder durch Versehen auf eine Sperrfläche, sei er verpflichtet, sich unter besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme auf jenen Teil der Fahrbahn einzuordnen, der den Bestimmungen der StVO gemäß befahren werden dürfe. Wer aber unter besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer sein Fahrmanöver durchzuführen habe, könne den Vorrang nicht für sich in Anspruch nehmen (ZVR 1977/282). Die Erstbeklagte könne sich auch nicht darauf berufen, am Vorrangverkehr in seiner tatsächlichen Beschaffenheit teilgenommen zu haben, weil nur sie allein die Sperrfläche befahren habe. Der Kläger habe nicht mit dem in mehrfacher Hinsicht rechtswidrigen Verhalten eines ausschließlich die Sperrfläche benützenden Fahrzeuglenkers rechnen müssen, insbesondere nicht, daß aus einem Teil der Straße, der gar nicht befahren werden dürfe, ein Fahrzeug ohne Rücksicht auf sein Einbiegemanöver einfährt. Die vom Erstgericht hervorgehobene Möglichkeit des Herannahens einer Straßenbahn oder eines Einsatzfahrzeuges ändere an diesem Ergebnis nichts, weil es bei der Beurteilung einer Vorrangsituation auf die konkret am Geschehen beteiligten Verkehrsteilnehmer ankomme. Da sich die Erstbeklagte nicht auf den Vorrang berufen könne, fehle es für ein Mitverschulden des Klägers am Unfall an jeglicher Grundlage.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil die Frage, ob dem eine Sperrfläche Befahrenden der Vorrang zukommen könne, abgesehen von der nicht näher begründeten Entscheidung ZVR 1983/209 vom Obersten Gerichtshof nicht beantwortet worden sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Parteien. Sie bekämpfen das Urteil zur Gänze und stellen den Antrag, es dahingehend abzuändern, daß das Verschulden der beklagten Parteien maximal mit einem Viertel bewertet werde.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, bzw ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.
Entgegen der in der Revisionsbeantwortung vertretenen Rechtsmeinung hat das Berufungsgericht über einen S 50.000,- übersteigenden Streitgegenstand entschieden, weil der Entscheidungsgegenstand infolge Berufung aller Parteien das gesamte Klagebegehen in der Höhe von S 73.436,- war.
Die Revisionswerber verweisen in ihrem Rechtsmittel auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach der Charakter einer Fahrbahn durch eine Bodenmarkierung nicht geändert werde; der Vorrang erstrecke sich darüber hinaus auf den gesamten Kreuzungsbereich; weiters seien sämtliche befahrbaren Teile einer Straße zur Fahrbahn zu rechnen, außer die Absicht der Straßenverwaltung, Teile einer Straße ausschließlich anderen Zwecken als dem Fahrzeugverkehr zu widmen, werde den Straßenbenützern auffällig; schließlich habe das Vorbeifahrverbot des § 17 Abs 4 StVO keinen Einfluß auf die Vorrangregeln.
Der Oberste Gerichtshof billigt im konkreten Fall die vom Berufungsgericht vorgenommene Verschuldenszuweisung.
Es trifft zunächst zu, daß sich der Vorrang auf die ganze Fahrbahn bezieht und auch dann nicht verloren geht, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält (ZVR 1990/155). Dagegen hat der benachrangte Verkehrsteilnehmer, um eine ihm obliegende Wartepflicht zu erfüllen, sich äußerst vorsichtig der Kreuzung zu nähern und sich auf dieser vorzutasten, um die notwendige Sicht zu gewinnen. Die Berufung auf den Vorrang setzt aber voraus, daß der Berechtigte überhaupt die Möglichkeit zum zulässigen Weiterfahren hat (ZVR 1988/150, ZVR 1992/62). Diese Möglichkeit war aber für die Erstbeklagte im vorliegenden Fall nicht gegeben. Sie hat nämlich den zunächst von ihr benützten, durch eine aufgestaute Fahrzeugkolonne blockierten Fahrstreifen verlassen und ist mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h auf den stadteinwärts führenden Straßenbahnschienen unter Mißachtung einer Sperrfläche an dieser Fahrzeugkolonne vorbeigefahren, um in der Folge (an einer nachfolgenden Kreuzung) nach links abzubiegen. Aus der dem Ersturteil angeschlossenen Skizze ist ersichtlich, daß sich die Sperrfläche nach der Kreuzung mit der Turnergasse fortsetzte und nur im Kreuzungsbereich unterbrochen war, um dem aus der Turnergasse kommenden Verkehr das Linkseinbiegen in die Mariahilferstraße zu ermöglichen. Dies bedeutet, daß die Erstbeklagte entgegen der Bestimmung des § 9 Abs 1 StVO, die das Befahren von Sperrflächen ausdrücklich verbietet, diese Sperrfläche vorsätzlich benützte, um an einer wartenden Fahrzeugkolonne vorbeizufahren.
Hingegen konnte der Kläger, der sich nach den Feststellungen äußerst vorsichtig in die Kreuzung hineinbewegte darauf vertrauen, daß die Sperrfläche nur von befugten Fahrzeugen benützt wird. Zu diesen zählte die Erstbeklagte jedenfalls nicht. Auf die erhöhte Wahrnehmbarkeit von Einsatzfahrzeugen und Straßenbahnen muß als gerichtsbekannt nicht weiter eingegangen werden.
Da die Erstbeklagte die Sperrfläche unbefugterweise benützt hat, kann sie sich auf den ihr sonst zukommenden Vorrang nicht berufen (ZVR 1977/282).
Der Oberste Gerichtshof hat zwar bereits ausgesprochen, daß es bei den allgemeinen Vorrangregeln zu verbleiben habe, wenn ein Verkehrsteilnehmer verbotswidrig eine Sperrfläche einbezogen hat (ZVR 1983/209, 8 Ob 231/75). In der Entscheidung ZVR 1983/209 wurde aber darüberhinaus auf die uneingeschränkte Sichtmöglichkeit der beteiligten Fahrzeuglenker auf die spätere Unfallstelle und die daraus resultierende Gelegenheit, sich auf die tatsächlichen Verhältnisse einzustellen, verwiesen. Insoweit ist die vorliegende Entscheidung mit dem dort zu beurteilenden Sachverhalt nicht vergleichbar. In der Entscheidung 8 Ob 231/75 wurde ebenfalls der Vorrang eines die Sperrfläche benützenden Lenkers nicht in Zweifel gezogen. Diese Rechtsansicht läßt allerdings den der StVO innewohnenden Vertrauensgrundsatz unberücksichtigt und kann daher in dieser allgemeinen Form nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Das Revisionsgericht billigte daher die vom Berufungsgericht vorgenommene Verschuldenszuweisung.
Der Revision war ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.
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