OGH 2Ob182/04k

OGH2Ob182/04k23.9.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Johann Günter H*, vertreten durch Dr. Gerhard Schatzlmayr und Dr. Klaus Schiller, Rechtsanwälte in Schwanenstadt, wider die beklagten Parteien 1. * D* GmbH, *, und 2. * Versicherungs‑AG, *, vertreten durch Dr. Helmut Valenta und Dr. Gerhard Gfrerer, Rechtsanwälte in Linz, wegen Zahlung von EUR 21.225,50 sA und Feststellung infolge Rekurses der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 17. Mai 2004, GZ 4 R 91/04m‑17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels vom 10. Februar 2004, GZ 1 Cg 108/03g‑13, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2004:E74586

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin zu Recht erkannt, dass das klagsabweisende Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit EUR 4.623,72 (darin enthalten USt von EUR 576,11 und Barauslagen von EUR 1.167,10) bestimmten Kosten der Rechtsmittelverfahren binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Am 21. 6. 2002 ereignete sich gegen 6.40 Uhr in Attnang‑Puchheim ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer und Max K* als Lenker eines von der erstbeklagten Partei gehaltenen und bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Klein‑LKW beteiligt waren. Der Kläger fuhr von hinten auf den LKW auf, stürzte und verletzte sich schwer.

Unter Anrechnung eines gleichteiligen Mitverschuldens begehrt der Kläger EUR 21.225,50 Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für seine künftigen Schäden. Er brachte vor, K* habe ihn zunächst überholt und dann durch Betätigen des rechten Blinkers ein beabsichtigtes Einbiegen in die Zufahrtsstraße zum Haus W* Straße 22 angezeigt. Anstatt jedoch einzubiegen, habe K* nach dem Einmündungsbereich der Zufahrtsstraße den Gehsteig rechts neben der Fahrbahn befahren und dann begonnen, rückwärts zu fahren, was für den Kläger nicht vorhersehbar gewesen sei. K* habe gegen die §§ 8 Abs 4, 24 Abs 1 lit d StVO verstoßen, weil er auf einem Gehsteig und innerhalb von 5 m des Kreuzungsbereiches angehalten habe.

Die Beklagten wendeten ein, der Unfall sei ein unabwendbares Ereignis gewesen und allein auf die Unachtsamkeit des Klägers zurückzuführen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es folgende Feststellungen traf:

Der Kläger fuhr mit seinem Rennrad am rechten Fahrbahnrand mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 35 km/h. Max K* überholte ihn mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/h und beabsichtigte, im Bereich des Trichters zum Haus W* Straße Nr 22 anzuhalten, um einen Lehrling mitzunehmen. Er verringerte seine Geschwindigkeit und begann zumindest auf Höhe des Beginnes des 7 m langen Einmündungstrichters das Fahrzeug nach rechts zum Fahrbahnrand zu lenken. Er brachte es fahrbahnparallel am Ende des Einmündungstrichters mit den rechten Rädern auf dem Gehsteig zum Stillstand. Die linke Fahrzeugbegrenzung des LKW ragte noch 1,1 m in die Fahrbahn. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger noch 4 bis 5 Sekunden und etwa 30 m vom LKW entfernt. Als er dessen Stillstand bemerkte, versuchte er vergeblich, einen Zusammenstoß zu verhindern. Dieser ereignete sich zumindest nach 2 Sekunden Stillstand des LKW. Der Kläger hätte den Unfall durch einen Seitenversatz von etwa 1 m oder eine leichte bis mittelstarke Bremsung mit einer Verzögerung von 1,6 m/sec2 verhindern können, wenn er auf den voranfahrenden Verkehr geachtet hätte.

Das Erstgericht verneinte einen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen einem Verstoß gegen § 24 Abs 1 lit d StVO und einem Auffahren auf ein verbotswidrig stehendes Fahrzeug; es vertrat die Ansicht, der Unfall sei aus der Sicht der Beklagten ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG.

Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht hob das Urteil des Erstgerichtes auf und trug diesem eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es sprach aus, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig.

Die vom Erstgericht getroffene und in der Berufung des Klägers bekämpfte Feststellung, der Kläger habe eine gebückte Fahrhaltung eingenommen, erachtete das Berufungsgericht für unbeachtlich, weil selbst ein überdurchschnittlich sorgfältiger Kraftfahrer nicht schon deshalb zu besonderer Vorsicht gegenüber einem Radfahrer verpflichtet sei, bloß weil dieser eine gebückte Rennfahrerhaltung einnehme.

Zur Rechtsfrage führte das Berufungsgericht aus, den beklagten Parteien sei der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nicht gelungen, weil Max K* entgegen dem Verbot des § 8 Abs 4 StVO den Gehsteig befahren habe. Dass der Schutzzweck dieser Norm die Freihaltung des Gehsteiges und nicht der Fahrbahn bezwecke, sei unerheblich. Von einer Einhaltung der äußersten, nach den Umständen des Falles möglichen und zumutbaren Sorgfalt könne nicht gesprochen werden, wenn sich ein Fahrzeuglenker über die Straßenverkehrsordnung hinwegsetze.

Dem Kläger stehe daher schon nach dem EKHG ein Schadenersatzanspruch zu. Die bisherigen Verfahrensergebnisse ließen aber offen, ob nicht Max K* auch ein Verschulden an dem Unfall treffe. Der Zweck der Schutznorm des § 24 Abs 1 lit d StVO diene nicht nur der Flüssigkeit, sondern auch der Sicherheit des Verkehrs; diese werde durch jede Einschränkung der Verkehrsfläche des Kreuzungsbereichs beeinträchtigt. Sollte K* daher auch gegen § 24 Abs 1 lit d StVO verstoßen haben, dann sei auch die Verschuldenshaftung zu bejahen. Ob ein solcher Verstoß vorliege, könne aber noch nicht abschließend beurteilt werden. Gemäß § 24 Abs 1 lit d StVO sei das Halten und Parken im Bereich von weniger als 5 m vom nächsten Schnittpunkt aneinander kreuzender Fahrbahnränder verboten. Gemäß § 2 Abs 1 Z 1 und 2 StVO gelte als Fahrbahn der für den Fahrzeugverkehr bestimmte Teil der Straße und als Straße eine für den Fußgänger‑ oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen. Den Feststellungen des Erstgerichtes lasse sich aber nicht zweifelsfrei entnehmen, ob es sich bei der Zufahrt zum Haus W* Straße 22 um die Fahrbahn einer einmündenden Straße oder bloß um eine Haus‑ oder Grundstücksausfahrt handle. Nur im ersteren Fall käme aber ein Verstoß gegen § 24 Abs 1 lit d StVO in Betracht. Diese erheblich scheinenden Tatsachen seien nicht erörtert worden, weshalb das erstinstanzliche Verfahren mangelhaft geblieben sei.

Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof erachtete das Berufungsgericht für zulässig, weil zur Rechtsfrage allgemeiner Bedeutung, ob der Schutzzweck des § 24 Abs 1 lit d StVO auch Auffahrunfälle umfasse, keine unmittelbare Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes aufgefunden worden sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der beklagten Parteien mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt werde.

Der Kläger hat Rekursbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rechtsmittel der beklagten Parteien nicht Folge zu geben.

Der Rekurs ist zulässig und auch berechtigt.

Die Beklagten machen in ihrem Rechtsmittel geltend, der Schutzzweck des § 8 Abs 4 StVO diene der Freihaltung des Gehsteiges und nicht der Fahrbahn. Wenn der Lenker des Fahrzeuges der erstbeklagten Partei sein Fahrzeug so abgestellt habe, dass es teilweise am Gehsteig gestanden sei, habe er die Gefahr dadurch vermindert; wäre er mit dem Fahrzeug zur Gänze am rechten Fahrbahnrand gestanden, wäre umso mehr ein Hindernis für den Kläger gegeben gewesen. Hätte Max K* das Fahrzeug ordnungsgemäß am rechten Fahrbahnrand angehalten, dann hätte er zwar nicht gegen § 8 Abs 4 StVO verstoßen, der Unfall des Klägers wäre aber gleichermaßen bzw mit noch höherer Wahrscheinlichkeit eingetreten.

Unrichtig sei auch die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, was den Verstoß gegen § 24 Abs 1 lit d StVO betreffe. Schutzzweck dieser Bestimmung sei die Gewährleistung der Übersichtlichkeit an Einmündungen und Kreuzungen. Das Halte- und Parkverbot dieser Norm verfolge den besonderen Zweck, anderen Kfz‑Lenkern das Einbiegen zu erleichtern und die Gefahr eines daraus entstehenden Schadens zu vermindern, sowie den Fußgängerverkehr auf Kreuzungen nicht zu behindern. Keinesfalls könne aber der Schutzzweck in Bezug auf den Nachfolgeverkehr gesehen werden, weil es für die Beurteilung des Unfallablaufes keinen Unterschied mache, ob ein Fahrzeug 5 m weiter stehe oder nicht, wenn ein nachfolgender Fahrzeuglenker auf das stehende Fahrzeug auffahre.

Hiezu wurde erwogen:

 

Rechtliche Beurteilung

Nach ständiger Rechtsprechung (RIS‑Justiz RS0008775) bestimmt sich der Schutzzweck einer Norm aus ihrem Inhalt. Das Gericht hat den Schutzzweck teleologisch zu interpretieren und herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den in einem konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten wollte. Die Übertretung einer Schutznorm macht nur insoferne für den durch die Übertretung verursachten Schaden haftbar, als durch die Schutznorm gerade dieser Schaden verhindert werden sollte (2 Ob 56/03d mwN). Die Normen der StVO sind zwar grundsätzlich Schutzvorschriften, doch ist im Einzelfall eine konkrete Prüfung des Schutzzwecks erforderlich (ZVR 2002/73).

Die Rechtsprechung hat folgende Zwecke aus der Bestimmung des § 24 Abs 1 lit d StVO abgeleitet: die Gewährleistung der Übersichtlichkeit an Einmündungen und Kreuzungen; die Erleichterung des Einbiegens anderer Fahrzeuge; die Gewährung einer besseren Übersichtlichkeit an Kreuzungen und letztlich die Sicherheit des Verkehrs. Letztere wird durch jede Einschränkung der Verkehrsfläche des Kreuzungsbereiches beeinträchtigt; Zweck des Verbotes ist es auch, die Sicht für die Verkehrsteilnehmer an einander kreuzenden Straßen nicht durch einen "Sichtschatten" zu beeinträchtigen; letztlich soll auch der Fußgängerverkehr auf Kreuzungen nicht behindert werden (Dittrich/Stolzlechner, StVO3, § 24 Rz 86 mwN). Alle diese Zwecke stehen aber in irgendeinem Zusammenhang mit dem weniger als 5 m entfernten Schnittpunkt einander kreuzender Fahrbahnränder, sie stehen aber in keinem Zusammenhang mit dem Nachfolgeverkehr. Es kann, wie die beklagten Parteien in ihrem Rechtsmittel zutreffend hervorheben, für den Nachfolgeverkehr keinen Unterschied machen, ob ein Fahrzeug 6 m oder 4 m vor dem nächsten Schnittpunkt einander kreuzender Fahrbahnränder hält.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes ist daher der Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß gegen § 24 Abs 1 lit d StVO und dem eingetretenen Schaden zu verneinen.

Was nun die Frage der Gefährdungshaftung nach dem EKHG betrifft, so bestimmt dessen § 1, dass dann, wenn durch einen Unfall beim Betrieb eines Kraftfahrzeuges ein Mensch getötet, an seinem Körper oder an seiner Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt wird, der hieraus entstehende Schaden gemäß den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu ersetzen ist. Die Gefährdungshaftung nach dem EKHG setzt also nicht voraus, dass gegen konkrete Verhaltensvorschriften verstoßen wurde. Die Ersatzpflicht ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen der Eisenbahn oder des Kraftfahrzeuges beruhte (§ 9 Abs 1 EKHG). Gemäß § 9 Abs 2 EKHG ist die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt unabdingbare Voraussetzung der Unabwendbarkeit. Verlangt wird nicht die Einhaltung der gewöhnlichen Verkehrssorgfalt, sondern die Beachtung der äußersten, nach den Umständen des Falles möglichen und zumutbaren Sorgfalt (Schauer in Schwimann2, ABGB, § 9 EKHG Rz 21 mwN). Allerdings darf auch die erhöhte Sorgfaltspflicht nicht überspannt werden, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte reine Erfolgshaftung vermieden werden (Apathy, KommzEKHG, § 9 Rz 18 mwN). Bei krassem Mitverschulden des Geschädigten haftet der Betriebsunternehmer, dem der Entlastungsbeweis nach § 9 EKHG misslingt, nicht, wenn die Nichtbeachtung der gebotenen Sorgfalt derart geringfügig ist, dass sie gegenüber dem schwerwiegenden Verschulden des Geschädigten zu vernachlässigen ist (Apathy, aaO, § 7 Rz 29 mwN).

Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so kann dem Lenker des Fahrzeuges der zweitbeklagten Partei wenn überhaupt, nur eine geringfügige Vernachlässigung der äußersten, nach den Umständen des Falles möglichen und zumutbaren Sorgfalt angelastet werden. Würde man die gegenteilige Ansicht vertreten, dann dürfte auf Fahrbahnen überhaupt nicht gehalten oder geparkt werden, weil letztlich immer die Möglichkeit besteht, dass ein völlig unachtsamer Verkehrsteilnehmer gegen ein stehendes Hindernis fährt. Im vorliegenden Fall ist allerdings der Kläger nach den Feststellungen des Erstgerichtes in gebückter Rennfahrerhaltung gefahren. Von einem besonders sorgfältigen Verkehrsteilnehmer könnte man unter Umständen verlangen, dass er nach dem Überholen eines derartigen Radfahrers nicht stehen bleibt. Aber auch ausgehend von dieser Ansicht wäre für den Kläger nichts gewonnen, weil ihn ein krasses Mitverschulden trifft, weil er das Verkehrsgeschehen vor sich nicht beachtet hat; in einem solchen Fall kann aber, wie schon oben ausgeführt, die Betriebsgefahr vernachlässigt werden.

Es war daher dem Rekurs der beklagten Parteien Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

 

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