OGH 2Ob163/20i

OGH2Ob163/20i18.12.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Wolfgang Muchitsch, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, Schwarzenbergplatz 7, Wien 3, vertreten durch Dr. Manfred Rath, Rechtsanwalt in Graz, wegen 13.288,80 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Zwischenurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 20. Februar 2020, GZ 3 R 154/19t‑23, womit das Urteil des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 29. April 2019, GZ 254 C 379/18m ‑ 18, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00163.20I.1218.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Zwischenurteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 4.541,34 EUR (darin enthalten 518,39 EUR USt und 1.431 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 10. März 2014 ereignete sich auf der A2 Südautobahn in Fahrtrichtung Villach zwischen Graz‑Ost und Graz‑West ein Verkehrsunfall, an dem ua ein von der Klägerin gehaltener Milchsammelwagen samt Milchtankanhänger (Klagsfahrzeug) sowie ein in Polen zugelassener LKW mit Anhänger (Beklagtenfahrzeug) beteiligt waren. Die von den Unfallfahrzeugen befahrene Richtungsfahrbahn der A2 besteht im Unfallbereich aus drei jeweils rund 3,80 m breiten Fahrstreifen und einem Pannenstreifen. Hinter dem auf dem mittleren Fahrstreifen fahrenden Beklagtenfahrzeug (Nr 1a) fuhren ein Klein‑LKW (Nr 2), ein weiterer Klein‑LKW (Nr 3), ein Sattelzug (Nr 4), ein PKW (Nr 5), ein LKW (Nr 6), ein weiterer LKW (Nr 7), und sodann das Klagsfahrzeug samt Anhänger (Nr 8).

[2] Das Beklagtenfahrzeug (Nr 1a) und ein auf dem rechten Fahrstreifen fahrender PKW (Nr 1b) kollidierten aus unbekannter Ursache. Das Beklagtenfahrzeug wurde dadurch weder verdreht noch kam es ins Schleudern. Sein Lenker betätigte die Bremse – ohne eine Vollbremsung durchzuführen – und lenkte seinen LKW, der infolge der Kollision zwar etwas schlingernd, aber im Wesentlichen in gerader Linie weiterfuhr, nach rechts zur Seite, bis er auf dem Pannenstreifen zum Stillstand kam.

[3] Der Lenker des direkt dahinter fahrenden Klein‑LKW Nr 2 leitete nach Erkennen der Kollision des Beklagtenfahrzeugs Nr 1a mit dem PKW Nr 1b eine Vollbremsung ein und brachte sein Fahrzeug rechtzeitig zum Stillstand. Der Lenker des Klein‑LKW Nr 3 leitete unmittelbar nach Wahrnehmung der Gefahrensituation und der Reaktion der vor ihm fahrenden Fahrzeuglenker ebenfalls eine Vollbremsung ein und brachte sein Fahrzeug dadurch zum Stehen. Der LKW Nr 4 fuhr mit einem Geschwindigkeitsüberhang von maximal 10 km/h auf den Klein‑LKW Nr 3 auf und schob diesen auf den Klein‑LKW Nr 2. Der dahinter fahrende PKW Nr 5 konnte rechtzeitig gebremst, auf den rechten Fahrstreifen ausgelenkt und angehalten werden. Der Lenker des LKW Nr 6 leitete eine Vollbremsung ein, touchierte jedoch den noch in Bewegung befindlichen PKW Nr 5 seitlich und kollidierte mit dem LKW Nr 4. Beinahe zeitgleich leitete der Lenker des LKW Nr 7 eine Notbremsung ein. Er brachte seinen LKW knapp, nämlich 10 bis 20 cm hinter der Heckstoßstange des vor ihm stehenden LKW Nr 6 ohne Kontakt zum Stillstand. Rund 2 bis 3 Sekunden nach dem Anhalten des LKW Nr 7 verspürte dessen Lenker einen „starken Ruck“, weil der Lenker des Klagsfahrzeugs, der sich mit einer Geschwindigkeit von 70 bis 90 km/h genähert, die Massenkarambolage jedoch nicht bemerkt, und deshalb seine Geschwindigkeit vorerst auch nicht verringert hatte, nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte und auf den LKW Nr 7 so heftig auffuhr, dass dieser nach vorne geschoben wurde, mit dem LKW Nr 6 kollidierte und diesen in Bewegung setzte, sodass er mit dem LKW Nr 4 kollidierte, der seinerseits die Kein‑LKW Nr 3 und Nr 2 neuerlich aneinander schob.

[4] Die exakte zeitliche Abfolge, insbesondere wie viel Zeit zwischen den einzelnen Kollisionen sowie zwischen dem Primärunfall und dem Aufprall des Klagsfahrzeugs Nr 8 auf den LKW Nr 7 verging, ließ sich nicht feststellen.

[5] Eine Bremswegverkürzung für den Lenker des Klagsfahrzeugs durch das Fahrverhalten des Lenkers des Beklagtenfahrzeus oder der anderen Unfallbeteiligten konnte nicht festgestellt werden.

[6] Zum Auffahren des Klagsfahrzeugs auf den LKW Nr 7 kam es einerseits durch die Kollision des Beklagtenfahrzeuges Nr 1a mit dem PKW Nr 1b als Primärunfall und andererseits im Wesentlichen Ausmaß durch den Beobachtungsfehler des Lenkers des Klagsfahrzeugs verbunden mit einem viel zu geringen Tiefenabstand und einer erheblichen Reaktionsverspätung.

[7] Die Klägerin begehrt die Zahlung von 13.288,80 EUR sA, dies seien 25 % ihrer Reservehaltungskosten für das Ersatzfahrzeug. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs habe durch einen unzulässigen Fahrstreifenwechsel vom mittleren auf den rechten Fahrstreifen eine Massenkarambolage ausgelöst, weil er den PKW übersehen habe und mit diesem kollidiert sei. Das Beklagtenfahrzeug sei nach der (Primär‑)Kollision ins Schleudern und auf den linken Fahrstreifen geraten. Die dahinter fahrenden PKW‑ und LKW‑Lenker hätten Notbremsungen einleiten müssen, sodass es zu Serienauffahrunfällen gekommen sei. Der Lenker des Klagsfahrzeugs habe aufgrund der vom Beklagtenfahrzeug verursachten Bremswegverkürzung einen Aufprall auf den vor ihm fahrenden LKW nicht verhindern können. Vom Beklagtenfahrzeug sei eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgegangen. Die Beklagte hafte daher für 25 % der Schäden der Klägerin.

[8] Der Beklagte wandte das Alleinverschulden des Lenkers des Klagsfahrzeugs ein. Für den Lenker des Beklagtenfahrzeugs habe der Unfall ein unabwendbares Ereignis dargestellt, eine außergewöhnliche Betriebsgefahr habe sich nicht verwirklicht. Das Beklagtenfahrzeug sei mit einem PKW kollidiert, weshalb sein Lenker ein Bremsmanöver eingeleitet habe. Die dahinter fahrenden Fahrzeuglenker hätten großteils ohne Auffahrunfälle anhalten können. Der Lenker des Klagsfahrzeugs sei mit wesentlich überhöhter Geschwindigkeit weitergefahren und fast ungebremst auf das vor ihm stehende Fahrzeug aufgefahren. Er habe einen Beobachtungsfehler und einen Fahrfehler zu verantworten. Da zwischen dem Primärunfall und dem Unfall des Klagsfahrzeugs mehrere Minuten vergangen seien und zum Unfallzeitpunkt keinerlei Sichtbehinderungen bestanden hätten, habe sich für die später nachkommenden Fahrzeuge durch die auf der Autobahn stehenden Fahrzeuge keine außergewöhnliche Betriebsgefahr ergeben.

[9] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Mangels möglicher Feststellungen zur Ursache des Primärunfalls scheide eine Verschuldenshaftung aus. In dem durch die Primärkollision verursachten Schlingern des Beklagtenfahrzeugs liege kein besonderes Gefahrenmoment, das die mit dem normalen Betrieb eines LKW regelmäßig verbundene Gefahr übersteige. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs habe dennoch im Wesentlichen eine geradlinige Fahrlinie eingehalten und kontrolliert abbremsen und nach rechts auf den Pannenstreifen zufahren können.

[10] Das Berufungsgericht gelangte in Abänderung dieser Entscheidung zu einer dem Klagebegehren entsprechenden Haftungsteilung von gesamt 3 : 1 zu Lasten der Klägerin und sprach mit Zwischenurteil die Haftung der Beklagten dem Grunde nach für das eingeklagte Viertel des Schadens aus. Es sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

[11] Das Berufungsgericht verwarf die Tatsachenrüge und vertrat rechtlich die Ansicht, dass dann, wenn ein LKW mit Anhänger auf einer Autobahn mit einem Fahrzeug kollidiere und dadurch etwas ins Schlingern gerate, gebremst und, wenn auch ohne Vollbremsung, angehalten werde, eine erhebliche Gefahr von Auffahrunfällen und der Beschädigung von Personen und Sachen, die mit dem bloßen Betrieb des Beklagtenfahrzeugs alleine nicht verbunden sei, auf der Hand liege. In derartigen Fällen bleibe der adäquate Kausalzusammenhang zwischen der ersten Unfallursache und dem schließlich eingetretenen Erfolg selbst dann gewahrt, wenn Aufmerksamkeitsfehler der Lenker auffahrender Fahrzeuge wesentlich dazu beigetragen hätten. Deshalb sei das Vorliegen außergewöhnlicher Betriebsgefahr beim Beklagtenfahrzeug zu bejahen und eine Haftung der Beklagten in einem Ausmaß von einem Viertel gerechtfertigt.

[12] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nachträglich zur Frage zu, ob eine außergewöhnliche Betriebsgefahr bei einem LKW mit Anhänger zu bejahen sei, der durch eine Kollision auf der Autobahn leicht ins Schlingern geraten sei, aber beherrscht habe werden können und bremsend – aber ohne Vollbremsung – auf dem Pannenstreifen angehalten worden sei.

[13] Dagegen richtet sich die Revision des Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer vollständigen Klagsabweisung. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Ein leichtes „Schlendern“ begründe keine außergewöhnliche Betriebsgefahr. Es sei durch das Beklagtenfahrzeug kein Fahrstreifen blockiert worden und das Anhalten auf dem Pannenstreifen ohne hinzutretende Gefahr erfolgt.

[14] Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung , die Revision zurückzuweisen; in eventu, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision des Beklagten ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist; sie ist deshalb auch berechtigt.

[16] 1. Gemäß Art 1 Abs 2 des Haager Straßenverkehrsübereinkommen (HStVÜ) ist unter Straßenverkehrsunfall jeder Unfall zu verstehen, an dem ein oder mehrere Fahrzeuge beteiligt sind und der mit dem Verkehr auf öffentlichen Straßen zusammenhängt. Das anzuwendende Recht ist nach Art 3 HStVÜ das innerstaatliche Recht des Staats, in dessen Hoheitsgebiet sich der Unfall ereignet hat. In dritter Instanz ist zwischen den Parteien nicht strittig, dass nach diesen Bestimmungen österreichisches Recht zur Anwendung gelangt.

[17] 2. Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ist dann anzunehmen, wenn die Gefährlichkeit, die regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbunden ist, dadurch vergrößert wird, dass besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Verlauf der Dinge nicht schon deshalb vorliegen, weil ein Fahrzeug im Betrieb ist (1 Ob 49/95; 2 Ob 112/11a; RS0058461 [T4]; RS0058467). Solche Besonderheiten sind beim Abwägen der beiderseits ursächlichen Umstände zu berücksichtigen (RS0058586).

[18] 3. Liegt Unbeherrschbarkeit des Fahrzeugs vor bzw gerät ein Kraftfahrzeug ins Schleudern, sodass es von seinem Lenker nicht mehr voll beherrscht werden kann, so wird die von ihm ausgehende Gefahr in der Regel als außergewöhnliche Betriebsgefahr qualifiziert (2 Ob 210/09k; 2 Ob 170/12g; RS0058467 [T14 und T19]), auch wenn die Unbeherrschbarkeit des Fahrzeugs kein notwendiges Merkmal für das Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr ist (2 Ob 259/03g; RS0058467 [T9]). So wird in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bei einem nicht bloß durch die Verkehrslage bedingten Stillstand (oder Quasi‑Stillstand) insbesondere auf Autobahnen das Vorliegen außergewöhnlicher Betriebsgefahr regelmäßig bejaht (vgl 2 Ob 170/12g mwN).

[19] 4. Dagegen begründet ein bloß verkehrsbedingtes Anhalten eines Kraftfahrzeugs auf der Autobahn ohne Hinzutreten besonderer Umstände keine außergewöhnliche Betriebsgefahr (2 Ob 170/12g; RS0058467 [T20]). Auch wenn ein Fahrzeug nach einem Kontakt (dort mit einem Reh) ohne Verreißen, Ausbrechen oder Schleudern zum Stillstand gebracht werden kann, ist die Nichtannahme einer diesem Fahrzeug zuzurechnenden außergewöhnlichen Betriebsgefahr unbedenklich (2 Ob 112/11a; RS0058586 [T9]).

[20] 5. Im vorliegenden Fall wurde das Beklagtenfahrzeug Nr 1a nach der Kollision mit dem PKW 1b, deren Ursache nicht geklärt werden konnte, leicht schlingernd aber kontrolliert und (nicht voll-)bremsend im Wesentlichen geradlinig weitergefahren, nach rechts zum Pannenstreifen gelenkt und dort zum Stillstand gebracht. Bei diesem Fahrmannöver sind keine Gefahren erkennbar, die zu den regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbundenen hinzutreten, die normale Betriebsgefahr vergrößern und sie zu einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr machen würden. Dass das Beklagtenfahrzeug leicht schlingerte ist auch deshalb irrelevant, weil dieser Umstand keinen festgestellten Einfluss auf die nachfolgenden Kollisionen, insbesondere das Auffahren des Klagsfahrzeugs Nr 8 auf dessen Vorderfahrzeug hatte.

[21] 6. Soweit das Berufungsgericht die außergewöhnliche Betriebsgefahr beim Beklagtenfahrzeug Nr 1a in dessen bloßer Beteiligung an der Primärkollision erkennen will, kann ihm nicht gefolgt werden. Nach den hier maßgeblichen, den Obersten Gerichtshof bindenden, Feststellungen des Erstgerichts hatte diese Kollision keine die gewöhnliche Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs erhöhende Umstände zur Folge. Dass solche bei den nachfolgenden, die Fahrbahn blockierenden Fahrzeugen eintraten, ist für die Schadensteilung zwischen den Streitteilen nicht relevant.

[22] 7. Da somit eine Haftung des Beklagten für außergewöhnliche Betriebsgefahr zu vereinen ist, ist der Revision Folge zu geben und das abweisende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen. Auf die weiteren sich von den Feststellungen entfernenden Revisionsargumente, dass das Auffahren des Klagsfahrzeugs sich längere Zeit nach der Primärkollision ereignet hätte bzw die Unfallstelle bereits abgesichert gewesen wäre, ist daher nicht mehr einzugehen.

[23] 8. Die Kostenentscheidung für das Rechtsmittelverfahren gründet sich auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.

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