European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:E102738
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Der Minderjährige stammt aus der Ehe der A* W*, einer schwedischen Staatsangehörigen, und des R* W*, eines österreichischen Staatsbürgers, die mit Urteil vom 15. 6. 2011 rechtskräftig geschieden wurde. Der Minderjährige besitzt die schwedisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft. Die Mutter zog am 21. 4. 2011 aus dem bis dahin gemeinsam bewohnten Haus in Sulz aus und übersiedelte nach Alland, wo sie nun in einer aus drei Räumen bestehenden Mietwohnung (samt Gartenbenützungsrecht) lebt. Sie arbeitet 26 Wochenstunden bei einem Möbelhaus, der Vater ist Bühnenarbeiter in Wien. Der Minderjährige besucht seit September 2011 die Volksschule.
Nach der Trennung der Eltern blieb der Minderjährige beim Vater in Sulz, wo er ein eigenes Zimmer samt Bad, einen Garten und einen Swimmingpool zur Verfügung hat. Die Mutter holte ihn täglich vom Kindergarten ab, übernahm die Nachmittagsbetreuung und brachte ihn abends zum Vater. Mittlerweile betreuen beide Elternteile ihren Sohn abwechselnd, wobei der Vater von seinen Eltern unterstützt wird.
Bereits während des anhängigen Scheidungsverfahrens hatten beide Elternteile Anträge gestellt, sie jeweils allein mit der Obsorge über den Minderjährigen zu betrauen. Der Vater behauptete, es sei zu befürchten, dass die Mutter nach Schweden auswandern wolle, weshalb das Kindeswohl bei einer Betrauung der Mutter massiv gefährdet sei. Dies wurde von der Mutter bestritten. Es bestehe kein konkreter Plan für eine Übersiedlung nach Schweden. Selbst ein solcher Wohnortwechsel würde jedoch keine Gefährdung des Kindeswohls bedeuten, zumal der Minderjährige schwedisch spreche. In der Tagsatzung vom 27. 2. 2012 erklärte sie, einer gemeinsamen Obsorge nicht zuzustimmen, sie wäre aber damit einverstanden, dass bei einer Obsorgezuteilung an sie der Vater damit betraut werde, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen.
Das Erstgericht betraute die Mutter mit der alleinigen Obsorge, schränkte diese jedoch gleichzeitig um das „Recht der Aufenthaltsbestimmung“ ein. In diesem Teilbereich erkannte es dem Vater die Obsorge zu.
Das Erstgericht vermochte nicht festzustellen, dass die Mutter den Minderjährigen geschlagen oder sich sonst ihm gegenüber aggressiv verhalten habe. Gestützt auf das Gutachten einer Sachverständigen nahm es ferner als erwiesen an, dass beide Elternteile gleichermaßen erziehungsfähig und wichtige Bezugspersonen für den Minderjährigen seien. Beide könnten ihm auch eine seinen Bedürfnissen entsprechende Umgebung bieten. Die höhere Stabilität der Lebensumstände beim Vater stehe einer höheren Kooperationsbereitschaft der Mutter im Umgang mit dem anderen Elternteil gegenüber. Dies spreche dafür, der Mutter die Obsorge zuzuteilen, vorausgesetzt sie behalte ihren Lebensmittelpunkt in Österreich. Sollte sie jedoch eine Übersiedlung nach Schweden planen, würde dies den Bedürfnissen des Minderjährigen nach Kontinuität, Stabilität und einer engen Beziehung zum Vater nicht entsprechen. Unabhängig davon, ob er die Mutter nach Schweden begleite, würde der Verlust eines Elternteils erneut zu einer nachhaltigen Veränderung seines Umfelds und zu einer erheblichen emotionalen Belastung des Minderjährigen führen. Für diesen sei der Kontakt zu beiden Elternteilen wichtig, mit den derzeitigen Wechseln komme er gut zurecht.
In rechtlicher Hinsicht meinte das Erstgericht, für den Minderjährigen sei ein gleichwertiger Zugang zu beiden Elternteilen wichtig, den zu bieten die Mutter bereit und in der Lage sei. Es solle jedoch verhindert werden, dass sie mit dem Kind das Land verlasse. Ein Wechsel nach Schweden wäre einer weiteren guten Entwicklung des Minderjährigen abträglich und gefährde das Kindeswohl. Die Mutter habe nicht überzeugend dargetan, nicht in ihr Heimatland zurückkehren zu wollen. Eine Aufteilung der Obsorge sei zwar grundsätzlich nicht zulässig, die aus der Obsorge erfließenden Befugnisse eines Elternteils könnten jedoch schon bei deren Zuteilung an ihn unter den Voraussetzungen des § 176 ABGB zum Wohl des Kindes eingeschränkt werden. Die Mutter habe einer solchen Einschränkung dahin zugestimmt, dass der Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung dem Vater zukommen solle.
Das von beiden Elternteilen angerufene Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.
In seinen Ausführungen zum Rekurs der Mutter erinnerte das Rekursgericht an deren Zustimmung zu der verfügten Einschränkung der Obsorge. Diese diene ausschließlich dazu, eine Übersiedlung des Minderjährigen in das Ausland von der Zustimmung des Vaters abhängig zu machen. Weiterreichende Rechte des Vaters seien damit nicht verbunden. Bei einer dem Kindeswohl widersprechenden Ausübung durch den Vater werde die Regelung zu überprüfen sein.
Die im Rekurs des Vaters gerügten Verfahrensmängel wurden verneint. Feststellungen zum Thema der möglichen Auswanderung der Mutter seien nicht erforderlich. Dem Erstgericht sei darin beizupflichten, dass im Sinne des Kindeswohls die kooperationsfähigere Mutter mit der Obsorge zu betrauen, dem Vater jedoch der Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung zu übertragen sei.
Gegen diese Rekursentscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionrekurs des Vaters, in welchem er weiterhin die alleinige Obsorge anstrebt.
Die Mutter machte von der ihr freigestellten Möglichkeit einer Revisionsrekursbeantwortung keinen Gebrauch.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Regelung der Obsorge durch die Vorinstanzen nicht der Gesetzeslage entspricht.
Der Vater macht geltend, es fehle an einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Umfang der Obsorge im Teilbereich des Aufenthaltsbestimmungsrechts, dem bei der Regulierung von familienrechtlichen Beziehungen mit Elternteilen unterschiedlicher Nationalität besondere Bedeutung zukomme. Die zweitinstanzliche Interpretation sei überdies unzutreffend, auch bei einem Aufenthaltswechsel im Inland werde der Minderjährige aus seinem bisherigen Umfeld herausgerissen. Im Übrigen hätten sich die Vorinstanzen bei ihrer Entscheidung von einem einzigen Zuteilungskriterium leiten lassen, nämlich der „rechtsirrtümlich“ angenommenen kompromissbereiteren Haltung der Mutter, und nicht die erforderliche Gesamtschau angestellt. Es fehlten vor allem Feststellungen über die Auswanderungspläne der Mutter, die eine Beziehung zu einem Schweden unterhalte.
Hierzu wurde erwogen:
1. Vorauszuschicken ist, dass die Vorinstanzen im Hinblick auf den im Inland gelegenen gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen gemäß Art 8 Abs 1 Brüssel IIa‑VO iVm Art 1 Abs 1 lit b und Art 15 Abs 1 KSÜ zutreffend von der Maßgeblichkeit österreichischen Rechts ausgegangen sind (vgl 7 Ob 60/12t mwN).
2. Der vom Vater gerügte Verfahrensmangel, der in der Unterlassung der Einvernahme von Zeugen zum „aggressiven Verhalten“ der Mutter gegenüber dem Minderjährigen gelegen sein soll, wurde bereits vom Rekursgericht verneint und kann daher grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund bilden (2 Ob 64/12v; RIS‑Justiz RS0030748, RS0050037). Die Voraussetzungen für eine Durchbrechung dieses Grundsatzes aus Gründen des Kindeswohls (RIS‑Justiz RS0050037 [T5 und T8]) liegen hier nicht vor. Der Vater hat, worauf schon das Rekursgericht zutreffend verwiesen hat, zu diesem Thema weder Vorbringen erstattet noch Beweisanträge gestellt, sondern lediglich im Zuge seiner Parteienvernehmung ihm erwähnenswert scheinende „Vorfälle“ geschildert. Das Erstgericht traf dazu eine Negativfeststellung, die in dritter Instanz nicht bekämpft werden kann.
Letzteres gilt auch für die auf das Gutachten der Sachverständigen gegründete Feststellung über die kompromissbereitere Haltung der Mutter, bei der es sich nicht um einen „Rechtsirrtum“ handelt, sondern die der den Obersten Gerichtshof bindenden Tatsachengrundlage zugehörig ist.
3. Mangels Einvernehmens der Eltern ist gemäß § 177a Abs 1 ABGB darüber zu entscheiden, welcher Elternteil allein mit der Obsorge zu betrauen ist. Eine Obsorgeregelung, wonach beide Elternteile jeweils mit einem Teil der Obsorge betraut sind, ist nach herrschender Ansicht unzulässig (vgl RIS‑Justiz RS0120492; Hopf in KBB³ §§ 177‑177a Rz 2; Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB I4 § 177a Rz 3 und Rz 18; Stabentheiner in Rummel, ABGB³ ErgBd §§ 177‑177b Rz 3).
Die mit der Obsorge betraute Person, der die Pflege und Erziehung zusteht, hat gemäß § 146b ABGB auch das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Dieses Recht steht dem allein obsorgeberechtigten Elternteil auch gegen den anderen Elternteil zu (10 Ob 31/04p; Hopf aaO § 146b Rz 2). Sinn der Vorschrift ist die Sicherung und Durchsetzung von Pflege und Erziehung (Gitschthaler in Schwimann/Kodek ABGB I4 § 146b Rz 1).
Die von den Vorinstanzen getroffene Regelung ist mit dieser Rechtslage nicht vereinbar. Die Aufteilung von Aufenthaltsbestimmungsrecht und sonstiger Pflege und Erziehung zwischen den Elternteilen im Rahmen der Zuteilung der Obsorge nach § 177a Abs 1 ABGB widerspricht sowohl den Intentionen des § 146b ABGB als auch dem ‑ insoweit klaren ‑ Wortlaut des § 177a Abs 1 ABGB. Sie wäre, abgesehen von den schon in zweiter Instanz relevierten Auslegungsfragen, auch unpraktikabel, weil jedenfalls jeder Auslandsaufenthalt von Mutter und Kind durch den Vater vorher „genehmigt“ werden müsste, was für den Fall der Verweigerung ein beträchtliches, das Kindeswohl belastendes Konfliktpotential in sich birgt. An dieser Beurteilung ändert auch das von der Mutter gegenüber dem Erstgericht bekundete, in zweiter Instanz aber wieder zurückgenommene Einverständnis zur Aufenthaltsbestimmung durch den Vater nichts.
4. Das Erstgericht berief sich auf die Entscheidung 1 Ob 601/95. Darin wurde ua festgehalten, dass die aus der Obsorge erfließenden Befugnisse eines Elternteils schon bei der Zuteilung der Obsorge an ihn unter den Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB zum Wohl des Kindes eingeschränkt werden können und in diesem Umfang ein Sachwalter (im damaligen Anlassfall für alle Fragen der religiösen Kindererziehung und für die Zustimmung zu allen mit Bluttransfusionen verbundenen medizinischen Behandlungen) bestellt werden kann (ebenso 1 Ob 57/97g [Angelegenheiten des Schulbesuchs sowie der ärztlichen und therapeutischen Betreuung]; vgl RIS‑Justiz RS0103664).
Der Oberste Gerichtshof hat in der vom Rekursgericht zitierten Entscheidung 3 Ob 3/11d bereits festgehalten, dass diese Rechtsprechung auf die heutige Rechtslage nicht mehr übertragbar ist. Die rechtliche Möglichkeit, in solchen Fällen einen Sachwalter zu bestellen, existiert nicht mehr. An seiner Stelle träte eine nach den §§ 187 ff ABGB zu bestimmende „andere Person“, die aber mit dem Vater nicht ident sein kann.
5. Die allein mit der Obsorge betraute Person kann als Ort, an dem sich das Kind aufzuhalten hat, grundsätzlich auch das Ausland bestimmen und zwar uU selbst dann, wenn dadurch die Ausübung eines Besuchsrechts erschwert wird (vgl 10 Ob 25/00z; 1 Ob 274/00a; Gitschthaler aaO § 146b Rz 4; Barth in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 146b Rz 5 und Rz 9). Allerdings darf das Aufenthaltsbestimmungsrecht keinesfalls gegen das Kindeswohl ausgeübt werden (10 Ob 31/04p). Unter diesem Aspekt ist auch zu berücksichtigen, dass das Recht auf Kontakt mit dem anderen (nicht obsorgeberechtigten) Elternteil als Recht des Kindes zu verstehen ist und Besuchskontakte zu diesem Elternteil in aller Regel seinem Wohl entsprechen (Barth aaO Rz 9; Gitschthaler aaO Rz 4). Die Beantwortung der Frage, bei welchen konkreten Verhältnissen eine Übersiedlung in eine Stadt im Ausland als eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen wäre, richtet sich stets nach den Umständen des Einzelfalls (RIS‑Justiz RS0114625).
In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wurde auch schon die Bindung der Zulässigkeit einer Übersiedlung des Kindes in das Ausland an die Zustimmung des Pflegschaftsgerichts (7 Ob 615/78 = RIS‑Justiz RS0047906) oder die Abnahme des Reisepasses (5 Ob 595/84 = RIS‑Justiz RS0007011) als zulässige Beschränkung der Obsorge iSd § 176 Abs 1 ABGB angesehen (zur Zulässigkeit von Verboten und Aufträgen an den Obsorgeberechtigten vgl insbesondere 3 Ob 3/11d; ebenso Weitzenböck aaO § 176 Rz 44).
6. Ausgehend von der Feststellung des Erstgerichts, dass beide Elternteile gleichermaßen erziehungsfähig und wichtige Bezugspersonen für den Minderjährigen seien, kommt die Obsorgezuteilung grundsätzlich sowohl an die Mutter (allenfalls beschränkt durch eine Anordnung iSd soeben zitierten Rechtsprechung) als auch an den Vater in Betracht.
Die weiteren Feststellungen deuten darauf hin, dass eine Übersiedlung des Minderjährigen nach Schweden das ‑ vom Gericht auch in rechtlicher Hinsicht zu würdigende ‑ Kindeswohl gefährden könnte. Das Erstgericht erachtete die Beteuerungen der Mutter, derzeit keine konkreten Auswanderungspläne zu haben, als „nicht überzeugend“. Feststellungen zu diesem Thema liegen aber bisher nicht vor, obwohl der Vater dazu umfangreiches Tatsachenvorbringen erstattet hat. Sie sind daher, um die bei einer Entscheidung nach § 177a Abs 1 ABGB gebotene Gesamtschau einschließlich Zukunftsprognose zu ermöglichen (vgl RIS‑Justiz RS0047832; Hopf aaO §§ 177‑177a Rz 8; Weitzenböck aaO § 177a Rz 21 f), nach Klärung der aktuellen Sachlage nachzuholen. Sollten sich danach konkrete Auswanderungspläne der Mutter ergeben, wird der Sachverhalt aber auch dahin zu vervollständigen sein, wie sich die Lebensverhältnisse für den Minderjährigen bei einer Übersiedlung nach Schweden gestalten würden und ob der wichtige Kontakt zum Vater in einem Ausmaß erhalten bleiben könnte, in welchem der Wohnsitzwechsel nicht mit einem „Verlust“ dieses Elternteils gleichgesetzt werden müsste.
7. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher in Stattgebung des Revisionsrekurses des Vaters aufzuheben. Das Erstgericht wird nach Ergänzung des Sachverhalts im dargelegten Sinn neuerlich über die Zuteilung der Obsorge zu entscheiden haben.
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