OGH 1Ob601/95

OGH1Ob601/954.6.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Martin Sch*****, geboren am 7.Oktober 1980, und der mj. Sandra Sch*****, geboren am 14.Mai 1982, infolge Revisionsrekurses des Vaters Manfred Sch*****, vertreten durch Dr.Paul Flach, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen den Beschluß des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 9.März 1995, GZ 51 R 249-260/94-339, womit der Beschluß des Bezirksgerichts Hall in Tirol vom 14.Oktober 1994, GZ P 214/86-296, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben. Der angefochtene Beschluß wird mit der Maßgabe bestätigt, daß der vom Rekursgericht „mit einer Maßgabe“ bestätigte Punkt 2 des erstinstanzlichen Beschlusses wie folgt zu lauten hat:

„2. Die Obsorge für die beiden Minderjährigen steht in Hinkunft allein der Mutter zu, jedoch mit der Einschränkung, daß der Jugendwohlfahrtsträger

a) für alle Fragen der religiösen Kindererziehung bzw der Erziehung der Kinder in einer nicht bekenntnismäßigen Weltanschauung sowie

b) für die Zustimmung zu allen mit Bluttransfusionen verbundenen medizinischen Behandlungen der beiden Minderjährigen

zu deren Sachwalter bestellt wird.“

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern des beiden Minderjährigen wurde mit Beschluß vom 12.Juni 1986 gemäß § 55a EheG geschieden, nachdem die Mutter im Herbst 1984 mit den Kindern die Ehewohnung verlassen hatte. Die Mutter und ihr nunmehriger Ehegatte sind Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Der erkennende Senat sprach mit Beschluß vom 3.September 1986, GZ 1 Ob 586/86-93 (= SZ 59/144 = JBl 1988, 238 = EvBl 1989/80 = RZ 1987/40) aus, daß die Obsorge für die beiden Minderjährigen künftig dem Vater zustehe; zur Begründung führte er aus, daß bei der Erziehung nach den Grundsätzen der Zeugen Jehovas durch die Mutter die Bestimmungen des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung (RelKEG) verletzt würden, das Kindeswohl durch die Weigerung der Mutter, einer Bluttransfusion zuzustimmen, gefährdet sei und beide Kinder in eine gesellschaftliche Außenseiterposition gedrängt würden. Da auch der Vater für die Erziehung der Kinder geeignet sei, sei ihm bei der erstmaligen Obsorgeentscheidung der Vorzug zu geben, selbst wenn die Kinder eine wesentlich intensivere gefühlsmäßige Bindung an die Mutter hätten, an diese als alleinige Erziehungsperson gewöhnt seien und sie sich gut und harmonisch entwickelt hätten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gelangte mit Erkenntnis vom 23.Juni 1993, Zl 15/1992/360/434 (= JBl 1994, 465 = ÖJZ 1993, 835) mit einer Mehrheit von 5 : 4 Stimmen zum Ergebnis, daß durch die Obsorgeentscheidung des Obersten Gerichtshofs, die sich im wesentlichen auf den Unterschied in der Religion gestützt habe, Art 8 iVm Art 14 EMRK verletzt worden sei, so daß die Mutter aufgrund ihrer Religion in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens diskriminiert worden sei.

Am 19.Juni 1992 beantragte die seit 1988 in Vorarlberg lebende Mutter die Zuteilung der Obsorge für beide Minderjährigen an sie. Der Vater trat dem Antrag entgegen.

Das Erstgericht entzog im zweiten Rechtsgang 1.) dem Vater die Obsorge für die beiden Minderjährigen gemäß § 176 ABGB, sprach 2.) aus, daß die Obsorge künftig a) „in allen Fragen der religiösen Kindererziehung sowie in allen Fragen der Erziehung der Kinder in einer nicht bekenntnismäßigen Weltanschauung (im Sinne des Begriffes nach § 6 des Bundesgesetzes über die religiöse Kinderentziehung 1985, BGBl 1985/155) dem jeweils örtlich zuständigen Jugendwohlfahrtsträger, und zwar im Fall einer Meinungsverschiedenheit zwischen einem Kind bzw beiden Kindern und der Kindesmutter in den genannten Bereichen“, im übrigen aber b) der Mutter zustehe, setzte 3. mit „einstweiliger Vorkehrung“ die Punkte 1 und 2 mit sofortiger Wirkung sogleich in Vollzug (außer im Fall des § 12 Abs 2 AußStrG, somit für die Zeit nach Einlangen eines Rekurses bzw Revisionsrekurses), wies 4. den Antrag des Vaters, der Mutter das Besuchsrecht zur Gänze zu entziehen, ab, teilte 5. dem Vater mit, daß sich die Kinder vom 29. bis 31.Juli 1994 bei der Schwester der Mutter befunden hätten, stellte 6. fest, daß keine weiteren pflegschaftsgerichtlichen Maßnahmen getroffen werden, wies 7. den Antrag des Vaters auf Bestellung eines Kollisionskurators für die Kinder ab und übertrug 8. die Zuständigkeit zur Besorgung dieser Pflegschaftsache gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Bregenz mit der Maßgabe, daß die Übertragung erst mit der Übernahme der Pflegschaftssache durch dieses Gericht wirksam werde.

Zu den Punkten 1 bis 3 traf das Erstgericht im wesentlichen folgende Feststellungen: Die Kinder hätten seit jeher eine intensive gefühlsmäßige Bindung an ihre Mutter gehabt. Das habe sich trotz der Obsorge durch den Vater in den vergangenen Jahren nicht geändert. So hätten sich die Kinder im Rahmen der damaligen - des öfteren im Einvernehmen mit dem Vater auch über die gerichtliche Besuchsrechtsregelung hinaus ermöglichten - Besuchskontakte bei der Mutter sehr wohl gefühlt und die Stunden mit der Mutter und deren nunmehrigem Gatten augenscheinlich genossen. Deshalb hätten sie in den vergangenen Jahren wiederholt den Wunsch geäußert, (endgültig) zur Mutter ziehen zu dürfen. Diesem Wunsch sei der Vater - primär wegen der Zugehörigkeit der Mutter zu den Zeugen Jehovas - nicht nähergetreten, weil er im Fall einer Betreuung der Kinder durch die Mutter deren Einflußnahme in Glaubensfragen befürchtet habe. Die vom Vater in dieser Richtung gehegten Befürchtungen hätten zu Spannungen zwischen den Eltern geführt, denen die Kinder ausgesetzt gewesen und auch jetzt noch ausgesetzt seien. Der unlösbare Konflikt auf dieser Ebene erlaube es dem Vater auch nicht, auf die von den Minderjährigen geäußerten Wünsche nach einer ständigen Betreuung durch die Mutter einzugehen, was bei den Minderjährigen zu psychosomatischen Beschwerden (Bauchschmerzen, Herzstechen) geführt habe; dabei sei Sandra stärker somatisiert und den Belastungen in einem höheren Maß ausgesetzt gewesen. Die Minderjährigen bedürften deshalb einer psychotherapeutischen Betreuung, die ihnen der Vater indessen nicht habe angedeihen lassen, weil er die psychosomatische Erkrankung bei seinen Kindern insgesamt negiert habe.

Angesichts des bereits mehrere Jahre dauernden Verfahrens, in dessen Verlauf die Kinder wiederholt und bestimmt, jedoch vergeblich den Wunsch, zur Mutter ziehen zu dürfen, geäußert hätten, hätten sie im Sommer 1994 beschlossen, von einem Besuch bei der Mutter am 17.Juli 1994 im Rahmen der Besuchsrechtsausübung nicht mehr zum Vater zurückzukehren und hätten weder von der Mutter noch von der - wegen Nichteinhaltung erstgerichtlicher Auflagen im Zusammenhang mit der Ausübung des Besuchsrechts angeordneten - Besuchsbegleitung zu einer Rückkehr zum Vater überredet werden können, hätten sich auch einem vom Erstgericht mit Beschluß vom 21.Juli 1994 angeordneten Auftrag zur Herausgabe unter Mitwirkung von Behörden und Organen zweimal erfolgreich widersetzt und sowohl ihrem Vater als auch ihrer väterlichen Großmutter in einem direkten Gespräch erklärt, solange nicht zum Vater - auch nicht zu Besuchszwecken zurückzukommen, als der Obsorgestreit nicht ihrem Wunsch entsprechend zugunsten der Mutter entschieden sei. Den Kindern sei diese allein von ihnen getroffene Entscheidung nicht leicht gefallen, zumal sie auch ihren Vater mögen und daher in einem starken Loyalitätskonflikt stünden. Sie hätten durch die Verweigerung einer Rückkehr zum Vater den Kontakt zu ihren dort wohnhaften Verwandten und ihrem Freundeskreis verloren, sich von ihrem Haustier trennen sowie ihre Mitwirkung in der Jungschar-Gruppe, der Fußballmannschaft bzw dem Trachtenverein aufgeben müssen. Die Kinder seien indessen angesichts ihres Reife- und Entwicklungsstands in der Lage, die Auswirkungen ihrer Entscheidung zu erkennen. Der Weigerung der Minderjährigen, zum Vater zurückzukehren, sei somit größte Bedeutung zuzumessen. „Ein Negieren dieser Problematik und eine mangelnde Berücksichtigung des Wunsches der Kinder würde zu einer Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeitsentwicklung führen und weitere funktionelle Beschwerden nach sich ziehen.“

Die Minderjährigen würden seit 17.Juli 1994 faktisch von ihrer Mutter betreut und besuchten seit Herbst 1994 die Hauptschule in Höchst. Sie hätten sich in der Klassengemeinschaft gut integriert, erbrächten erfreuliche schulische Leistungen, nähmen an schulischen Aktivitäten teil und besuchten den römisch-katholischen Religionsunterricht in der Schule. Sie hätten erklärt, den katholischen Glauben beibehalten zu wollen. Wenngleich die Mutter von ihrem religiösen Glauben überzeugt sei und das auch den Kindern mitteile, sei sie tolerant genug, ihnen Glaubensfreiheit zu gewähren. Die Mutter habe sich ferner bereit erklärt, die Minderjährigen einer „mittlerweile bereits angelaufenen“ sozialtherapeutischen Behandlung zuzuführen. Eine zwangsweise Rückführung der Kinder in die Betreuung durch den Vater könnte zu schweren seelischen „Neuschäden“ führen.

Rechtlich meinte der Erstrichter, eine Änderung der nunmehrigen faktischen Ausübung der Obsorge durch die Mutter würde zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen. Bei einer Interessenabwägung käme der Tatsache, daß sich die Mutter zum Glauben der Zeugen Jehovas bekenne, und den sich daraus für die Kinder allenfalls ergebenden Nachteilen keine solche Bedeutung zu, daß die Übertragung der Obsorge an die Mutter abzulehnen sei. Insoweit sei lediglich eine Einschränkung bei der Obsorgeübertragung im Sinne des Punkts 2a der Entscheidung vorzunehmen, der die Mutter auch zugestimmt habe.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte den erstinstanzlichen Beschluß mit der Maßgabe, daß auch die Obsorge im Umfang des Rechts zur Zustimmung zur medizinischen Behandlung, die mit einer Bluttransfusion verbunden sei, dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen werde; es sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. In rechtlicher Hinsicht bejahte die zweite Instanz gleichfalls die Voraussetzungen dafür, daß dem Vater die Obsorge zu entziehen sei: „Die Kinder verspürten seit jeher eine innige Beziehung zu ihrer Mutter mit dem Bedürfnis“, bei dieser leben zu dürfen. Zwischen den Eltern bestehe jedoch ein unlösbarer Konflikt, der in einer überzeugten Ablehnung der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, der sich die Mutter zugewandt habe, durch den Vater begründet sei. Diese Überzeugung hindere ihn, auf den von den Minderjährigen beharrlich geäußerten Wunsch nach einer ständigen Betreuung durch die Mutter einzugehen und diesem Kinderwunsch das nötige Verständnis entgegenzubringen. Die andauernde Konfliktsituation zwischen den Eltern habe bei den Minderjährigen schließlich zu psychosomatischen Beschwerden geführt. Der Vater sei außerstande gewesen, diesem Loyalitätskonflikt, dem seine Kinder seit langem ausgesetzt seien, durch eine notwendige Änderung seines Verhaltens sowie durch die Veranlassung einer psychotherapeutischen Betreuung der Kinder entgegenzuwirken. Sein mangelndes Verständnis für die Lage seiner Kinder habe zu einer konkreten Gefährdung deren Wohls in Form schwerer Störungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unter Auftreten massiver psychosomatischer Störungen geführt. Wie sehr die Kinder unter ihrer Lage gelitten hätten, habe sich durch ihren am 17.Juli 1994 in die Tat umgesetzten Entschluß, von einem Besuch bei ihrer Mutter nicht mehr zum Vater zurückzukehren, geoffenbart. Dessen Versuche, auch unter Mitwirkung des Gerichts die Kinder umzustimmen und zu einer Rückkehr zu bewegen, seien gescheitert; dabei finde sich kein Hinweis darauf, daß diese Änderung der faktischen Verhältnisse auf die unmittelbare Einflußnahme durch die Mutter zurückzuführen sei. Möge auch dem Willen von Kindern im Alter der beiden Minderjährigen nicht jedenfalls ausschlaggebende Bedeutung für die Frage nach einem Obsorgewechsel zukommen, so erhalte deren Wunsch im konkreten Fall unter Bedachtnahme auf deren Alter, in dem im allgemeinen eine Verfestigung der Persönlichkeitsstruktur stattfinde, und unter Berücksichtigung der Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit, die sich im bereits geschilderten Verhalten der beiden Minderjährigen manifestiert habe, doch besonderes Gewicht. Insbesondere gelte es zu berücksichtigen, daß eine Änderung des derzeitigen faktischen Zustands massiv das Wohl der beiden Minderjährigen beeinträchtigen und deren Persönlichkeitsentwicklung schweren Schaden zufügen würde. Damit lägen insgesamt wichtige, objektive Gründe vor, die es geböten, dem Vater die Obsorge zu entziehen. Grundsätzlich unzulässig sei nur eine Zuteilung der Obsorge an geschiedene Elternteile „gemeinsam“, also zur ungeteilten Hand. Hier komme es aber nicht zu einer Aufteilung der Obsorgerechte zwischen den Eltern, sondern es werde dem einen Elternteil die Obsorge entzogen und diese in einem Teilbereich dem Jugendwohlfahrtsträger, im übrigen aber dem anderen Elternteil übertragen. Die Unzulässigkeit einer solchen Aufteilung könne aus § 176 ABGB nicht abgeleitet werden. Könne die Obsorge in Form einer zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügung ganz oder teilweise, insbesondere im Umfang gesetzlich vorgesehener Einwilligungs- und Zustimmungsrechte, entzogen werden, müsse es umgekehrt auch möglich sein, solche Rechte auf den Jugendwohlfahrtsträger und die Obsorge im übrigen an den anderen Elternteil zu übertragen, sofern dies dem Kindeswohl diene und zudem dem ausdrücklichen Antrag der Mutter, deren Obsorgerechte dadurch im Ergebnis eingeschränkt würden, entspreche. Um eine künftig gegebenenfalls notwendig werdende Entscheidung über eine Bluttransfusion an den Kindern nicht dadurch unnötig hinauszuzögern, daß hiefür erst ein Entscheidungsträger bestellt werden müsse, sei aus Gründen der Vorsicht auch für diesen Bereich der Jugendwohlfahrtsträger, der in seiner Stellungnahme vom 25.April 1995 ausdrücklich zugestimmt habe, als Sachwalter zu bestellen, zumal eine hiefür geeignete, in § 145 ABGB genannte verwandte Person am künftigen Aufenthaltsort der Minderjährigen nicht zur Verfügung stehe. Der Behauptung des Rechtsmittelwerbers, die Mutter sei zur Betreuung der Minderjährigen ungeeignet, weil sie den Anordnungen des Gerichts nicht Folge geleistet, mit den Kindern Veranstaltungen der Zeugen Jehovas besucht und trotz gerichtlicher Anordnung, die Kinder herauszugeben, diese dem Vater nicht zurückgebracht habe, sei nicht stichhältig, weil beide Kinder bestimmt erklärt hätten, den katholischen Glauben auch weiterhin beizubehalten, und gegen ihren Willen nun nicht mehr zu einem Glaubenswechsel gezwungen werden könnten. Insgesamt sei indessen ohnedies die Frage der Religionszugehörigkeit von der Betreuungsebene zu trennen. Zur Vermeidung einer Gefährdung des Kindeswohls sei es erforderlich, letztlich den Wunsch der Kinder zu achten, bei ihrer Mutter bleiben zu dürfen. Dieser Wunsch habe nichts mit der Religionszugehörigkeit der Mutter oder einer religiösen Beeinflussung der Minderjährigen durch sie zu tun, sondern entspringe der ausgeprägten emotionalen Bindung der beiden Minderjährigen an sie. Es habe sich auch kein Anhaltspunkt ergeben, daß die Kinder nach dem von ihnen erzwungenen Betreuungswechsel nach wie vor leiden würden. Ihre schulischen Leistungen hätten sich im Schuljahr 1994/95 verbessert, sie hätten sich in ihre Klassengemeinschaft eingegliedert und fühlten sich insgesamt wohl, zumal die Mutter die Kinder im Sinne des Erfordernisses auch einer psychotherapeutischen Betreuung zugeführt habe. Es lägen sohin keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, daß eine Beeinträchtigung der künftigen Entwicklung der Kinder zu befürchten sei; im Gegenteil sei durch die nunmehrige Situation eine durchaus vorteilhafte geistige und berufliche Entwicklung der Kinder zu erwarten. Es lägen deshalb ausreichende Gründe dafür vor, daß dem Vater die Obsorge entzogen und diese in eingeschränktem Umfang der Mutter übertragen werde.

Der Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der behauptete Verfahrensmangel liegt, wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat, nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

Die mit der Entziehung der Elternrechte verbundene (vgl 5 Ob 513/95) Übertragung der Obsorge auf den anderen Elternteil ist nach ständiger Rechtsprechung (JBl 1992, 639 = EvBl 1993/13 = ÖA 1993, 26; SZ 65/84 = JBl 1992, 780 uva, zuletzt 5 Ob 513/95; Pichler in Rummel 2 § 177 ABGB Rz 2) nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB - die Gefährdung des Kindeswohls - zutreffen, der Obsorgeberechtigte demnach die elterlichen Pflichten subjektiv gröblich vernachlässigt oder wenigstens objektiv nicht erfüllt oder vernachlässigt hat (SZ 53/142 = EFSlg 35.997/3 uva, zuletzt wieder EFSlg 71.835; Pichler aaO § 176 Rz 1). Die Änderung in den Obsorgeverhältnissen darf nur als äußerte Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs angeordnet werden (SZ 65/84 ua; zuletzt wieder 5 Ob 513/95) und bedarf besonders wichtiger Gründe, die im Interesse des Kindes eine so einschneidende Maßnahme dringend geboten erscheinen lassen, weil andernfalls das Wohl des pflegebefohlenen Kindes gefährdet wäre. Typischerweise ist die Entziehung oder Einschränkung der Obsorge im Sinne des § 176 ABGB demnach dann geboten, wenn der das Kind betreuende Elternteil seine Erziehungspflichten vernachlässigt, seine Erziehungsgewalt mißbraucht oder den Erziehungsaufgaben nicht gewachsen ist.

Die grundsätzliche Fähigkeit, seine Kinder zu betreuen und zu erziehen, soll dem Vater nicht abgesprochen werden. Vorkehrungen im Sinne des § 176 ABGB können auch nicht schon dann getroffen werden, wenn die Verhältnisse beim anderen Elternteil zwar an sich besser wären, die Pflege und Erziehung durch den Obsorgeberechtigten aber keinen Anlaß zur Besorgnis bieten (JBl 1992, 639; SZ 65/84 ua). Die begehrte Änderung in den Obsorgeverhältnissen rechtfertigt indessen der Umstand, daß die Minderjährigen - erkennbar aus emotionalen Motiven - den rechtlich gesicherten, jedenfalls aber den faktischen Wechsel in der Obsorge zur Mutter selbst massivst anstrebten (und den faktischen Wechsel in der Folge auch trotz exekutiver Maßnahmen durchsetzten), daß sich der Vater indessen diesen Bestrebungen - trotz der bei den beiden Minderjährigen deshalb aufgetretenen psychosomatischen Symptome - ganz augenscheinlich in Austragung des schweren Konflikts zwischen den Eltern widersetzte. Die von den Vorinstanzen festgestellte psychosomatische Erkrankung der Minderjährigen ist auch ausschließlich darauf zurückzuführen, daß der Vater diesem von seinen Kindern immer wieder vorgetragenen, ganz offenkundig tiefer Sehnsucht nach deren Mutter entsprungenen Wunsch kategorisch entgegentrat; nicht einmal die erforderliche Therapie ließ er ihnen angedeihen.

Nun darf die Meinung der Kinder, bei welchem Elternteil sie bleiben wollen, für sich allein nach herrschender Auffassung trotz der Bestimmung des § 178b ABGB im allgemeinen noch keinen ausschlaggebenden Einfluß auf die Entscheidung über die Obsorgeübertragung nehmen. Die Anhörung der Kinder dient vor allem dazu, daß der Richter die entscheidungswesentlichen Umstände auch aus deren Sicht und deren Empfindungen erkennen und ins klare setzen kann. So wichtig es auch für den Richter ist, sich ein Bild von der Familie bzw den Obsorgeverhältnissen zu machen, entspricht es doch gesicherter psychologischer Erkenntnis, daß die Befragung der Kinder nach ihrer Präferenz für den einen oder anderen Elternteil - abgesehen von der entwicklungspsychologisch erklärbaren Unverläßlichkeit und fehlenden Signifikanz solcher Präferenzäußerungen - die befragten Kinder in hohem Maße überlastet und mit großer Wahrscheinlichkeit in schwere Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle oder gar Vergeltungsängste stürzt, was deren künftige Beziehungen zu beiden Elternteilen schwer belastet und die seelische Entwicklung der Kinder gefährden kann (JBl 1994, 608 = EvBl 1995/23; JBl 1992, 639).

Im vorliegenden Fall liegen die Dinge indessen anders: Die beiden Minderjährigen haben ihren sehnlichen Wunsch, zu ihrer Mutter zu ziehen, nicht bloß immer wieder geäußert, sondern es sind in der Folge, nachdem dieser Wunsch vom Vater ebenso immer wieder abgeschlagen wurde, bei ihnen psychosomatische Beschwerden in einem Maß aufgetreten, das bereits psychotherapeutische Maßnahmen erheischte, ohne daß der Vater dem ernsthafte Bedeutung beigemessen hätte. Schließlich nahmen die beiden Minderjährigen ihr Schicksal selbst in die Hand, ließen sich nach eigenem Entschluß bei der Mutter nieder und widersetzten sich auch allen behördlichen Vorkehrungen, die Rückkehr zum Vater zu veranlassen, erfolgreich. Es wurde bereits wiederholt ausgesprochen, daß ein das Kind gefährdendes Verhalten eines Elternteils schon darin liegen kann, wenn er auf den ihm nach § 177 Abs 2 ABGB zuerkannten Elternrechten in einer die Interessen der Kinder beeinträchtigenden Weise beharrt (EFSlg 59.776, 35.995, 33.603 ua). Das muß wohl insbesondere dann gelten, wenn dieses Beharren bereits zu eine Therapie erfordernden psychosomatischen Beschwerden der Kinder geführt hat. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen auch die wesentlichen Erwägungen der Vorinstanzen, die Kinder hätten die Obsorge durch ihre Mutter derart entschieden angestrebt, daß ihrem bereits faktisch durchgesetzten Wunsch Rechnung zu tragen sei, besonderen Stellenwert. Diese autonome Gestaltung des eigenen Lebens - selbst entgegen gesetzlichem Zwang - ist zweifellos Zeichen einer beträchtlichen Reife der beiden Minderjährigen, die angesichts deren Alters und des Gebots der Erziehungskontinuität nicht mehr vernachlässigt werden darf, auch wenn dieser Zustand rechtswidrigerweise herbeigeführt und letzteres von der Mutter zumindest geduldet wurde: Die Obsorgeentscheidung ist zukunftsbezogene Rechtsgestaltung und nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktueller Sachverhaltsgrundlage beruht (EFSlg 68.806 ua). Schlemmer/Schwimann (in Schwimann, ABGB § 176 Rz 12 mwN) lehnen deshalb die Zuteilung der Obsorge gegen den Widerstand mündiger Minderjähriger ab, sofern der Richter zur Überzeugung gelangt, daß dieser Widerstand auf dessen eigenständiger Willensbildung beruht und nicht auf „Präparierung“ durch den anderen Elternteil zurückzuführen ist. Je älter das Kind ist, umso eher ist jedenfalls sein Wunsch nach einem Obsorgewechsel zu berücksichtigen; in der Entscheidung EFSlg 68.809 wurde demgemäß ausgesprochen, selbst wenn auch die Meinung eines derzeit bereits 14-jährigen Kindes noch nicht ausschlaggebend sein müsse, sollte doch an dessen ernstlich geäußertem Streben nach einem Obsorgewechsel nicht vorbeigegangen werden. Dabei muß auch beachtet werden, daß im Spannungsverhältnis zwischen Elternrechten und dem - richtig beurteilten - Kindeswohl erstere naturgemäß zurückzutreten haben. Nach dem Verhalten der Mutter seit der faktischen Übernahme der beiden Minderjährigen in ihre Pflege und Erziehung kann auch ihre Eignung zur Übernahme der Obsorge nicht verneint werden, zumal sie deren von den Vorinstanzen angeordneten Einschränkungen nicht entgegengetreten ist.

Daher ist - bei richtigem Verständnis des Wohls und der Interessen der beiden Minderjährigen - der von den Vorinstanzen angeordnete Obsorgewechsel zur Mutter zu billigen.

Entgegen der Auffassung des Vaters haben die Vorinstanzen - versteht man ihre Entscheidungen richtig - die Teilung der Obsorge nicht verfügt. Nach § 177 ABGB ist unter anderem bei der Scheidung auszusprechen, welchem Elternteil die Obsorge allein zukommt. Die Zuteilung an einen Elternteil ist eine vorweggenommene Regelung für den Streitfall zum Wohl des Kindes, der solange keine Bedeutung zukommt, als die Eltern einvernehmlich vorgehen. Der Verfassungsgerichtshof erachtete deshalb die Bestimmung des § 177 ABGB auch vor dem Hintergrund des Art 8 EMRK als verfassungskonform (VfSlg 12.103/1989; jüngst wieder ÖJZ 1996, 110). Der Oberste Gerichtshof verneinte ganz überwiegend die Möglichkeit einer Zuteilung der Obsorge an beide voneinander getrennt lebenden Elternteile; alle Elternrechte müßten vielmehr zum Wohl des Kindes in einer Hand vereint werden bzw bleiben (JBl 1994, 114 mit Anm von Pichler = ÖA 1994, 28 = EFSlg 71.874 mwN zum Stand der Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall haben die Vorinstanzen zwar dem Entscheidungswortlaut zufolge die Obsorge teils der Mutter, teils dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen, inhaltlich ist diese Anordnung aber - zumal letzterer gar kein Elternteil ist - nicht als Teilung der (Personen-)Obsorge (vgl dazu SZ 53/23; für den vergleichbaren deutschen Rechtsbereich [§ 1671 Abs 4 BGB] Hinz in MünchK3 § 1671 BGB Rz 21), sondern als Zuteilung der Obsorge (allein) an die Mutter unter gleichzeitiger Einschränkung in den genannten Teilbereichen wegen Gefährdung des Kindeswohls und Bestellung eines Sachwalters in diesem Umfang zu beurteilen (vgl dazu auch Pichler, Die Kinder der Zeugen Jehovas - Probleme der Obsorgezuteilung und der Bluttransfusion, in ÖA 1994, 171, 173). Nach Auffassung des erkennenden Senats können die aus der Obsorge erfließenden Befugnisse des Elternteils schon bei deren Zuteilung an ihn (aber auch beim Wechsel der Obsorge zu ihm) unter den Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB zum Wohl des Kinds eingeschränkt und kann in diesem Umfang ein Sachwalter bestellt werden (so auch Pichler, Probleme der gemeinsamen Obsorge, in ÖJZ 1996, 92, 96). Im vorliegenden Fall entspricht die vom Erstgericht vorgenommene Einschränkung, die allerdings - da mittlerweile beide Minderjährige religionsmündig (§ 5 RelKEG) geworden sind - ihrer Relevanz entkleidet wurde, dem Antrag der Mutter. Die durch das Rekursgericht angeordnete weitere Einschränkung blieb von der Mutter unbekämpft. Zur Verdeutlichung des Punktes 2 des erstinstanzlichen Beschlusses brachte der erkennende Senat diese Anordnung im Sinne der vorstehenden Erwägungen in Einklang mit der maßgeblichen Rechtslage, ohne daß deshalb - wie erwähnt - damit eine inhaltliche Änderung verbunden wäre; in diesem Umfang wurde die vorinstanzliche Entscheidung mit einer entsprechenden Maßgabe bestätigt.

Angesichts dieser Einschränkungen der Obsorge der Mutter erübrigt sich eine Stellungnahme zu den weitwendigen Ausführungen des Rechtsmittelwerbers über die Wesenszüge der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas und den durch Unterlassung der Beiziehung eines Sachverständigen angeblich unterlaufenen Verfahrensmangel. Es soll im übrigen nicht verhehlt werden, daß sich der Erstrichter mit diesen Fragen ohnehin eingehend auseinandersetzte und die Besonderheiten dieser Glaubensgemeinschaft und deren allfälligen Einfluß auf die Minderjährigen umfassend darstellte.

Dem Revisionsrekurs ist deshalb ein Erfolg zu versagen.

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