Spruch:
Leibrenten-, Ausgedings- und Unterhaltsverträge sind Glücksverträge.
Glücksverträge können als wucherisch oder sittenwidrig angefochten werden.
Entscheidung vom 14. November 1951, 1 Ob 772/51.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien.
Text
Das Erstgericht hat das Begehren der Kläger, festzustellen, daß der zwischen den Streitteilen abgeschlossene Übergabs- und Leibrentenvertrag vom 13. Juni 1938 nichtig sei, abgewiesen. Die Kläger haben in diesem Vertrag den Beklagten auf Lebensdauer ein Wohnungsrecht, vierteljährlich die Leistung von 300 kg Weizen und 300 kg Korn und jährlich von den Erträgnissen eines Weingartens 100 l Wein versprochen.
Das Berufungsgericht bestätigte das erstgerichtliche Urteil.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der klagenden Partei nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Revision befaßt sich vor allem mit der Frage, ob in dem als nichtig angefochtenen Vertrag eine Leibrente, ein Ausgedinge oder eine Unterhaltsleistung versprochen wurde. Doch ist die Lösung dieser Frage belanglos. Denn alle drei der hier genannten Verträge haben das eine gemeinsam, daß jemand sich zu fortdauernden Leistungen auf die Lebenszeit einer anderen Person verpflichtet. Dies läßt alle drei Vertragsgattungen als Glücksverträge erscheinen. Ob die fortdauernden Leistungen von vornherein bestimmt oder nur bestimmbar sind, ob ihr Ausmaß auch noch von anderen, im vorhinein nicht sicher zu bestimmenden Umständen abhängt, ändert an dem Charakter der Verträge als Glücksverträge nichts, im Gegenteil, sie sind darum nur noch mit mehr Recht als Glücksverträge zu bezeichnen, weil der Vorteil, den die Berechtigten aus dem Vertrage ziehen werden, nur noch ungewisser ist. Ehrenzweig (II/1, S. 569) erklärt wohl, daß die Vorschriften über Leibrenten auf Ausgedingsrechte nur soweit angewendet werden können, als die Natur des Ausgedingsvertrages dies gestattet. Nun spricht die Natur des Ausgedingsvertrages deutlich für die Anwendbarkeit der allgemeinen Bestimmungen über den Glücksvertrag. Daß Übergabsverträge gegen Gewährung eines Ausgedingsrechtes einen aleatorischen Charakter tragen, hat der Oberste Gerichtshof schon zu 3 Ob 535/50 ausgesprochen. Es finden also die Bestimmungen über die Schadloshaltung wegen Verkürzung über die Hälfte auf den angefochtenen Vertrag keine Anwendung, wie immer man ihn auch qualifiziert, weil er Leistungen zum Gegenstand hat, deren Ausmaß von der Lebensdauer der Beklagten abhängt, so daß er jedenfalls als Glücksvertrag zu bezeichnen ist.
Anders steht es mit der Anfechtung wegen Unsittlichkeit oder Wucher nach § 879 ABGB. Denn auch bei Glücksgeschäften läßt sich ein Mißverhältnis zwischen den beiderseitigen Leistungen feststellen, wenn ein durchschnittlicher Wert der unbestimmten Leistung unter Heranziehung der Wahrscheinlichkeitsregeln festgestellt werden kann. Das ist bei allen Leistungen der Fall, die auf die Lebensdauer eines Menschen abgestellt sind. Leibrenten können ja auch bei damit befaßten Anstalten gegen einen festen Preis erworben werden. Wenn also derart abschätzbare, wenn auch an sich unbestimmte Leistungen um einen unverhältnismäßig niederen Preis wucherisch oder unter Umständen, die den Voraussetzungen des Wuchers nahekommen, erworben werden, so läßt sich der Vertrag trotz seines aleatorischen Charakters als wucherisch oder unsittlich anfechten. So hat der Oberste Gerichtshof bereits in 2 Ob 411/50 ausgesprochen, daß sich auch beim Verkauf gegen eine wertgesicherte lebenslängliche Rente und freie Kost und Verpflegung beurteilen läßt, ob ein reiner Kaufvertrag vorliege, oder ob er nicht doch auch teilweise eine Schenkung darstellt, und in dieser Entscheidung wird die Anwendbarkeit des § 879 Z. 4 ABGB. nur abgelehnt, weil die sonstigen Voraussetzungen des Wuchers offensichtlich nicht gegeben waren.
Das Berufungsgericht geht also von einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung aus, wenn es bei Glücksverträgen die Anfechtung als wucherisch oder unsittlich ausschließen will. Allerdings wirkt sich bei der vorliegenden Entscheidung des Berufungsgerichtes dieser Rechtsirrtum im Endergebnis nicht aus. Die Revision behauptet zwar, daß die Voraussetzungen für die Annahme eines wucherischen Geschäftes gegeben seien, sie führt jedoch im einzelnen nicht aus, welche dieser Voraussetzungen sie im bisherigen Verfahren als festgestellt erachtet. Aus den Feststellungen der Untergerichte läßt sich aber keine einzige dieser Voraussetzungen ableiten. Das Berufungsgericht hat ebenso wie das Erstgericht daran festgehalten, daß es nicht erwiesen sei, der Erstkläger habe sich beim Vertragsabschluß deswegen in einer Zwangslage befunden, weil der Beklagte erklärt hätte, er wolle bei der Raiffeisenkasse für ein Darlehen von 3.000 S nicht weiter Bürgschaft leisten. In gleicher Weise hat das Berufungsgericht die Annahme abgelehnt, der Erstkläger habe sich bei Abschluß des Vertrages infolge Alkoholgenusses in einer Gemütsaufregung befunden. Da es an den sonstigen Voraussetzungen für den Wucher fehlt, spielt auch ein allfälliges Mißverhältnis zwischen den Leistungen keine Rolle.
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