OGH 11Os124/23d

OGH11Os124/23d16.1.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Jänner 2024 durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Drach als Schriftführerin in der Strafsache gegen A*, Ja*, S*, M*, Sh* und Ah* wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigen Person nach § 205 Abs 1, Abs 3 vierter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der genannten Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft in Ansehung aller Angeklagter gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 31. März 2023, GZ 41 Hv 21/22m‑338, weiters über die Beschwerden der Angeklagten A*, Ja* und S* gegen Beschlüsse nach § 494a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0110OS00124.23D.0116.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Sexualdelikte

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerden werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Den Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurden A*, S*, M*, Sh* und Ah* je eines Verbrechens, Ja* zweier Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigen Person nach § 205 Abs 1, Abs 3 vierter Fall StGB schuldig erkannt.

[2] Danach haben sie im Zeitraum 21. bis 24. Februar 2022 in B* im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) J*, die aufgrund ihres starken Alkoholkonsums sowie aufgrund ihrer psychischen Verfassung wehrlos und unfähig war, die Bedeutung der Vorgänge einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass sie mit ihr bzw an ihr den Beischlaf bzw dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen vornahmen, wobei J* in besonderer Weise erniedrigt wurde, indem A*, S* sowie Sh* einmal den Analverkehr, Ja* zwei Mal den Analverkehr sowie M* und Ah* einmal den Vaginalverkehr mit ihr vollzogen.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richten sich die auf Z 3 und 5 (A*); Z 11 (Ja*); Z 5, 10 und 11 (S*); Z 2, 4, 5, 5a und 9 lit a (M*); Z 3, 5 und 11 (Sh*) sowie Z 2 und 5 (Ah*) des § 281 Abs 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des A*:

[4] Die Verfahrensrüge (Z 3) behauptet eine Vermengung der „jeweils zu individualisierenden Sprüche bezüglich aller Angeklagten untereinander“, weswegen der Tenor „nicht den formellen Mindesterfordernissen eines formell rechtsfehlerfreien Spruchs Rechnung“ trage, macht aber nicht klar, inwiefern eine Mittäterschaft des A* am sexuellen Missbrauch der J* durch die Zuordnung des einmaligen Vollzugs von Analverkehr in dem im Urteilstenor angegebenen Tatzeitraum nicht zur verwechslungsfreien Beschreibung der ihm vorgeworfenen Handlung ausreichen sollte (RIS‑Justiz RS0116587, RS0120334, RS0117435).

[5] Mit eigenständigen Erwägungen zum Beweiswert der Angaben des Opfers – welchem das Erstgericht eine „hohe Glaubwürdigkeit“ zumaß (US 31 f, 35) –, dem Einwand des Fehlens objektiver Beweisergebnisse zu dessen „Zustand“ zum Tatzeitpunkt und der Berufung auf den Zweifelsgrundsatz (vgl dazu RIS‑Justiz RS0102162) zeigt die Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) jeweils kein Begründungsdefizit auf, sondern bekämpft nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld die tatrichterliche Beweiswürdigung (RIS‑Justiz RS0106588; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 450 f).

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Ja*:

[6] Die das Vorliegen der Rückfallsvoraussetzungen nach § 39 Abs 1 StGB bestreitende Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall) übersieht zunächst, dass insoweit stets eine einzelfallbezogene Prüfung dahin vorzunehmen ist, ob das zu beurteilende Verhalten – kriminologisch betrachtet – gleichartig im Sinn des § 39 Abs 1 StGB iVm § 71 StGB ist (RIS‑Justiz RS0092047, RS0092107, RS0092020; Flora in WK2 StGB § 39 Rz 20 ff; Jerabek/Ropper in WK2 StGB § 71 Rz 2 und 5). Sie legt nicht dar, weshalb Suchtmitteldelinquenz in Form des Anbietens oder der Weitergabe von Suchtgift an Dritte (hier: § 27 Abs 2a SMG) als gegen die menschliche Gesundheit und körperliche Integrität gerichtete, mit Strafe bedrohte Handlung nicht auf der gleichen schädlichen Neigung beruhen sollte wie die urteilsgegenständliche Sexualstraftat (RIS-Justiz RS0092151; vgl auch Flora in WK² StGB § 39 Rz 22).

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des S*:

[7] Indem die Mängelrüge einen – sich auch auf den entsprechenden Vorsatz des Beschwerdeführers auswirkenden – Widerspruch (der Sache nach Z 5 dritter Fall) darin erblickt, dass das Schöffengericht einerseits von einer sexuellen Selbstbestimmungsunfähigkeit der J* ausging (US 18), andererseits aber deren Bekundungen, Geschlechtsverkehr mit den Angeklagten nicht zu wollen, feststellte (US 16 f), übersieht sie, dass das objektive Tatbild des § 205 Abs 1 zweiter Fall StGB eine vollständige Aufhebung der Willenstätigkeit im Sinn einer Zurechnungsunfähigkeit oder vollen Berauschung des Opfers gar nicht verlangt. Es genügt, wenn dieses nicht in der Lage ist, durch verstandesmäßige Erwägungen über den eigenen Körper in geschlechtlicher Hinsicht zu verfügen und dem an es gestellten Verlangen mit freier Entscheidung zu begegnen (vgl US 18: „… sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit [war] insoweit aufgehoben ...“; RIS‑Justiz RS0120166, RS0095091; Philipp in WK² StGB § 205 Rz 9).

[8] Weil solcherart bereits ein auf einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung gründender Mangel an sexueller Dispositionsfähigkeit die Selbstbestimmungsfähigkeit ausschließt (arg: „… oder nach dieser Einsicht zu handeln“) spricht die eine Unterstellung des Sachverhalts unter § 205a StGB reklamierende – prozessordnungswidrig die Feststellungen des Erstgerichts bloß bestreitende (RIS‑Justiz RS0099810; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 581) – Subsumtionsrüge (Z 10) mit der verbalen Ablehnung des Geschlechtsverkehrs durch das Opfer und Erwägungen zu dessen Alkoholisierungsgrad keine entscheidenden Umstände an. Im Übrigen war das Opfer nach den Urteilsfeststellungen (US 32 ff, 36 f, 40) – vom Vorsatz des Beschwerdeführers umfasst – ohnehin wehrlos im Sinn des ersten Falls des § 205 Abs 1 StGB (zur Abgrenzung der beiden – alternativen – Tatbestandsvarianten dieser Bestimmung und zu deren Verhältnis zueinander siehe 11 Os 108/18v; Hinterhofer SbgK § 205 Rz 24 ff).

[9] Der Einwand (nominell „Z 11“), dem Nichtigkeitswerber könne mangels Feststellbarkeit des exakten Zeitpunkts der jeweiligen Tathandlungen ein Tatzeitraum über mehrere Tage nicht aggravierend angelastet werden (vgl US 43 „verstärkte Tatbildmäßigkeit“), bringt lediglich ein Berufungsvorbringen (RIS‑Justiz RS0099869) zur Darstellung.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des M*:

[10] Die Verfahrensrüge (Z 2, der Sache nach Z 3) behauptet eine Verletzung des § 252 Abs 1 StPO, weil das Gericht Aktenstücke, in denen Angaben des Opfers wiedergegeben werden, trotz Widerspruchs des Rechtsmittelwerbers in der Hauptverhandlung verlesen habe (ON 337 S 28 f). Sie scheitert schon daran, dass ein nichtigkeitsbegründendes Unmittelbarkeitssurrogat nicht vorliegt, wenn sich ein Zeuge – wie hier J* (ON 156.20 S 1 f) – bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung auf frühere Aussagen berufen hat (vgl ON 337 S 4 – RIS‑Justiz RS0110150). Das von der Rüge ebenfalls angesprochene „Ambulanzblatt“ (richtig: der Arztbrief, der im Übrigen keine konkreten Angaben des Opfers zur Sache enthält) des Landeskrankenhauses R* (ON 169) fällt demgegenüber ohnedies unter das Vorkommensgebot des § 252 Abs 2 StPO, das ohne Einverständnis des Beschwerdeführers zu verlesen war (RIS‑Justiz RS0132011, RS0099246; vgl Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 11 und 123 f).

[11] Der in der Hauptverhandlung am 29. März 2023 gestellte Beweisantrag auf Vernehmung einer Polizei-beamtin als Zeugin „zum Beweis dafür, dass J* ihr Einverständnis zum Geschlechtsverkehr mit dem Viertangeklagten geben konnte“, weil sich „aus dem Aktenvermerk vom 8. März 2022“ ergäbe, dass die Zeugin unmittelbare Wahrnehmungen zu deren „Alkoholisierungszustand“ haben konnte (ON 336 S 28 f), durfte der weiteren Verfahrensrüge (Z 4) zuwider ohne Verletzung von Verteidigungsrechten abgewiesen (ON 336 S 29) werden. Er ließ nämlich nicht erkennen, welchen für die Schuld- oder Subsumtionsfrage erheblichen tatsächlichen Umstand (RIS-Justiz RS0097540) er betreffen soll, über den die Zeugin berichten könnte. Das in der Rechtsmittelschrift als Versuch einer Antragsfundierung erstattete Vorbringen ist prozessual verspätet und damit unbeachtlich (RIS-Justiz RS0099618, RS0099117; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 325).

[12] Indem sowohl Mängel- (nominell aus Z 5 erster, zweiter und vierter Fall – zu den Anfechtungskriterien vgl RIS‑Justiz RS0089983, RS0118316, RS0099599, RS0104976, RS0099507, RS0098778, RS0099419) als auch Tatsachenrüge (Z 5a – zum Bezugspunkt vgl RIS‑Justiz RS0099668, RS0118780, RS0099674, RS0119583) einzelne Verfahrensresultate zum zeitlichen Ablauf der Geschehnisse sowie zum fehlenden Einverständnis des Opfers (US 17), dessen aufgehobener Selbstbestimmungsfähigkeit und besonderer Erniedrigung (US 18) eigenständig interpretieren und daraus – teils in Verbindung mit dessen leichtgradiger Intelligenzminderung (vgl dazu US 19) – für den Rechtsmittelwerber in objektiver und subjektiver Hinsicht günstigere Schlüsse ziehen als sie das Schöffengericht – logisch und empirisch einwandfrei – aus der vom Rechtsmittelwerber prozessordnungswidrig übergangenen (RIS-Justiz RS0119370; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 487) Gesamtschau der Beweisergebnisse abgeleitet und eingehend dargelegt hat (vgl US 28 bis 40), erschöpfen sie sich in bloßer Beweiswürdigungskritik nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.

[13] Die auf Grundlage der dadurch erlangten urteilsfremden Sachverhaltsbasis erstattete Rechtsrüge (Z 9 lit a) geht von vornherein fehl, weil deren Gegenstand ausschließlich der Vergleich des zur Anwendung gebrachten materiellen Rechts, einschließlich prozessualer Verfolgungsvoraussetzungen, mit dem festgestellten Sachverhalt ist. Die gesetzesgemäße Ausführung eines materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgrundes hat daher das Festhalten am gesamten im Urteil festgestellten Sachverhalt, dessen Vergleich mit dem darauf anzuwendenden Gesetz und die Behauptung, dass das Erstgericht bei Beurteilung dieses Sachverhalts einem Rechtsirrtum unterlegen ist, zur Voraussetzung (RIS‑Justiz RS0099810).

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Sh*:

[14] Als Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes „insbesondere“ des § 252 StPO kritisiert die Verfahrensrüge (Z 3), dass die im Rahmen der Hauptverhandlung am 31. März 2023 mittels Videokonferenz übertragene Vernehmung der in Deutschland aufhältigen Zeugin J* (ON 337 S 3 ff) nicht vor einem deutschen Gericht, sondern über ein privates Endgerät der Zeugin in deren Privaträumen stattgefunden habe. Dies sei dem Rechtsmittelwerber zum Zeitpunkt seines Einverständnisses zu dieser Art der Befragung „nicht klar“ (siehe aber ON 337 S 3: „Mit Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten via Zoom-Konferenz …“) gewesen, vielmehr hätte die „Beweissicherung“ nur durch eine kontradiktorische Vernehmung gemäß § 165 StPO vorgenommen werden können. Die Rüge übersieht, dass solcherart gerade keine (unter dem Aspekt der von § 252 Abs 1 StPO geschützten Unmittelbarkeit beachtliche) Substituierung der persönlichen Zeugenaussage unter Hintanhaltung von Fragemöglichkeiten der Parteien stattfand (RIS-Justiz RS0112876 [T1]). Die Geltendmachung von Verletzungen des – vom taxativen Katalog der Z 3 nicht erfassten – § 247a Abs 2 StPO aus Z 4 des § 281 Abs 1 StPO hätte hingegen einer entsprechenden, jedoch unterlassenen Antragstellung in der Hauptverhandlung bedurft (vgl Kirchbacher, WK-StPO § 247a Rz 11).

[15] Entgegen der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) haben die Tatrichter weder die leichte Intelligenzminderung des Fünftangeklagten, dessen Persönlichkeitsstörung noch die durch eine Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt eingeschränkte Einsichts- und Steuerungsvermögen unberücksichtigt gelassen (vgl US 19). Dass sie aus diesen Umständen nicht die gewünschten Schlüsse gezogen und nicht jede Passage des Sachverständigengutachtens im Einzelnen gewürdigt haben, stellt den angezogenen Nichtigkeitsgrund nicht her (RIS‑Justiz RS0099455, RS0106642).

[16] Indem die Sanktionsrüge (Z 11 zweiter Fall) mit dem Einwand, es habe kein Tatzeitraum von mehreren Tagen vorgelegen, die Korrektheit der Feststellung dieser Strafzumessungstatsache in Frage stellt, erstattet sie bloß ein Berufungsvorbringen (RIS-Justiz RS0099869).

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Ah*:

[17] In Betreff der Verfahrensrüge (nominell Z 2), die die Verlesung des Aktenvermerks (ON 156.20 S 1 f; ON 337 S 28 f) kritisiert, wird auf die entsprechenden Ausführungen zur Nichtigkeitsbeschwerde des M* verwiesen.

[18] Dass das Opfer (ausschließlich) die Angeklagten A*, Ja* und S* bei einer Wahllichtbildvorlage eindeutig als Täter identifizierte, hat das Erstgericht – der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall, nominell auch fünfter Fall) zuwider – nicht übergangen (US 31 und 33), seine Überzeugung von der Täterschaft (auch) des Sechstangeklagten aber – formell einwandfrei – insbesondere auf die Erstangaben der Zeugin bei ihrer polizeilichen Befragung in Zusammenschau mit den Ergebnissen der molekulargenetischen Untersuchung (US 34) sowie auf das teilweise („50 %“) Geständnis des Rechtsmittelwerbers (US 27) gestützt.

[19] Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerden folgt (§§ 285i, 498 Abs 3 StPO).

[20] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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