OGH 10ObS72/19i

OGH10ObS72/19i25.6.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Günter Hintersteiner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. D*****, vertreten durch Mag. Martin Rützler, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagte Partei Vorarlberger Gebietskrankenkasse, 6850 Dornbirn, Jahngasse 4, wegen Kostenerstattung (Streitwert 7.220 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 12. April 2019, GZ 25 Rs 23/19x‑31, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00072.19I.0625.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die 1947 geborene Klägerin leidet an einem Akustikusneurinom auf der rechten Seite. Die beklagte Vorarlberger Gebietskrankenkasse teilte ihr mit Schreiben vom 26. 2. 2016 mit, dass die von ihr begehrte direkte Kostenübernahme für die Behandlung am Europäischen Cyberknife‑Zentrum in München nicht in Frage komme. Die Cyberknife‑Technologie sei zwar in Österreich nicht verfügbar, es bestehe aber die Möglichkeit, das Akustikusneurinom entweder mit konventioneller Bestrahlung oder mittels Gammaknife zu behandeln. Ein ablehnender Bescheid über die Genehmigung der Behandlung im Ausland erging nicht (nach der Aktenlage wurde von der Klägerin auch kein entsprechender schriftlicher Antrag gestellt; sie hat wegen der Möglichkeit der Kostenübernahme beim chefärztlichen Dienst der beklagten Partei vorgesprochen).

Am 17. 3. 2016 unterzog sich die Klägerin der Cyberknife‑Behandlung im Europäischen Cyberknife‑Zentrum in München, das in keinem Vertragsverhältnis zur beklagten Partei steht. Für diesen – ambulant durchgeführten – Eingriff wurden 7.513,18 EUR verrechnet, die von der Klägerin bezahlt wurden.

Mit Bescheid vom 31. 5. 2016 setzte die beklagte Partei für diese Behandlung eine Kostenerstattung in Höhe von brutto 293,18 EUR fest und wies das Mehrbegehren ab.

Die Klägerin begehrt 7.220 EUR an restlicher Kostenerstattung.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, dass für das Akustikusneurinom eine ausreichende und zweckmäßige Behandlung auch in Österreich bei einem Vertragspartner der beklagten Partei durch mikrochirurgische Entfernung oder radiochirurgische Behandlung in angemessener Zeit möglich gewesen wäre. Beide Methoden entsprechen dem Stand der Wissenschaft und stellen für die Klägerin geeignete Behandlungen dar. Die Behandlungsergebnisse sind bei allen Systemen gleich effizient. Die in Österreich noch nicht angebotene Cyberknife‑Behandlung ist die modernste Behandlungsmethode.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und ließ die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der Klägerin ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Das Revisionsvorbringen der Klägerin läuft darauf hinaus, dass bei Inanspruchnahme eines ausländischen Wahlarztes – anders als bei Inanspruchnahme eines inländischen Wahlarztes (§ 131 Abs 1 ASVG) – 100 % der tatsächlichen Kosten einer elektiven Behandlung erstattet werden müssten, weil ansonsten eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit sowie eine „Inländerdiskriminierung“ vorliege.

Dass dieser Standpunkt im europäischen koordinierten Sozialrecht nicht begründet ist, haben die Vorinstanzen bereits ausführlich herausgearbeitet; deren Ansicht kann sich auf die bisherige höchstgerichtliche Rechtsprechung stützen (§ 510 Abs 3 ZPO).

In aller Kürze ist dem nicht leicht nachvollziehbaren Standpunkt der Klägerin noch zu entgegnen:

2. Die Entscheidung des EuGH vom 5. 10. 2010, C‑512/08, erging zu einer Vertragsverletzungsklage der Europäischen Kommission gegen die Französische Republik über die Vorabgenehmigung der Kostenerstattung für in einem anderem Mitgliedstaat (oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum) erbrachte medizinische Dienstleistungen außerhalb eines Krankenhauses, die den Einsatz von Großgeräten erfordern. In Rz 4 dieser Entscheidung gab der EuGH im Rahmen der Darlegung des rechtlichen Rahmens die französische Rechtslage wieder. Unter anderem wurde Art R 332‑4 des Code de la sécurité sociale zitiert, nach dem der Sozialversicherte zum Erhalt einer derartigen Genehmigung für eine Auslandsbehandlung unter Einsatz eines medizinischen Großgeräts bei seiner Krankenkasse einen Antrag stellt, über den binnen zwei Wochen vom medizinischen Untersuchungsdienst eine Entscheidung getroffen wird. Liegt spätestens zwei Wochen nach Eingang des Antrags keine Antwort vor, gilt die Genehmigung als erteilt.

Demgegenüber steht nach österreichischer Rechtslage im Fall der Säumnis des Sozialversicherungsträgers bei der Bescheiderlassung dem Versicherten eine Säumnisklage an das Arbeits- und Sozialgericht gemäß § 67 ASGG offen. Die von der Klägerin auch für den österreichischen Rechtsbereich gewünschte Rechtsfolge, dass die Säumnis des Sozialversicherungsträgers eine Genehmigung bedeute, ist dem ASVG nicht zu entnehmen und ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des EuGH.

3. Es trifft zu, dass der Grundsatz der freien Arztwahl nicht auf inländische Ärzte beschränkt ist (RS0084805). Solange der Krankenversicherungsträger im Inland eine zweckmäßige und ausreichende Krankenbehandlung zur Verfügung stellt, hat er seiner Verpflichtung zur Sachleistungsvorsorge entsprochen und es besteht in diesem Fall kein Anspruch auf Ersatz der tatsächlichen Kosten einer medizinisch gleichwertigen, allenfalls auch aufwendigeren Therapie im Ausland (RS0073059 [T1 und T6]).

4. Auch mit ihrem Vorbringen, es sei eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit und eine Inländerdiskriminierung gegeben, zeigt die Revisionswerberin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

Das Recht auf Inanspruchnahme einer medizinischen Dienstleistung im Ausland wurde der Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen nicht verwehrt. Ihrem Kostenerstattungsbegehren steht entgegen, dass sie als in Österreich Versicherte Anspruch auf Erstattung der Kosten der Leistungsbeanspruchung im ausländischen Mitgliedstaat in Höhe der Sätze hat, die der zuständige Versicherungsträger nach dem für ihn geltenden Recht (hier: nach österreichischem Recht) zu zahlen gehabt hätte ( Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 20 VO [EG] 883/2004 Rz 35). Es kann somit auf der Grundlage der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) zwar ein im innerstaatlichen Krankenversicherungsrecht entstandener Anspruch mit Hilfe von Leistungserbringern in einem anderen Mitgliedstaat realisiert werden; die Kostenerstattung und ihre Begrenzung sind aber nach dem jeweils nationalen Recht – hier nach österreichischem Recht – zu beurteilen. Die Dienstleistungsfreiheit ändert nichts daran, dass die Kostenerstattung auf jene Leistungen beschränkt bleibt, die auf dem inländischen Behandlungsmarkt erstattungsfähig sind. Der Versicherte hat also Anspruch auf Kostenerstattung nur in Höhe des Betrags, der ihm erstattet würde, wenn die Behandlung in dem für ihn zuständigen Mitgliedstaat erbracht worden wäre (10 ObS 49/12x SSV‑NF 26/50; RS0128141). Eine Verpflichtung zur Übernahme der gesamten im ausländischen Mitgliedstaat entstandenen Kosten leitet der EuGH auch aus der Dienstleistungsfreiheit nicht ab (10 ObS 179/12i SSV‑NF 27/42). Lässt sich ein Versicherter ohne vorherige Genehmigung in einem anderen Mitgliedstaat medizinisch behandeln, so muss er gewärtigen, dass ihm allenfalls eine erhebliche finanzielle Eigenbelastung entsteht (10 ObS 49/12x SSV‑NF 26/50 mwN).

5. Inwiefern eine Inländerdiskriminierung darin liegen soll, dass im Fall einer Auslandskrankenbehandlung im EU‑Raum nicht 100 % der tatsächlichen Behandlungskosten erstattet werden, ist nicht nachvollziehbar. Es ist allein Sache der Mitgliedstaaten, den Umfang des Krankenversicherungsschutzes für jene Versicherten zu bestimmen, die sich ohne vorige Genehmigung zur elektiven medizinischen Versorgung in einen anderen Mitgliedstaat begeben. Wie bereits mehrfach ausgeführt können sie Kostenerstattung nur insoweit verlangen, als das Krankenversicherungssystem des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit eine Deckung garantiert (vgl EuGH C‑385/99, Müller‑Faure und van Riet , Rz 98).

6. Die außerordentliche Revision der Klägerin ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

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