European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00064.22T.0728.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der * 1967 geborene Kläger arbeitete im relevanten Zeitraum als Lagerist. Die Tätigkeit umfasst die tagfertige Warenübernahme der Anlieferungen mit Mengen- und Qualitätskontrolle sowie das Aufteilen und die Feinkontrolle, das Einlagern und das Verbuchen der Ware, die Artikelstammdatenpflege, den Austausch der Europaletten zum Lieferanten, die laufende Optimierung der Lagerplätze, Kontroll- und Inventurarbeiten sowie Reinigungs- und Servicearbeiten und die Wartung der Stapler.
[2] Basierend auf den dargelegten Aufgabenstellungen als Lagerist und nach Abzug von Leerzeiten/Unproduktivzeiten werden bei einem 8‑Stunden Arbeitstag durchschnittlich 1.821 kcal verbraucht. Der Kläger verbraucht daher bei einer Nettoarbeitszeit von 9,75 Stunden 2.219 kcal, bei 8,75 Stunden 1.992 kcal und bei 8,5 Stunden 1.935 kcal. Der Break-Even-Point von 2.000 kcal liegt bei 8,8 Nettoarbeitsstunden. Der Kläger arbeitete nur in den Monaten Dezember 2008 und Jänner 2017 an 15 Arbeitstagen 8,8 Nettostunden.
[3] Mit Bescheid vom 15. März 2021 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass der Kläger bis zum 1. März 2021 insgesamt 464 Versicherungsmonate erworben hat, und lehnte die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1. August 2007 bis 30. Juni 2020 ab.
[4] Der Kläger begehrte die im Zeitraum 1. August 2007 bis 30. Juni 2020 festgestellten Versicherungszeiten als Schwerarbeitszeiten iSd § 1 Schwerarbeitsverordnung festzustellen. Zusätzlich zur Tätigkeit als Lagerist sei er seit 15. Dezember 1995 als Landwirt (und Betriebsführer) tätig, und zwar im Jahresdurchschnitt mit ca drei Stunden täglich für Feldarbeit, Viehbetreuung und Obstbau, welche ebenso eine schwere körperliche Belastung darstellten.
[5] Die Beklagte bestritt. Dem Kläger sei der Beweis nicht gelungen, dass die überwiegende Arbeitszeit als Schwerarbeitszeit zu qualifizieren sei.
[6] Das Erstgericht stellte die Monate Dezember 2008 und Jänner 2017 als Schwerarbeitszeiten iSd § 1 Schwerarbeitsverordnung (SchwerarbeitsV) fest und wies das Klagebegehren im Übrigen ab. Ausgehend vom eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt folgerte es in rechtlicher Hinsicht, dass der Kläger von Dezember 2007 bis Juni 2020 lediglich in zwei Monaten an 15 Tagen Schwerarbeit geleistet habe. Die vom Kläger weiter behauptete Tätigkeit als nach dem BSVG versicherter Landwirt sei nicht zu berücksichtigen, weil bei Ausübung mehrerer Tätigkeiten neben- oder nacheinander jede dieser Tätigkeiten für sich die Kriterien des § 1 Abs 1 Schwerarbeitsverordnung erfüllen müsse.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Es schloss sich der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts unter Berufung auf die höchstgerichtliche Rechtsprechung an.
[8] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, in der er die Abänderung der Urteile der Vorinstanzen im Sinn einer gänzlichen Stattgebung der Klage, hilfsweise deren Aufhebung beantragt.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die – nach Freistellung der Revisionsbeantwortung von der Beklagten beantwortete – Revision des Klägers ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
[10] 1.1. Der Oberste Gerichtshof ging in den Entscheidungen 10 ObS 89/18p (SSV-NF 32/73 = DRdA 2019/50, 527 [Bell] = ZAS 2019/50, 281 [Heckenast]) und 10 ObS 84/20f davon aus, dass bei überschneidender Ausübung mehrerer (selbständiger oder unselbständiger) Tätigkeiten für den Erwerb eines Schwerarbeitsmonats iSd § 4 SchwerarbeitsV nur jene Tätigkeiten zu berücksichtigen seien, die (für sich) besonders belastende Tätigkeiten gemäß § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV sind (RIS‑Justiz RS0132473). Im Fall von bei Einzelbetrachtung unterschiedlichen Tätigkeiten gingen die genannten Entscheidungen bei der Prüfung, ob der Arbeitskalorienverbrauch nach § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV erreicht wurde, davon aus, dass auch diese Voraussetzung für jede Tätigkeit gesondert zu prüfen sei.
[11] 1.2. Die gegen diese Rechtsprechung in der Literatur vorgetragene Kritik (Greifeneder/Scharinger, Schwerarbeit – Vorliegen von schwerer körperlicher Arbeit bei Mehrfachversicherten, ÖZPR 2022/25, 43) gibt Anlass für eine neuerliche Auseinandersetzung mit den darin vorgetragenen Argumenten.
[12] 2.1. Bei der „Schwerarbeitspension“ handelt es sich um eine Form der Alterspension, bei der Zeiten unter körperlich oder psychisch besonders belastenden Bedingungen besonders berücksichtigt werden sollen (ErläutRV 653 BlgNR 22. GP 3 und 9). Motiv war dabei die Schaffung eines Ausgleichs der durch belastende Tätigkeiten verursachten verminderten Lebenserwartung durch Ermöglichung eines privilegierten Pensionsantritts (Rainer/Pöltner in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 4 APG Rz 82, 127; Pinggera, Schwerarbeitspension – Bilanz und Ausblick, DRdA 2010, 378 [379, 382]). Bei Vorliegen solcher „Schwerarbeitszeiten“ (in bestimmtem Ausmaß) soll die Alterspension bereits vor Erreichen des Regelpensionsalters beansprucht werden können, wenn bestimmte weitere Voraussetzungen (idR ein bestimmtes Alter und ein bestimmtes Ausmaß von [weiteren] Versicherungsmonaten) erfüllt sind (s § 607 Abs 14 ASVG, § 298 Abs 13a GSVG, § 287 Abs 13a BSVG, § 4 Abs 3 APG; vgl auch § 15b BDG, § 2a BB‑PG, § 2e Bundestheaterpensionsgesetz).
[13] 2.2. Schwerarbeitszeiten nach den zitierten gesetzlichen Bestimmungen sind Beitrags- bzw Versicherungsmonate aufgrund von Tätigkeiten, die unter körperlich oder psychisch besonders belastenden Bedingungen erbracht wurden (§ 607 Abs 14 ASVG, § 298 Abs 13a GSVG, § 287 Abs 13a BSVG; ähnlich auch § 4 Abs 4 APG: Schwerarbeit „unter psychisch oder physisch besonders belastenden Arbeitsbedingungen“). Die Feststellung, welche Tätigkeiten bzw (nach § 4 Abs 4 APG) Arbeitsbedingungen als in diesem Sinn besonders belastend gelten, überließ der Gesetzgeber jeweils einer Festlegung durch Verordnung.
[14] 2.3.1. § 1 Abs 1 der aufgrund der § 607 Abs 14 ASVG, § 298 Abs 13a GSVG, § 287 Abs 13a BSVG und § 4 Abs 4 APG erlassenen Verordnung der Bundesministerin für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz über besonders belastende Berufstätigkeiten (SchwerarbeitsV, BGBl II 2006/104 idF BGBl II 2019/413) definiert als „besonders belastende Berufstätigkeiten“ alle Tätigkeiten, die geleistet werden
1. in Schicht- oder Wechseldienst auch während der Nacht (unregelmäßige Nachtarbeit), das heißt zwischen 22 Uhr und 6 Uhr, jeweils im Ausmaß von mindestens sechs Stunden und zumindest an sechs Arbeitstagen im Kalendermonat, sofern nicht in diese Arbeitszeit überwiegend Arbeitsbereitschaft fällt, oder
2. regelmäßig unter Hitze oder Kälte im Sinne des Art. VII Abs 2 Z 2 und 3 des Nachtschwerarbeitsgesetzes (NSchG), BGBl. Nr. 354/1981 oder
3. unter chemischen oder physikalischen Einflüssen im Sinne des Art. VII Abs. 2 Z 5, 6 und 8 NSchG oder
4. als schwere körperliche Arbeit, die dann vorliegt, wenn bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 8.374 Arbeitskilojoule (2.000 Arbeitskilokalorien) und von Frauen mindestens 5.862 Arbeitskilojoule (1.400 Arbeitskilokalorien) verbraucht werden, oder
5. zur berufsbedingten Pflege von erkrankten oder behinderten Menschen mit besonderem Behandlungs- oder Pflegebedarf, wie beispielsweise in der Hospiz- oder Palliativmedizin, oder
6. trotz Vorliegens einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (§ 14 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970) von mindestens 80%, sofern für die Zeit nach dem 30. Juni 1993 Anspruch auf Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 nach § 5 des Bundespflegegeldgesetzes, BGBl. Nr. 110/1993, oder nach den Bestimmungen der Landespflegegeldgesetze bestanden hat.
[15] 2.3.2. Auch die weiteren Bestimmungen der Schwerarbeitsverordnung stellen zentral auf den Begriff der „Tätigkeit“ ab, etwa im Zusammenhang mit den Fragen, ob eine bestimmte Tätigkeit als schwere körperliche Arbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV gilt (§ 3 SchwerarbeitsV) oder in welchem Ausmaß eine oder mehrere Tätigkeiten iSd § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV ausgeübt werden muss bzw müssen, um einen Schwerarbeitsmonat zu begründen (§ 4 SchwerarbeitsV).
[16] 2.4.1. Fraglich ist jedoch, was unter dem Begriff der Tätigkeit zu verstehen ist. Er wird weder vom Gesetz noch in der Schwerarbeitsverordnung definiert.
[17] 2.4.2 Im allgemeinen Sprachgebrauch kommen zwei Deutungen in Betracht, nämlich einerseits im (weiteren) Sinn von Tätigsein, Sichbeschäftigen mit etwas (Duden, Deutsches Universalwörterbuch9 1771) bzw Handeln, Wirken, Schaffen, Wirksamkeit (Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch9 1459) oder andererseits im (engeren) Sinn von Arbeit (BMUKK [Hrsg], Österreichisches Wörterbuch43 701; Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch9 1459), Beruf (Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch9 1459) bzw Gesamtheit derjenigen Verrichtungen, mit denen jemand in Ausübung seines Berufs zu tun hat (Duden, Deutsches Universalwörterbuch9 1771).
[18] 2.4.3. Speziell im Bereich des Pensionsversicherungsrechts könnte sich zwar eine an § 255 ASVG orientierte Auslegung (im Sinne eines engeren Verständnisses) anbieten, da § 255 ASVG diesen Begriff ebenfalls kennt. Den Fällen der Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit liegen jedoch andere Regelungsmotive zugrunde (Berufsschutz, Einschränkung der Verweisungsmöglichkeiten bei längerer Ausübung einer Tätigkeit) als der Schwerarbeitspension. Insbesondere waren im Rahmen der Schwerarbeitspension nicht Berufsbilder oder Berufsgruppen als solche als Anknüpfungspunkt gedacht und es sollte weniger entscheidend sein, welchen Beruf die Versicherten ausgeübt haben, sondern es sollte vielmehr auf die besondere Belastung ankommen (Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG [108. ErgLfg] SchwerarbeitsV Anm 2; vgl auch Rainer/Pöltner in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 4 APG Rz 129). Besonders naheliegend ist dies beim Tatbestand des § 1 Abs 1 Z 6 SchwerarbeitsV, bei dem die Qualifikation als Schwerarbeit überhaupt losgelöst von einer konkreten Tätigkeit erfolgt und ausschließlich von einer besonderen Eigenschaft des Versicherten abhängt. Für dieses weitere, von einer Zuordnung zu bestimmten Tätigkeitsbildern losgelöste Verständnis spricht auch § 4 Abs 4 APG, nach dem (nicht Tätigkeiten, sondern) Arbeitsbedingungen einer Festlegung als Schwerarbeit durch die Schwerarbeitsverordnung unterliegen (siehe auch ErläutRV 653 BlgNR 22. GP 3 und 9).
[19] 2.4.4. Dem grundsätzlichen Zweck der Schwerarbeitspension, eine durch besondere Belastung verursachte verminderte Lebenserwartung auszugleichen, entspricht das weitere Begriffsverständnis, das nicht nur Verrichtungen eines bestimmten Berufs, sondern sämtliche vom Versicherten in einem bestimmten Zeitraum tatsächlich (versicherungspflichtig) ausgeübten Verrichtungen umfasst. Die durch die Schwerarbeit verursachte verminderte Lebenserwartung hängt immerhin nicht davon ab, ob die belastenden Verrichtungen einem oder mehreren Berufsbildern (etwa Bäcker, Einzelunternehmer im Lebensmittelhandel oder Taxifahrer bzw Landwirt oder Gemeindewaldaufseher) oder einem oder mehreren Dienstverhältnissen (Versicherungszweigen) zugeordnet werden könnten. Dies steht im Einklang mit der Antwort zur Frage 19. im (von den Krankenversicherungsträgern in Zusammenarbeit mit dem Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und der beklagten Pensionsversicherungsanstalt erarbeiteten) „Fragen-Antwort-Katalog“ zur Schwerarbeitsverordnung, wonach bei mehreren (parallelen) Dienstverhältnissen die Prüfung der Schwerarbeitsmonate durch den Pensionsversicherungsträger im Rahmen eines Feststellungsverfahrens erfolge, wenn bei getrennter Betrachtungsweise bei keinem Dienstverhältnis die Voraussetzungen für das Vorliegen von Schwerarbeit gegeben seien (abrufbar unter https://www.sozialversicherung.at/ cdscontent/load?contentid=10008.555062; abgedruckt auch bei Milisits, Schwerarbeitsverordnung [2008] 50 ff [55]).
[20] 2.4.5. Diesem (weiteren) Verständnis stehen die in der Anlage zur Schwerarbeitsverordnung festgeschriebenen Grundsätze für die Feststellung des Vorliegens einer schweren körperlichen Arbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV nicht entgegen. Diese stellen zwar auf mit einem bestimmten Beruf verbundene Tätigkeiten (Tätigkeitsbilder) ab. Diese Berufslisten sind jedoch nur als Hilfsmittel zur Verfahrenserleichterung im Pensionsfeststellungsverfahren zu betrachten und für die Gerichte nicht bindend (Rainer/Pöltner in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 4 APG Rz 154; Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG [108. ErgLfg] SchwerarbeitsV Anm 7; Milisits, Schwerarbeitsverordnung [2008] 28). Bei Tätigkeiten, die sich keinem Tätigkeitsbild dieser Berufslisten zuordnen lassen, kommt es somit weiter auf die ausgeübte Tätigkeit (und nicht ein bestimmtes Berufsbild) an.
[21] 2.5.1. Nach § 4 SchwerarbeitsV ist ein Schwerarbeitsmonat jeder Kalendermonat, in dem eine oder mehrere Tätigkeiten nach § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV in dem für das Vorliegen eines Versicherungsmonats erforderlichen Ausmaß (also 15 Versicherungstage) ausgeübt wurden, wobei Arbeitsunterbrechungen außer Betracht bleiben, solange die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung weiter besteht. Dabei ist nach der Rechtsprechung die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit ausschlaggebend (RS0130802), dies unabhängig davon, ob die jeweilige Tätigkeit als selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird (10 ObS 117/16b SSV-NF 30/82 = DRdA 2017/43, 400 [Bell]; 10 ObS 89/18p SSV-NF 32/73 = DRdA 2019/50, 527 [Bell] = ZAS 2019/50, 281 [Heckenast]). Es gilt eine tageweise Betrachtung (Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG [108. ErgLfg] SchwerarbeitsV Anm 15), sodass jeder Arbeitstag, an dem eine Tätigkeit nach § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV verrichtet wurde (bzw im Fall einer Arbeitsunterbrechung unter Aufrechterhaltung der Pflichtversicherung: worden wäre), als Tag iSd § 4 SchwerarbeitsV zählt (vgl RS0130802; 10 ObS 151/19g SSV‑NF 34/24; 10 ObS 95/14i SSV‑NF 28/52). Der Arbeitstag ist dabei nicht immer mit dem Kalendertag gleichzusetzen, sondern aus § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV zu ermitteln, sodass etwa auch Nachtdienste einheitlich als ein Arbeitstag zu werten sein können (10 ObS 118/15y SSV‑NF 30/16; 10 ObS 2/15i SSV‑NF 29/8).
[22] 2.5.2. Die tageweise Betrachtung führt zu einer Zusammenrechnung von Schwerarbeits‑Tagen, auch wenn einzelne Tage in unterschiedlichen Versicherungsverhältnissen zurückgelegt oder an einzelnen Tagen jeweils verschiedene Tatbestände nach § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV erfüllt wurden (vgl Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG [108. ErgLfg] SchwerarbeitsV Anm 15).
[23] 2.5.3. In den eingangs (oben Punkt 1.1.) genannten Entscheidungen folgerte der Oberste Gerichtshof aus der Formulierung „eine oder mehrere Tätigkeiten nach § 1 Abs 1“ in § 4 SchwerarbeitsV, dass bei überschneidender Ausübung mehrerer selbständiger oder unselbständiger Tätigkeiten für den Erwerb eines Schwerarbeitsmonats iSd § 4 SchwerarbeitsV nur jene Tätigkeiten zu berücksichtigen seien, die (für sich) besonders belastende Tätigkeiten gemäß § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV sind (RS0132473). Daran ist im Grundsatz weiterhin festzuhalten, weil die Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Ziffern des § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV alternativ („oder“) aufgezählt sind. Die jeweiligen Tatbestandselemente müssen somit je für sich genommen erfüllt sein und können nicht durch Vorliegen von Elementen anderer Tatbestände ausgeglichen werden (VfGH G 20/11, V 13/11 VfSlg 19.530/2011; Milisits, Schwerarbeitsverordnung [2008] 22, 41).
[24] 2.5.4. Dies ist aber nur für eine „tatbestandsübergreifende“ Kombination zwingend; die Kumulierung innerhalb einzelner Ziffern wird dadurch nicht ausgeschlossen. Das oben (Punkt 2.4.4.) erläuterte weite Verständnis des Begriffs der Tätigkeit führt – in Abkehr von der in den Entscheidungen 10 ObS 89/18p (SSV-NF 32/73 = DRdA 2019/50, 527 [Bell] = ZAS 2019/50, 281 [Heckenast]) und 10 ObS 84/20f vertretenen Ansicht – dazu, dass alle (versicherungspflichtigen) Verrichtungen (an einem Arbeitstag) der Prüfung zugrunde gelegt werden müssen, ob dadurch einer der Tatbestände des § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV (an diesem Tag) erfüllt ist (vgl auch Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG [108. ErgLfg] SchwerarbeitsV Anm 15 und Milisits, Schwerarbeitsverordnung [2008] 31 [versicherungsverhältnis-übergreifende Zusammenrechnung]). Die Wendung „eine oder mehrere“ ist dementsprechend auf „Tätigkeiten nach § 1 Abs 1“, also auf unterschiedliche Ziffern (Tatbestände) des § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV zu beziehen (und nicht auf – in diesem Zusammenhang nicht zu unterscheidende – Berufe oder Dienstverhältnisse des Versicherten), wobei ein und dieselbe Zeit freilich immer nur einmal zu zählen ist, auch wenn an einem Tag gleichzeitig unterschiedliche Tatbestände des § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV erfüllt sein sollten.
[25] 2.5.5. Damit wird das – in der Literatur kritisierte (Greifeneder/Scharinger, ÖZPR 2022/25, 43 [45]; Bell, Schwerarbeit quo vadis? DRdA 2019/50, 527 [531]; Heckenast, Körperliche Schwerarbeit bei überschneidender Ausübung mehrerer Tätigkeiten, ZAS 2019/50, 281 [283]) – Ergebnis vermieden, dass je nach Ausübung einer schweren körperlichen Arbeit im Rahmen desselben oder unterschiedlicher versicherungspflichtiger Verhältnisse einmal Schwerarbeit vorliegt und einmal nicht, obwohl die (die Lebenserwartung vermindernde und daher vom Zweck der Schwerarbeitspension erfasste) Auswirkung auf den Körper des Versicherten völlig gleichartig ist. Die Frage, ob ein solcherart differenzierendes Ergebnis verfassungskonform wäre, stellt sich daher nicht mehr.
[26] 2.6.1. Die Beklagte hält dem Kläger in der Revisionsbeantwortung entgegen, dass § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV nicht auf ein bestimmtes Maß an Kalorienverbrauch an einem Tag abstelle. Eine körperliche Schwerarbeit liege bei Männern definitionsgemäß bei durchschnittlich 250 Arbeitskalorien pro Stunde oder bei 2.000 Arbeitskalorien pro acht Stunden. Ein Vergleich der körperlichen Schwerarbeit („Leistung“) setze gleiche Zeiteinheiten voraus. Als besonders belastend werde vom Verordnungsgeber eine Arbeit nur dann betrachtet, wenn diese Arbeit innerhalb einer bestimmten Zeit (nämlich acht Stunden) zu erbringen sei.
[27] 2.6.2. Soweit sich die Beklagte gegen eine tageweise Betrachtung wendet, ist auf die obigen Ausführungen (Punkt 2.5.1.) zu verweisen. Sollte die Beklagte mit ihrem Hinweis auf den durchschnittlichen Kalorienverbrauch pro Stunde und auf die Erbringung der Arbeit innerhalb von acht Stunden die Rechtsansicht vertreten, dass eine schwere körperliche Arbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV nur vorliege, wenn die Arbeit acht Stunden lang ausgeübt werde und pro Stunde durchschnittlich 250 Arbeitskalorien verbraucht würden, ist dem nicht zu folgen. Für die Erfüllung dieses Tatbestands an einem Arbeitstag bedarf es weder eines bestimmten durchschnittlichen stündlichen Kalorienverbrauchs noch einer bestimmten Arbeitszeit; ausschlaggebend ist vielmehr der in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV genannte tatsächliche Gesamtenergieverbrauch, dem gegebenenfalls auch mehr als acht Arbeitsstunden zugrunde zu legen sind (RS0129750). Soweit die Beklagte eine Unterscheidung von Definition der Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV einerseits und der in der Anlage der Schwerarbeitsverordnung beschriebenen Methode zur Erfassung des täglichen Arbeitsenergieumsatzes andererseits fordert, ist die Relevanz dieser Unterscheidung für den hier in Frage stehenden Tätigkeitsbegriff nicht erkennbar.
[28] 3. Ausgehend davon ist für die Frage, ob beim Kläger eine Tätigkeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV vorliegt, nicht nur seine Tätigkeit als Lagerist, sondern auch die weitere von ihm behauptete Tätigkeit als (nach dem BSVG pflichtversicherter) Landwirt zu berücksichtigen.
[29] Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen. Dieses wird der Berechnung der pro Arbeitstag verbrauchten Arbeitskalorien die gesamte versicherungspflichtige Tätigkeit des Klägers (alle von ihm im Rahmen einer Versicherungspflicht ausgeübten Verrichtungen) zugrunde zu legen und sodann zu ermitteln haben, ob die erforderliche energetische Belastung im klagsgegenständlichen Zeitraum an zumindest 15 Tagen im Monat erreicht oder überschritten wurde.
[30] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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