European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00032.15A.1001.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
Der am 4. 8. 1989 geborene Kläger leidet unter Mukoviszidose, die im siebenten Lebensmonat endgültig diagnostiziert wurde. Aufgrund dieser Erkrankung und anderer gesundheitlicher Beeinträchtigungen bezog er bereits als Kind Pflegegeld vom Land Steiermark auf Basis des Steiermärkischen Pflegegeldgesetzes (StPGG). Gegen eine Herabsetzung auf die Pflegegeldstufe 4 brachte der Kläger 2002 eine Klage gegen das Land Steiermark ein. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 10. 12. 2003 wurde das Land Steiermark schuldig erkannt, dem Kläger weiter ein Pflegegeld der Stufe 5 zu zahlen.
Mit Bescheid vom 13. 11. 2013 entzog die beklagte Pensionsversicherungsanstalt dem Kläger das Pflegegeld mit Ablauf des Monats Dezember 2013.
Der Kläger benötigt nach wie vor Hilfe bei der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie bei der Pflege der Leib‑ und Bettwäsche. Zusätzlich braucht er Teilhilfe bei der Zubereitung der Mahlzeiten und Hilfe beim Herbeischaffen von Nahrungsmitteln und Medikamenten. Er ist in der Lage sein Inhalationsgerät selbst zu reinigen. Mobilitätshilfe im weiteren Sinn ist nicht notwendig. Der Kläger kann öffentliche Verkehrsmittel benützen. Bei ihm liegen keine psychischen Beeinträchtigungen vor, die die Notwendigkeit von Motivationsgesprächen mit sich bringen würde.
Mit seiner gegen den Bescheid vom 13. 11. 2013 gerichteten Klage begehrt der Kläger, ihm weiter Pflegegeld zumindest der Stufe 1 in der gesetzlichen Höhe ab 1. 1. 2014 zu zahlen. Auch wenn er mittlerweile das 15. Lebensjahr überschritten habe, habe sich sein Gesundheitszustand im Vergleich zum Gewährungsbescheid in Bezug auf die Mukoviszidose nicht wesentlich gebessert. Eine Verbesserung sei nur im Bereich des Verdauungstraktes eingetreten, was aber auf die seinerzeitige Gewährung von Pflegegeld keinen Einfluss gehabt habe. Er leide auch unter zunehmenden Beschwerden im Bereich des Stützapparates durch eine beginnende Osteoporose. Da Patienten mit seiner Erkrankung auch eine verminderte Lebenserwartung hätten, benötige er Motivationsgespräche. Er könne Behördenwege nicht ohne Hilfe bewerkstelligen. Die chemische Reinigung des Inhalationsgerätes sei ihm medizinisch untersagt.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, dass schon aufgrund der Vollendung des 15. Lebensjahres die Ermittlung des Pflegebedarfs anhand der geänderten Kriterien vorzunehmen sei. Eine neue Einstufung sei daher ohne Vergleich zum Gewährungsgutachten zulässig.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die letzte Gewährung des Pflegegeldes sei 2003 erfolgt. Damals habe der Kläger das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt. Aufgrund der altersbedingt geänderten Kriterien bei der Ermittlung des Pflegegeldes sei eine Neueinstufung erforderlich, ohne dass es auf sonstige geänderte Verhältnisse ankomme. Der Kläger benötige fremde Hilfe für die Zubereitung von Mahlzeiten, die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie für die Pflege der Leib‑ und Bettwäsche. Daraus ergebe sich ein durchschnittlicher Pflegeaufwand von 40 Stunden monatlich. Da damit das im Gesetz normierte Mindestausmaß von durchschnittlich mehr als 60 Stunden monatlich nicht erreicht werde, bestehe kein Anspruch auf Weitergewährung des Pflegegeldes.
Der dagegen erhobenen Berufung des Klägers gab das Berufungsgericht nicht Folge. Es verneinte die geltend gemachte Nichtigkeit sowie die behaupteten Verfahrensmängel. Rechtlich führte es aus, hinsichtlich der Hilfsverrichtungen sehe das Pflegegeldrecht für Erwachsene verbindliche Pauschalwerte vor, eine Über‑ oder Unterschreitung komme nicht in Betracht. Soweit der Kläger zusätzlich erforderliche Hilfeleistungen behaupte, entferne er sich vom festgestellten Sachverhalt. Die Erreichung der im Gesetz genannten Altersgrenze von 15 Jahren führe zwangsläufig zu einer Neufeststellung des Pflegebedarfs ohne Zustandsvergleich mit den seinerzeitigen Verhältnissen, da bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen vor Vollendung des 15. Lebensjahres andere Kriterien heranzuziehen seien, als bei Personen, die das 15. Lebensjahr überschritten hätten.
Die ordentliche Revision erachtete das Berufungsgericht als zulässig, weil zur Frage, ob im Fall der Entziehung eines einem Erwachsenen vor dem 15. Lebensjahr gewährten Pflegegeldes die Voraussetzungen des § 9 Abs 4 BPGG vorliegen müssten, Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle und dieser Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, das Urteil dahingehend abzuändern, dass der Klage stattgegeben wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig, aber nicht berechtigt.
1. Der Beschluss des Berufungsgerichts auf Verwerfung einer Nichtigkeitsberufung ist zufolge der Rechtsmittelbeschränkung des § 519 ZPO unanfechtbar (RIS‑Justiz RS0042925).
2. Auch angebliche Verfahrensmängel erster Instanz können in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0042963). Ob ein in der Berufung behaupteter Verfahrensmangel vom Berufungsgericht zu Recht verneint wurde, ist vom Revisionsgericht auch in Sozialrechtssachen nicht mehr zu prüfen (RIS‑Justiz RS0043061). Dieser Grundsatz kann auch nicht durch die Behauptung, das Berufungsverfahren sei ‑ weil das Berufungsgericht der Mängelrüge nicht gefolgt sei ‑ mangelhaft geblieben, umgangen werden (10 ObS 54/14k mwN).
3. In seiner Rechtsrüge macht der Kläger geltend, das Gesetz enthalte keine Verpflichtung, bei Vollendung des 15. Lebensjahres das Pflegegeld neu zu bemessen. Daraus folge, dass generell auch für Kinder und Jugendliche § 9 Abs 4 BPGG anzuwenden sei und jede Änderung der Pflegegeldgewährung einer wesentlichen Veränderung gegenüber der letzten Gewährungsentscheidung bedürfe. Auch in der Regierungsvorlage zu § 4 Abs 3 bis 7 BPGG sei davon ausgegangen worden, dass bei Vollendung des 15. Lebensjahres der Pflegebedarf ohnehin bereits im Wesentlichen dem eines erwachsenen Behinderten angeglichen sei. Ob es zu einer wesentlichen Veränderung gekommen sei, könne nur nach Einholung eines Vergleichsgutachens beurteilt werden.
Dazu ist auszuführen:
3.1. Mit dem Pflegegeldreformgesetz 2012 BGBl I 2011/58 wurde die Gesetzgebungs‑ und Vollziehungskompetenz für das Pflegegeld mit Wirkung vom 1. 1. 2012 von den Ländern auf den Bund übertragen und damit das Pflegegeld beim Bund konzentriert. Gemäß § 48c Abs 1 BPGG gelten rechtskräftige Entscheidungen, die aufgrund landesgesetzlicher Vorschriften ergangen sind, als Entscheidungen nach diesem Bundesgesetz. In § 48c Abs 2 BPGG wird nochmals klargestellt, dass ein aufgrund landesgesetzlicher Regelung zum 31. 12. 2011 rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld ab 1. 1. 2012 als nach dem BPGG zuerkannt gilt. Dieser Übergangsbestimmung ist der Grundsatz zu entnehmen, dass allein aufgrund des durch das Pflegegeldreformgesetz erfolgten Zuständigkeitswechsels vom Land zum Bund ein Entzug oder eine Herabsetzung des Pflegegeldes nicht erfolgen soll. Ein solcher Entzug oder eine Herabsetzung sind nur dann zulässig, wenn die dafür notwendige wesentliche Veränderung auch nach der Rechtslage vor dem 1. 1. 2012 zum Entzug oder zur Herabsetzung des Pflegegeldes berechtigt hätte (vgl 10 ObS 184/13a; 10 ObS 146/13p, SSV-NF 27/78).
Da die hier interessierenden Bestimmungen des BPGG und des StPGG im Wesentlichen ident sind, kommt dem Zuständigkeitsübergang keine relevante Bedeutung zu.
3.2. Nach § 9 Abs 4 BPGG kann ein rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld entzogen werden, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung wegfällt. Das Pflegegeld ist neu zu bemessen, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt (so auch § 7 Abs 2 StPGG). Da der Zweck des Pflegegeldes darin besteht, pflegebedingte Mehraufwendungen abzudecken, soll dadurch insbesondere gewährleistet werden, dass das Pflegegeld bei Änderungen in der Sach‑ oder Rechtslage entsprechend neu bemessen werden kann (RV 776 BlgNR 18. GP 27). Demnach setzt ein Leistungsentzug grundsätzlich eine wesentliche Veränderung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und in dessen Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs voraus, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht. Ausgehend von den Tatsachengrundlagen ist zu beurteilen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass sich eine Veränderung mit Anspruch auf eine andere Pflegegeldstufe ergeben hat. Dabei sind auch die Änderungen im Pflegebedarf, der für das Ausmaß der Pflegegeldstufe maßgeblich ist, zueinander in Beziehung zu setzen, um daraus ableiten zu können, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist (RIS‑Justiz RS0123144; 10 ObS 150/07t, SSV‑NF 21/88 ua; Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld [2013] Rz 276).
3.3. Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall die Prüfung geänderter Verhältnisse im Zustandsbild des Klägers iSd § 9 Abs 4 BPGG entfallen kann, da nach § 4 Abs 3 Satz 1 BPGG ‑ rein altersbedingt ‑ ab Vollendung des 15. Lebensjahres geänderte Kriterien bei der Ermittlung des Pflegebedarfs maßgebend sind und daher mit Erreichung dieser Altersgrenze generell eine Neueinstufung erforderlich ist (so Greifeneder/Liebhart aaO Rz 688).
§ 4 Abs 3 BPGG sieht vor, dass bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen ist, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (= Differenzpflegebedarf). Die Altersgrenze von 15 Jahren wurde mit der Änderung des BPGG BGBl I Nr 128/2008 eingeführt und trat mit 1. 1. 2009 in Kraft (§ 49 Abs 13 BPGG). Auch das StPGG sah erst aufgrund der Novelle LGBl Nr 7/2010 in § 4 Abs 3 die Altersgrenze von 15 Jahren für die Berücksichtigung des Differenzpflegebedarfs vor. Dieses Gesetz trat mit 1. 7. 2009 in Kraft. Damals war der Kläger schon 19 Jahre alt.
3.4. Allerdings war nach § 4 Abs 3 BPGG (§ 4 Abs 5a StPGG idF LGBl Nr 26/1999) bereits zuvor bei Kindern und Jugendlichen nur der Pflegebedarf zu berücksichtigen, der den gleichaltriger nicht behinderter Kinder übersteigt.
Damit waren bei Kindern und Jugendlichen auch schon vor Einführung der konkreten Altersgrenze andere Kriterien für die Ermittlung des Pflegebedarfs maßgebend als bei Erwachsenen. Die Heranziehung des Differenzpflegebedarfs bedeutet auch, dass eine verpflichtende Übernahme der in den jeweiligen Einstufungsverordnungen vorgesehenen zeitlichen Mindestwerte nicht in Betracht kommt. Die bei Kindern erforderliche konkret-individuelle Prüfung hat für Hilfsverrichtungen dabei nicht nur dann stattzufinden, wenn der Pflegebedarf für eine Hilfsverrichtung den dafür vorgesehenen fixen Zeitwert unterschreitet, sondern gilt in gleicher Weise auch für den umgekehrten Fall, dass der tatsächliche Pflegebedarf diesen Zeitwert überschreitet (RIS‑Justiz RS0115907 [T2, T10]).
Erreicht der Pflegegeldempfänger ein Alter, in dem eine nicht pflegebedürftige Person keiner Betreuung mehr bedarf, ist der Pflegebedarf nach anderen rechtlichen Grundsätzen ‑ nämlich ohne die dargestellten Besonderheiten des Differenzpflegebedarfs ‑ zu beurteilen. Diese Änderung in den rechtlichen Beurteilungskriterien stellt aber eine wesentliche Änderung iSd § 9 Abs 4 BPGG dar, die eine Neubemessung des Pflegegeldes erlaubt, ohne dass eine Gegenüberstellung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und des damit verbundenen Pflegebedarfs zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenem im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegeldes zu erfolgen hätte.
Dass für diesen Übergang vor der Novelle BGBl I Nr 128/2008 keine bestimmte Altersgrenze vorgesehen war, ist im vorliegenden Fall nicht von Bedeutung, da der Kläger zum relevanten Zeitpunkt der letztmaligen Zuerkennung von Pflegegeld 14 Jahre alt war, sein Pflegebedarf daher jedenfalls noch nach den für Kinder und Jugendliche geltenden Kriterien zu bemessen war. Bei der Entziehung war er 24 Jahre alt und daher als Erwachsener zu beurteilen. Insofern unterscheidet sich der gegenständliche Fall auch von dem der Entscheidung 10 ObS 195/03d, SSV‑NF 17/126, zugrundeliegenden Sachverhalt, da der damalige Kläger im Zeitpunkt der Entziehung des Pflegegeldes erst knapp 16 Jahre alt war und nach der damals geltenden Rechtslage noch keine feste Altersgrenze von 15 Jahren für die Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen vorgesehen war. Zu Recht sind daher die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass eine Neubemessung allein aufgrund der für den Pflegebedarf des Klägers nunmehr geltenden anderen rechtlichen Voraussetzungen zulässig ist.
4.1. Soweit sich der der Kläger gegen den von den Vorinstanzen angenommenen Pflegebedarf für die Pflege der Leib‑ und Bettwäsche wendet, ist er darauf zu verweisen, dass das Erstgericht ohnehin von dem in § 2 Abs 3 EinstV vorgesehenen Fixwert von 10 Stunden ausgegangen ist. Auch wenn der Aufwand im Einzelfall diese Fixwerte wesentlich übersteigt, sind die verbindlichen Pauschalwerte zugrunde zu legen, während ein allfällig höherer Aufwand unabgegolten bleibt. Es ist keine konkret-individuelle Prüfung des Hilfsbedarfs anzustellen, sondern der Fixwert ohne jede Abweichung nach oben oder nach unten zugrunde zu legen (10 ObS 99/98a mwN).
4.2. Bei seinen weiteren Ausführungen zum erforderlichen Pflegeaufwand geht der Kläger nicht vom festgestellten Sachverhalt aus. Nach diesem ist es ihm möglich, sein Inhalationsgerät selbst zu reinigen. Er kann Ärzte und Behörden selbst aufsuchen und weist keine psychische Beeinträchtigung auf, die Motivationsgespräche erforderlich macht. Weiters lässt der Kläger unberücksichtigt, dass er nach den maßgebenden Ausführungen des Erstgerichts bei der Zubereitung der Mahlzeiten nur eine Teilhilfe im Ausmaß von 10 Stunden monatlich benötigt.
4.3. Da die Vorinstanzen nach dem festgestellten Sachverhalt zu Recht von einem unter dem gesetzlichen Mindestausmaß liegenden durchschnittlichen Pflegebedarf ausgegangen sind, hat der Kläger keinen Anspruch auf Pflegegeld.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Für einen Kostenersatz nach Billigkeit sind neben rechtlichen (oder tatsächlichen) Schwierigkeiten des Verfahrens auch die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten maßgebend. Berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse, die einen ausnahmsweisen Kostenersatz nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht bescheinigt und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.
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