OGH 10ObS304/02g

OGH10ObS304/02g17.9.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gustav Liebhart (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Manfred T*****, vertreten durch Mag. Martin Mennel, Rechtsanwalt in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Juni 2002, GZ 23 Rs 35/02x-45, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. Dezember 2001, GZ 35 Cgs 156/98b-40, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden abgeändert, sodass die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

"Das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger eine angemessene Integritätsabgeltung zu gewähren, besteht dem Grunde nach im Ausmaß von 20 vH der am 29. 5. 1996 geltenen doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG (unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213a Abs 3 ASVG) zu Recht. Der Beklagten wird aufgetragen, dem Kläger eine vorläufige Zahlung von 6.540,56 EUR binnen 14 Tagen zu erbringen.

Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger die mit 2.027,89 EUR (davon 337,98 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen."

Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger die mit 1.227,50 EUR (davon 204,58 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger wurde am 29. 5. 1996 bei Wartungsarbeiten an einer auf Probebetrieb geschalteten Hohlkörperblasmaschine durch einen Schlitten dieser Maschine verletzt, den ein Arbeitskollege in Betrieb gesetzt hatte. Die Beklagte anerkannte dieses Ereignis als Arbeitsunfall. Dafür erhält der Kläger von der Beklagten auf Grund eines gerichtlichen Vergleichs seit 1. 7. 1998 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 35 vH der Vollrente.

Die Gewährung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213a ASVG wegen der Folgen dieses Arbeitsunfalls wurde mit Bescheid der Beklagten vom 6. 7. 1998 abgelehnt, weil der Arbeitsunfall nicht durch eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden sei und der Grad des Integritätsschadens zum Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente 50 vH nicht erreiche.

Dagegen erhob der Kläger das auf Gewährung einer angemessenen Integritätsabgeltung gerichtete Klagebegehren.

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften liege nicht vor. Der Integritätsschaden betrage höchstens 40 vH und erreiche damit nicht das anspruchsbegründende Ausmaß.

Das Erstgericht erledigte den Rechtsstreit dadurch, dass es die Beklagte schuldig erkannte, dem Kläger aus Anlass seines Arbeitsunfalls vom 29. 5. 1996 eine Integritätsabgeltung nach § 213a ASVG im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, und der Beklagten auftrug, dem Kläger eine vorläufige Zahlung von 90.000 S zu erbringen. Es bejahte eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften und ermittelte den Grad des Integritätsschadens mit 55 vH (Minderung der Erwerbsfähigkeit 35 vH plus mittlere Beeinträchtigung von Körperfunktionen, die nicht bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit berücksichtigt wurde, 5 vH plus schwere Verunstaltung 10 vH plus mittlere unfallsbedingte seelische Störung 5 vH). Bei einem Integritätsschaden von 55 vH betrage die Integritätsabgeltung 20 vH der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG unter Berücksichtigung der Anpassung nach § 213a Abs 3 ASVG. Gemäß § 89 Abs 2 ASGG sei die vorläufige Zahlung mit 90.000 S auszumessen.

Das Berufungsgericht gab der dagegen von der Beklagten erhobenen Berufung nicht Folge. Da der Kläger nicht unterwiesen worden sei, dass die Betriebseinrichtung zwecks Beseitigung der Störung auszuschalten sei, und der Arbeitskollege des Klägers nicht unterwiesen worden sei, sich vor Betätigung des Schaltpults, wodurch sich der Schlitten der Maschine in Bewegung gesetzt habe, ausreichend zu überzeugen, dass sich niemand im Gefahrenbereich befinde, sei gegen § 58 Abs 10 AAV und § 58 Abs 1 AAV verstoßen worden. Die Unterlassung jeglicher Unterweisungen der bei der Beseitigung von Störungen an Betriebseinrichtungen von den damit betrauten Arbeitnehmern zu treffenden Sicherheitsvorkehrungen sei unfallskausal gewesen und eine auffallende Vernachlässigung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, die den Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen habe lassen. Daher sei der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden. Das Berufungsgericht billigte auch den vom Erstgericht ermittelten Grad des Integritätsschadens. Die Revision sei nicht zulässig, weil eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 46 Abs 1 ASGG nicht vorliege. Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem auf die Abweisung des Klagebegehrens gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist - entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts - zulässig, aber nur zum Teil berechtigt. Der Kläger begehrt die Zahlung einer angemessenen Integritätsabgeltung gemäß § 213a ASVG. Es handelt sich dabei um eine Rechtsstreitigkeit über den Bestand und Umfang einer Sozialversicherungsleistung, weshalb eine Sozialrechtssache im Sinn des § 65 Abs 1 Z 1 ASGG vorliegt, bei der jedoch eine einmalige Leistung (§ 213a Abs 2 ASVG) den Streitgegenstand bildet, sodass die Bestimmung des § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auf diesen Fall nicht anzuwenden ist (RIS-Justiz RS0088961).

Der von den Vorinstanzen ermittelte Grad des Integritätsschadens und das Ergebnis des erstgerichtlichen Verfahrens, dass die Integritätsabgeltung 20 vH beträgt, wird in der Revision nicht mehr in Frage gestellt.

Die Entscheidung hängt zunächst von der Lösung der Rechtsfrage des materiellen Rechts ab, ob der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde (§ 213a Abs 1 ASVG). Strittig ist nur noch, ob grobe Fahrlässigkeit vorlag. Die Vorinstanzen haben diese Frage übereinstimmend bejaht. Sie haben dabei die ständige Rechtsprechung auch des erkennenden Senats zum Begriff der groben Fahrlässigkeit (SSV-NF 6/61; 8/64; 8/111; 8/122; 9/9; 9/150; 12/130; 12/150 ua) berücksichtigt. Bereits in der erstgenannten Entscheidung wurde darauf hingewiesen, dass bei der Beurteilung des Verschuldensgrades jeweils die Umstände des Einzelfalles zu prüfen sind. Dieser Rechtssatz wurde in zahlreichen weiteren Entscheidungen wiederholt (vgl RIS-Justiz RS0089215; RS010533 ua). Das Berufungsgericht hat im angefochtenen Urteil ausführlich begründet, warum nach den hiefür maßgebenden Kriterien der Arbeitsunfall des Klägers vom 29. 5. 1996 durch eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvor- schriften verursacht wurde. Darauf geht die Revisionswerberin indes nicht ein. Sie argumentiert lediglich dahin, dass dem Arbeitskollegen, der den Arbeitsunfall des Klägers herbeiführte, nur leichte Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei. Da der für die Einhaltung der Dienstnehmerschutzvorschriften Verpflichtete zwar in aller Regel der Dienstgeber ist, muss in erster Linie dessen Verschulden maßgeblich sein (SSV-NF 8/111, 9/51 = DRdA 1996/30 [Mosler]). Da aber nach § 213a ASVG die erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden sein muss, kommt es für die Anspruchsbegründung nicht darauf an, dass nachgewiesen wird, welche bestimmte Personen den Unfall grob fahrlässig verursacht haben, sondern nur, ob Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig im Rahmen des vom Dienstgeber zu vertretenden und ihm zuzuordnenden Bereiches verletzt wurden (10 ObS 2338/96p). Dazu steht hier fest, dass sowohl von Seiten des Dienstgebers die vorgeschriebene Belehrung über die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen unterlassen wurde, als auch der Arbeitskollege des Klägers die Maschine in Gang setzte, ohne sich davon zu überzeugen, ob sich eine Person im Gefahrenbereich befand. Wenn das Berufungsgericht unter diesen Umständen zum Ergebnis gelangte, dass eine Gesamtbetrachtung ergebe, dass die Verletzung des Klägers die Folge grob fahrlässiger Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften gewesen sei, so ist dieses Ergebnis nicht zu beanstanden.

Anders verhält es sich jedoch mit der im vorliegenden Revisionsverfahren aufgeworfenen, erheblichen (§ 46 Abs 1 ASGG) Rechtsfrage, ob in einer Entscheidung über eine in angemessener Höhe begehrte Integritätsabgeltung deren Höhe, jedenfalls aber die Höhe des Integritätsschadens im Urteilsspruch aufzunehmen ist. An der Rechtsprechung des Senats, dass die gerichtliche Entscheidung auf Gewährung der Integritätsabgeltung nicht den Grad des Integritätsschadens im Spruch festzustellen habe (SSV-NF 12/30; 10 ObS 178/01a), ist festzuhalten. Der nach § 2 der gemäß § 213a Abs 4 ASVG erlassenen Richtlinien der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt über die Leistung der Integritätsabgeltung zu ermittelnde Grad des Integritätsschadens ist gemäß § 3 Abs 1 der Richtlinien ein sowohl den Grund als auch die Höhe der Integritätsabgeltung bestimmendes Tatbestandselement, dessen spruchmäßige Feststellung gesetzlich nicht vorgesehen ist. Es besteht auch kein Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung des Senats abzugehen, dass ein Rechtsstreit über eine Integritätsabgeltung nach § 89 Abs 2 ASGG erledigt werden kann, wenn dessen Anwendungsvoraussetzungen - wie im vorliegenden Fall, in dem Grund und Höhe der begehrten Leistung bestritten sind - gegeben sind (SSV-NF 9/9; 10 ObS 178/01a; vgl SSV-NF 12/150). Eine betragsmäßige Fixierung der Integritätsabgeltung im Urteilsspruch ist daher nicht notwendig.

Anders als in der Vorentscheidung 10 ObS 178/01a ist aber die Frage zu lösen, ob das über eine Integritätsabgeltung dem Grunde nach absprechende Urteil den Hundertsatz der in Betracht kommenden Bemessungsgrundlage festzusetzen hat.

Die Höhe einer Integritätsabgeltung ist einerseits vom Grad des Integritätsschadens, der in der zuzuerkennenden Quote der Bemessungsgrundlage seinen Ausdruck findet, andererseits von der Höhe der Bemessungsgrundlage abhängig (§ 3 Abs 1 der Richtlinien). § 89 Abs 2 ASGG bezweckt, das Gericht von der genauen Ermittlung der Leistungshöhe zu entlasten. Dem Kläger soll bis zur Festsetzung der genauen Höhe der Leistung eine provisorische Leistung in Form eines schätzungsweise ermittelten Betrags zufließen, wobei aber der Rechtsgrund der Leistung durch diese Regelung keine Änderung erfährt. Es handelt sich um die dem Grunde nach zuerkannte Leistung, die bloß der Höhe nach vorerst nur annäherungsweise zu ermitteln ist (10 ObS 118/89; 10 ObS 45/99m; 10 ObS 315/00x ua). Daraus folgt aber, dass in einem gerichtlichen Urteil über den Grund des Anspruchs auf eine Integritätsabgeltung so weit über alle Voraussetzungen abgesprochen sein muss, dass es dem Versicherungsträger lediglich überlassen bleibt, nach Ermittlung der in Betracht kommenden Bemessungsgrundlage (§ 3 Abs 1 der Richtlinien iVm § 213a Abs 2 und 3 ASVG) die Höhe der Integritätsabgeltung auszurechnen. Eine Entscheidung über eine Integritätsabgeltung dem Grunde nach, in welcher die gebührende Quote der Bemessungsgrundlage nicht festgesetzt wäre, würde diesen Absichten des Gesetzes nicht gerecht, vor allem weil hierüber in der Folge noch eine zweite Entscheidung "dem Grunde nach" ergehen könnte, womit das Verfahren bis zur endgültigen Festsetzung der Höhe der Integritätsabgeltung verlängert, aber nicht verkürzt würde. Es ist daher notwendig, im Grundurteil den Hundertsatz der in Betracht kommenden Bemessungsgrundlage festzusetzen.

Da die Höhe der vorläufigen Zahlung auch in der Revision nicht bekämpft wird, war in teilweiser Stattgebung der Revision wie aus dem Spruch ersichtlich zu entscheiden.

Die Entscheidung über die Kosten aller Instanzen beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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