OGH 10ObS20/95

OGH10ObS20/959.4.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Roman Merth (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Amtsrat Winfried Kmenta (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hermann J*****, Dienstnehmer, *****, vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Tiroler Gebietskrankenkasse, 6020 Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2, vertreten durch Dr.Hans Peter Ullmann und Dr.Stefan Geiler, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen S 24.232,42, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Oktober 1994, GZ 5 Rs 74/94-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 18. Mai 1994, GZ 47 Cgs 1025/92-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Revision sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revisionsbeantwortung der beklagten Partei wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Sein am 24.8.1980 geborener mitversicherter Sohn Thomas trägt seit der Volksschulzeit eine Brille und erkrankte im Oktober 1990 an einer rezidivierenden Uveitis (Glaskörperentzündung) beidseits mit einem Visusabfall. Die von den behandelnden Ärzten eingeleitete Cortison-Therapie führte zu keinen befriedigenden Ergebnissen. Der Kläger ließ die Behandlung seines Kindes durch den "Kausalmediziner" (Homöopathen) Dr. H***** M***** weiterführen, der nicht Vertragsarzt der Beklagten ist. Für den ersten Teil der Behandlung des Kindes in der Zeit vom 8.2.-20.6.1991 erstellte dieser Arzt eine Honorarnote vom 25.6.1991 in der er folgende Leistungen verzeichnete:

Gesamtuntersuchung mit ärztlicher und apparativer Diagnostik, Harnlabor, Ernährungsberatung und

Überzeit S 1.000,--

37 Bioresonanz-Therapien zu je S 100,-- S 3.700,--

29 Coloninsuflation mit Ozon zu je S 300,-- S 8.700,--

26 Farbpunkturbehandlungen zu je S 350,-- S 9.100,--

14 Revitorgan-Doppelinjektionen zu je S 350,-- S 4.900,--

15 diverse Injektionen zu je S 100,-- S 1.500,--

zusammen S 28.900,--

zuzüglich 20 % USt S 5.780,--

Summe brutto S 34.680,--

Anstelle dieses Betrages begehrte der Arzt aber nur einen Pauschalbetrag von S 25.000,--. Die Beklagte ersetzte dem Kläger auf diese Honorarnote für die ärztlichen Leistungen S 787,58 und lehnte mit Bescheid vom 2.6.1992 einen darüber hinausgehenden Kostenersatz ab, weil für die erbrachten Leistungen laut Honorarordnung nur dieser Betrag aufzuwenden gewesen wäre, wenn die Leistungen von einem Vertragsarzt erbracht worden wären.

Der Kläger begehrt im vorliegenden Rechtsstreit Kostenersatz im Ausmaß von S 25.000,-- abzüglich der bereits erbrachten Leistung, also restlich S 24.232,42. Die vom Wahlarzt erbrachten homöopathischen Leistungen seien mit den vertragsärztlichen Leistungen nicht vergleichbar bzw in der Honorarordnung nicht enthalten. Die im konkreten Fall erfolgreiche Behandlung müsse als notwendig eingestuft werden.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Kostenerstattung habe nur mit jenem Betrag zu erfolgen, den die Beklagte bei Inanspruchnahme eines Vertragsarztes für dieselbe Leistung hätte aufwenden müssen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte insbesondere fest, daß die von dem Alternativmediziner beim Kind des Klägers angewendeten Behandlungsmethoden zwar nicht klinisch anerkannt seien, aber dennoch eine deutliche Verbesserung derart herbeigeführt hätten, daß der Therapieerfolg für alle Beteiligten als befriedigend anzusehen sei. Es bestünden allerdings weiterhin Anzeichen einer chronischen, auf den Glaskörperraum beschränkten, destruktiven Veränderung, wenngleich derzeit keine akuten Entzündungszeichen bestünden. Diese bestehenden Glaskörperveränderungen könnten in der Folge noch zu teilweise irreversiblen Veränderungen führen. Chronische Entzündungen des Auges und deshalb zusätzlich notwendig werdende operative Eingriffe könnten die Ernährungssituation im Auge so sehr stören, daß ein Auge zu schrumpfen beginne. Entzündliche Veränderungen könnten sich aber mit dem Älterwerden von Kindern auch spontan bessern. Als klinisch anerkannte Behandlungsmethode bestehe die Glaskörperentfernung; eine derartige Operation stelle in der Regel kein besonderes Risiko dar und sei äußerst erfolgreich. Gerade weil ein Absetzen der klinisch anerkannten Cortisontherapie jeweils zur neuerlichen Verschlechterung der Sehleistung des Kindes geführt habe, wäre eine Glaskörperentfernung angezeigt gewesen.

Rechtlich folgerte das Erstgericht aus dem von ihm festgestellten Sachverhalt, daß Kostenersatz für eine Außenseitermethode nur dann gewährt werde, wenn sie einer zweckmäßigen Behandlung entspreche und das Maß des Notwendigen nicht überschreite. Daher müsse vorher eine zumutbare und erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln versucht worden seien, zumindest dann, wenn diese kostengünstiger sei. Die Behandlung nach der Außenseitermethode müsse überdies erfolgreich gewesen oder zumindest für einen Erfahrungssatz ausreichend erfolgversprechend gewesen sein. Da die klinisch anerkannte Methode der Glaskörperentfernung außer acht gelassen worden sei, bestehe das Klagebegehren nicht zurecht.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Die Frage, ob die erwähnte schulmedizinische operative Behandlung zumutbar gewesen wäre, sei nicht relevant, weshalb es sich auch erübrige, auf die Berufungsgründe der Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie der unrichtigen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung einzugehen. Nach der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes komme nämlich der begehrte Kostenersatz von vornherein nicht in Betracht. Der Judikatur des Obersten Gerichtshofes, nach der von einem "kassenfreien Raum" auszugehen sei, könne nicht gefolgt werden. Ohne die Annahme eines solchen sei aber die klagsabweisende Entscheidung des Erstgerichtes im Ergebnis nach § 131 Abs 1 ASVG zutreffend:

Kosten einer Behandlung mit Außenseitermethoden seien nicht ersatzfähig.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Er beantragt die Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres Aufhebungsantrages berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof hat die Rechtsfrage der Inanspruchnahme eines

Vertragsarztes als Wahlarzt bereits in mehreren Entscheidungen

ausführlich erörtert; die Begründung dieser Entscheidungen kann schon

wegen ihrer mehrfachen Veröffentlichung als bekannt vorausgesetzt

werden (10 ObS 264/93 = SZ 67/67 = SSV-NF 8/33 = JBl 1995,267 = ARD

4598/7/94 = DRdA 1995, 168 = SozSi 1994, 609; 10 ObS 59/94 = DRdA

1995, 501; 10 ObS 166/94 = ARD 4723/33/96). Im vorliegenden Fall

steht aber fest, daß der behandelnde Arzt nicht Vertragsarzt der

beklagten Partei ist, weshalb sich die vom Berufungsgericht erörterte

Frage, ob ein Vertragsarzt gleichzeitig als Wahlarzt in Anspruch

genommen werden kann, gar nicht stellt. Es geht vielmehr um die Frage

des Ersatzes von Kosten für die Anwendung einer von der Wissenschaft

nicht anerkannten Behandlungsmethode (Außenseitermethode). Ein

solcher Kostenersatz kommt nur in Frage, wenn zur Behandlung des

regelwidrigen Zustandes zunächst eine zumutbare, erfolgversprechende

Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln versucht wurde.

Voraussetzung für den Kostenersatzanspruch ist jedoch, daß von der

Behandlung nach den Ergebnissen einer für die Bildung eines

Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen ein Erfolg erwartet

werden kann, oder daß die Methode im Einzelfall tatsächlich

erfolgreich war (SZ 62/210 = SSV-NF 3/154 ua). Der Senat hat im

Zusammenhang damit betont, daß die Unvollständigkeit der

Gesamtverträge den Anspruch des Versicherten auf Leistungen der

Krankenbehandlung nicht schmälern kann. Der Gesamtvertrag ist ein dem

Gesetz nachrangiges Gestaltungsmittel, das den gesetzlichen Anspruch

auf Krankenbehandlung nicht einschränken oder beseitigen darf. Die in

der Honorarordnung aufgezählten vertragsärztlichen Leistungen sind

zwar ein Indiz für die Beurteilung, ob eine Krankenbehandlung

zweckmäßig ist und das Maß des Notwendigen nicht übersteigt (§ 133

Abs 3 ASVG), doch sind die Gesamtverträge nur unter den

Vertragsparteien bindend (zuletzt 10 ObS 166/94). Auf die weiteren

sich aus dieser Auffassung ergebenden Probleme braucht aber im

vorliegenden Fall nicht eingegangen zu werden.

Eine Kostenübernahme durch den gesetzlichen Krankenversicherungsträger kommt grundsätzlich nur dann in Frage, wenn die Krankenbehandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgversprechend war, weil sie nur dann als medizinisch notwendig eingestuft werden kann. Dadurch wird einerseits der Patient vor der Inanspruchnahme als Versuchsobjekt geschützt und andererseits das Kostenrisiko der Sozialversicherung hinsichtlich jener Behandlungsmethoden minimiert, die nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft als nicht erfolgversprechend qualifiziert werden. Daraus läßt sich ableiten, daß dann, wenn die herkömmliche Behandlungsmethode erfolgreich und ohne (unzumutbare) Nebenwirkungen angewendet werden konnte (oder kann), kein Anlaß zur Übernahme der Kosten von Außenseitermethoden besteht. In einem solchen Fall ist es auch nicht wesentlich, wie hoch die Kosten der Außenseitermedizin im Vergleich zu jenen der Schulmedizin sind. Kostenersatz für Außenseitermethoden kann daher immer erst dann erfolgen, wenn entweder eine zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung steht oder eine solche erfolglos blieb. Eine Kostenübernahme für nicht der traditionellen Medizin zuordenbare Therapiemethoden wird nur dann bejaht, wenn die Außenseitermethode in breiten Kreisen der Bevölkerung zumindest ein gewisses Maß an Heilungserfolg aufweist und sich nicht nur auf die bloß subjektive Besserung bestehender Beschwerden beschränkt. Es muß also wie bereits oben dargestellt, von der Behandlung nach den Ergebnissen einer für die Bildung eines Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen ein Erfolg erwartet werden können; darüberhinaus ist eine Kostenübernahme auch in jenen Fällen zu bejahen, in denen die Methode beim Patienten selbst erfolgreich war (Gerhard Vogl, Medikation mit Außenseitermethoden, RdM 1994, 108 ff mwN); 10 ObS 103/93 = SZ 67/34 = SSV-NF 8/19 = JBl 1994, 702 = DRdA 1995, 22 mit Komm von Binder; ebenso die Rechtsprechung des deutschen BSG zu den Außenseitermethoden (vgl BSGE 63, 102; 64, 255 ua).

Von diesen Rechtsgrundsätzen ist das Erstgericht zutreffend ausgegangen. Es hat das Klagebegehren lediglich deshalb abgewiesen, weil nach seinen Feststellungen eine klinisch anerkannte, erfolgversprechende und auch zumutbare Methode zur Verfügung stehe, nämlich die Glaskörperentfernung. Der Kläger hat in seiner Berufung Verfahrensmängel sowie unrichtige Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung geltend gemacht. Das Berufungsgericht hat sich ausgehend von einer unzutreffenden Rechtsansicht mit diesen Berufungsgründen nicht beschäftigt, weil es die bekämpften erstgerichtlichen Feststellungen für nicht rechtserheblich ansah. Mangels Behandlung der Mängel- und der Beweisrügen konnte das Berufungsgericht daher auch die entscheidenden Feststellungen des Erstgerichtes nicht übernehmen.

Das Urteil des Berufungsgerichtes leidet daher an Feststellungsmängeln, die im Rahmen des Rechtsmittelgrundes der unrichtigen rechtlichen Beurteilung wahrgenommen werden müssen. Der darin zu erblickende sekundäre Verfahrensmangel, zurückgehend auf die Nichterledigung der vom Kläger in seiner Berufung erhobenen Mängel- und Tatsachenrügen, erfordert die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung (vgl SSV-NF 8/6 mwN).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

Die Revisionsbeantwortung der Beklagten wurde verspätet überreicht.

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