OGH 10ObS181/19v

OGH10ObS181/19v21.1.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*****, vertreten durch Dr. Kurt Bayr und Dr. Marco Rovagnati, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. November 2019, GZ 23 R 31/19h‑52, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00181.19V.0121.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Kläger erlitt am 15. 8. 2011 einen Verkehrsunfall, bei dem er sich eine Zerrung der Halswirbelsäule zuzog. In den drauffolgenden Monaten entwickelten sich bei ihm erste Symptome einer funktionellen Dystonie. Es handelt sich dabei um Bewegungsstörungen mit länger anhaltenden unwillkürlichen Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur, die häufig zu verzerrenden und repetitiven Bewegungen, abnormen Haltungen oder bizarren Körperfehlstellungen führen.

Mit Bescheid vom 21. 8. 2012 anerkannte die beklagte Partei den Unfall als Arbeitsunfall, verneinte das Bestehen eines Anspruchs auf Versehrtenrente und stellte (im Spruch des Bescheids) fest, dass die Zerrung der Halswirbelsäule Unfallfolge sei, die (weiters) bestehenden Beschwerden jedoch nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall stehen.

Nach Zurückziehung der Klage im Vorverfahren erließ die beklagte Partei am 5. 3. 2014 einen – in Rechtskraft erwachsenen – (Wiederholungs‑)Bescheid gleichen Inhalts. Im Revisionsverfahren nicht strittig ist, dass der Spruch dieses Bescheids dahin zu verstehen ist, dass die Zerrung der Halswirbelsäule als Unfallfolge anerkannt wird, nicht jedoch die beim Kläger bestehende funktionelle Dystonie.

Im vorliegenden Verfahren beantragt der Kläger infolge behaupteter Änderung der Verhältnisse neuerlich die Gewährung einer Versehrtenrente.

Mit Bescheid vom 16. 8. 2016 lehnte die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung einer Versehrtenrente wegen Fehlens einer Änderung der Verhältnisse ab.

Die Vorinstanzen wiesen das dagegen erhobene Klagebegehren übereinstimmend ab.

Rechtliche Beurteilung

In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

1. Der Spruch des rechtskräftigen Bescheids vom 5. 3. 2014 ist so zu verstehen, dass die festgestellte Zerrung der Halswirbelsäule eine Folge des Arbeitsunfalls vom 15. 8. 2011 ist, während weitere Beschwerden des Klägers nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall stehen.

2. Grundsätzlich steht die Rechtskraft eines Bescheids der neuerlichen Prüfung der Grundlagen dieser Entscheidung im Leistungsverfahren entgegen. Ausnahmen bestehen nur für Fälle, in denen nach der rechtskräftigen Entscheidung eine maßgebliche Änderung des Sachverhalts eingetreten ist (siehe etwa §§ 99 und 183 Abs 1 ASVG). Als Vergleichsmaßstab ist der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der der rechtskräftigen Entscheidung zugrundelag (vgl RIS‑Justiz RS0084151). Haben sich die objektiven Grundlagen der Entscheidung nicht wesentlich geändert, so steht die Rechtskraft der Vorentscheidung einer neuerlichen Entscheidung über denselben Anspruch entgegen. Insbesondere kann eine ursprünglich unrichtige Entscheidung nicht auf dem Weg der Geltendmachung einer Änderung korrigiert werden (RS0110119).

3. In diesem Sinn können Irrtümer bei der (jeweils) letzten Feststellung durch Bescheid auch im Wege der Neufeststellung nach § 183 Abs 2 ASVG nicht korrigiert werden (RS0084142). Nicht zulässig ist etwa eine Korrektur der unrichtigen Beurteilung der Unfallkausalität oder eine Korrektur der rechtskräftigen Nichtanerkennung von Berufskrankheiten (10 ObS 38/16k). Unterlief ein Tatsachenirrtum oder ein wesentlicher Rechtsirrtum zu Ungunsten der anspruchsberechtigten Person, dann steht nur der Herstellungsantrag nach § 101 ASVG zur Verfügung (Müller in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm [219. Lfg] § 183 ASVG Rz 7 mwN).

4. In Übereinstimmung mit den wiedergegebenen Grundsätzen der Rechtsprechung führte das Berufungsgericht aus, dem Erstgericht wäre es verwehrt gewesen, die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und der funktionellen Dystonie neuerlich zu beurteilen, weil dem – beim Fehlen einer maßgeblichen Änderung – die Rechtskraft des Bescheids vom 5. 3. 2014 entgegen stehe. Auch eine irrtümliche Verneinung einer Kausalität zwischen Unfall und Schäden könne nach Rechtskraft nicht neu aufgerollt werden.

Über diese Begründung hinaus („im Übrigen“) bot das Berufungsgericht noch eine nicht tragende Hilfsbegründung an, indem es Überlegungen zur rechtlichen Kausalität des Arbeitswegunfalls für die funktionelle Dystonie anstellte und zum Ergebnis kam, diese wäre zu verneinen.

5. Der Revisionswerber wendet sich nicht gegen die angenommene Rechtskraftwirkung des Bescheids vom 5. 3. 2014, sondern bekämpft ausschließlich die Ausführungen des Berufungsgerichts zur rechtlichen Kausalität des Unfalls für die funktionelle Dystonie. Eine nicht tragende Hilfsbegründung kann aber nicht zum Gegenstand eines außerordentlichen Rechtsmittels gemacht werden, weil sie für den Streitausgang nicht erheblich ist (RS0042736).

Die außerordentliche Revision war daher mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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