European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00131.22W.0117.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Strittig ist im Revisionsverfahren noch die Frage, ob der Kläger durch seine Tätigkeit als Schichtmeister in einer Weberei Berufsschutz als angelernter Textiltechnologe im Sinn des § 273 Abs 1 Satz 1 ASVG iVm § 255 Abs 2 ASVG erworben hat.
[2] Der 1961 geborene Kläger hat den Lehrberuf des Kfz‑Mechanikers erlernt. Dieser Lehrberuf ist mit dem Lehrberuf des Textiltechnologen (bis 2013 existierte das Berufsbild des Textilmechanikers) nicht verwandt.
[3] Der Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1. 10. 2018 bei der A* GmbH 178 Beitragsmonate in der Position eines Schichtmeisters in der Weberei mit den im Einzelnen festgestellten Aufgaben tätig. Die Kerntätigkeit des Klägers war grundsätzlich das Bedienen von Maschinen, das Starten und die Kontrolle des Produktionsablaufs und „Outputs“. Er musste auf Fehler reagieren, die Maschinen neu einrichten und kleinere Wartungsarbeiten an ihnen vornehmen. Der Kläger arbeitete in der Früh‑ und Nachmittagsschicht eines Dreischichtbetriebs.
[4] „Der Kläger verfügt nicht über die qualifizierten Kenntnisse oder Fähigkeiten eines Textiltechnologen (früher Textilmechaniker). Ihm fehlt der theoretische Teil beziehungsweise im theoretischen Teil hat er nicht die Kenntnisse eines Textiltechnologen sich angeeignet.“
[5] Der Kläger ist aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nur mehr auf im Einzelnen festgestellte ungelernte Tätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.
[6] Mit Bescheid vom 15. 2. 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension vom 28. 9. 2018 ab und sprach aus, dass auch kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.
[7] Die Vorinstanzen wiesen das Begehren des Klägers auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab. Berufsunfähigkeit liege nach § 255 Abs 1, 2 oder 4 ASVG iVm § 273 ASVG nicht vor.
Rechtliche Beurteilung
[8] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
[9] 1.1 Nach § 255 Abs 2 ASVG (hier iVm § 273 Abs 1 Satz 1 ASVG) liegt ein angelernter Beruf im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, die jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Bildet die Erwerbstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten ausgeübt hat, einen Teil des Lehrberufs, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen. Voraussetzung für die Qualifikation als angelernter Arbeiter ist, dass der Versicherte hinsichtlich seiner Fähigkeiten und Kenntnisse den Anforderungen entspricht, die üblicherweise an Absolventen des Lehrberufs gestellt werden. Es reicht nicht aus, wenn die Kenntnisse und Fähigkeiten nur ein Teilgebiet eines Tätigkeitsbereichs umfassen, der von gelernten Arbeitern ganz allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (RIS‑Justiz RS0084585; RS0084638).
[10] 1.2 Die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist eine Rechtsfrage. Grundlage für die Lösung dieser Frage bilden nach ständiger Rechtsprechung Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im Einzelfall verfügt und über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf üblicherweise gestellt werden (RS0084563).
[11] 2.1 Mit diesen Grundsätzen der Rechtsprechung stehen die Entscheidungen der Vorinstanzen im Einklang. Der Revisionswerber macht geltend, dass für den Erwerb der Anlernqualifikation des § 255 Abs 2 ASVG nicht notwendigerweise auch ein erfolgreich absolvierter theoretischer Teil (gemeint ist offenbar der theoretische Teil des im Verfahren durchgeführten Berufsqualifikationstests ON 73, 74) oder eine theoretische Prüfung erforderlich seien. § 255 Abs 2 ASVG verlange lediglich „qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten“, über die der Kläger, der jahrelang als Schichtmeister tätig gewesen sei und der lediglich „den theoretischen Teil nicht bestanden habe“, verfüge.
[12] 2.2 Mit diesen Ausführungen wünscht der Kläger aber lediglich eine andere Auslegung der oben wiedergegebenen Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers, als sie das Berufungsgericht vorgenommen hat, womit er jedoch keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufzeigt (RS0118891). Das Berufungsgericht hat bereits bei der Behandlung der Beweisrüge darauf hingewiesen, dass es nach den Ausführungen der Sachverständigen für Berufskunde nicht sicher, sondern lediglich möglich sei, dass der Kläger durch seine Tätigkeit die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten eines angelernten Textiltechnologen erworben habe. Das Berufungsgericht hat ohnedies die auch vom Revisionswerber für seinen Standpunkt zitierte Entscheidung 10 ObS 56/02m berücksichtigt, in der ausgeführt ist, dass die Möglichkeit besteht, dass ein Versicherter durch praktische Arbeit diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, die üblicherweise von ausgelernten (damals:) Chemiewerkern in den auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten erwartet werden. Keineswegs ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass zum Erwerb des Berufsschutzes gemäß § 255 Abs 2 ASVG „ein erfolgreich absolvierter theoretischer Teil“ oder eine theoretische Prüfung erforderlich wäre: Es legt vielmehr die Feststellungen des Erstgerichts (in inhaltlicher Übereinstimmung mit dessen Ausführungen in der Beweiswürdigung) dahin aus, dass sie nur so verstanden werden könnten, dass auch theoretische Kenntnisse zur Ausübung einer Tätigkeit als Textiltechnologe auf dem Arbeitsmarkt erforderlich sind. Begründend setzte es hinzu, dass es sich etwa bei der Auswahl und Überprüfung der erforderlichen Materialien oder der Berücksichtigung der einschlägigen Normen, Sicherheits‑, Umwelts‑ und Qualitätsstandards um Aspekte handle, die dem theoretischen Wissen zuzurechnen seien, und über die der Kläger nicht verfüge. Eine Unvertretbarkeit dieser Auslegung zeigt der Revisionswerber mit seiner Ablehnung der Beispiele des Berufungsgerichts, weil sie nämlich problemlos durch praktische Arbeit erworben werden könnten, schon deshalb nicht auf, weil sie der Kläger nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen gerade nicht durch praktische Arbeit erworben hat. Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von dem vom Revisionswerber für seinen Standpunkt zitierten Entscheidung 10 ObS 200/95 SSV‑NF 9/96: Denn die damalige Klägerin verfügte über Fähigkeiten und Kenntnisse, die den Anforderungen entsprachen, die (damals) üblicherweise an Absolventen des Lehrberufs der Kellnerin in vielen Gastronomiebetrieben gestellt wurden, ihr fehlten lediglich (Spezial‑)Kenntnisse, die nur in Betrieben der gehobenen Gastronomie gefordert wurden.
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