OGH 10Ob37/20v

OGH10Ob37/20v24.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen L*, geboren * 2003, vertreten durch das Land Oberösterreich als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Steyr, 4400 Steyr, Pyrachstraße 7), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Steyr als Rekursgericht vom 29. Juni 2020, GZ 1 R 64/20k‑126, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Steyr vom 4. März 2020, GZ 10 Pu 83/18k‑114, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130383

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die im Übrigen als rechtskräftig unberührt bleiben, werden in der Erhöhung der Unterhaltsvorschüsse für den Monat März 2020 aufgehoben. In diesem Umfang wird dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Die dem 2003 geborenen Kind nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG gewährten Unterhaltsvorschüsse wurden ab 1. Dezember 2018 auf monatlich 370 EUR erhöht. Mit Ablauf des Monats Oktober 2019 wurden die Unterhaltsvorschüsse auf 115 EUR monatlich herabgesetzt, weil die Minderjährige als Lehrling seit 17. September 2019 über ein monatliches Eigeneinkommen von 780,98 EUR netto inklusive Sonderzahlungen verfügt.

[2] Dieses Lehrverhältnis wurde mit 17. Februar 2020 vorzeitig aufgelöst. Das vom Kinder‑ und Jungendhilfeträger (KJHT) vertretene Kind beantragte die Erhöhung der Unterhaltsvorschüsse auf 370 EUR ab 1. März 2020.

[3] Das Erstgericht gab dem Antrag statt.

[4] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge. Eine Einstellung oder Herabsetzung der Vorschüsse wegen eines Eigeneinkommens habe erst mit Ablauf des Monats zu erfolgen, in dem die erste Lohnauszahlung (hier Lehrlingseinkommen) erfolge, weil eine (Teil‑)Selbsterhaltungsfähigkeit in der Regel erst dann eintrete, wenn das Kind über die für eine Deckung des angemessenen Lebensbedarfs erforderlichen Mittel verfüge. Im spiegelbildlichen Fall des Arbeitsplatzverlustes eines Unterhaltspflichtigen zu einem Monatsende werde der Einkommensentfall oder die Einkommensminderung bereits ab dem nachfolgenden Monatsersten berücksichtigt, auch wenn die letzte Lohnzahlung erst am Monatsende erfolge. Die hier maßgebliche Änderung der Verhältnisse sei mit Beendigung des Lehrverhältnisses am 17. Februar 2020 eingetreten. Bereits mit 1. März 2020 seien die Voraussetzungen für die Erhöhung der Vorschüsse auf Titelhöhe vorgelegen, auch wenn die Minderjährige mit der Beendigung des Lehrverhältnisses noch eine Lohnzahlung erhalten hätte.

[5] Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Frage, ab welchem Zeitpunkt Unterhaltsvorschüsse nach Wegfall des Eigeneinkommens zu erhöhen seien, keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der – nicht beantwortete – Revisionsrekurs des Bundes ist zulässig, weil die Entscheidung des Rekursgerichts mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht im Einklang steht. Er ist auch im Sinn einer Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen berechtigt.

[7] 1. Das materielle Erlöschen der Unterhaltspflicht führt sowohl bei Titelvorschüssen als auch bei Richtsatzvorschüssen zur Einstellung der Unterhaltsvorschüsse. Ist daher das unterhaltsberechtigte Kind aufgrund eines entsprechenden Eigeneinkommens als selbsterhaltungsfähig anzusehen und fällt damit die im Titel festgesetzte Unterhaltspflicht materiell weg, sind Vorschüsse iSd § 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG einzustellen. Wenn aufgrund der Höhe des eigenen Einkommens nur Teilselbsterhaltungsfähigkeit eingetreten ist, sind Unterhaltsvorschüsse nach § 19 Abs 1 UVG entsprechend herabzusetzen.

[8] 2. Der Oberste Gerichtshof hat sich bereits mit der Frage befasst, wie sich der Bezugeines Lehrlingseinkommens (§ 17 BAG) unterhalts‑(vorschuss‑)rechtlich auswirkt:

[9] 2.1 Das Lehrlingseinkommen ist, wenn es nicht als Ausgleich für berufsbedingten Mehraufwand außer Betracht bleibt, Eigeneinkommen des Kindes und mindert dessen Unterhaltsanspruch (10 Ob 41/19f, RIS‑Justiz RS0047573 [T2]).

[10] 2.2 Wird ein Lehrverhältnis mit dem Monatsersten angetreten, das Lehrlingseinkommen jedoch erstmals am Ende dieses Monats ausgezahlt, tritt die (Teil‑)Selbsterhaltungsfähigkeit erst mit Ablauf dieses Monats ein. Erst ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Auszahlung steht das Lehrlingseinkommen als Eigeneinkommen zur Verfügung und mindert den Unterhaltsanspruch (10 Ob 41/19f; 10 Ob 30/15g, RS0111944 [T2]).

[11] 2.3 Dieser Zeitpunkt ist maßgeblich für die Einstellung von Unterhaltsvorschüssen (10 Ob 23/14a, RS0129679; RS0111944 [T1]). Das gleiche gilt für die Herabsetzung von Unterhaltsvorschüssen (10 Ob 38/17m, RS0111944 [T3]).

[12] 2.4 Für den spiegelbildlichen – hier relevanten – Fall der Auflösung eines Lehrverhältnisses und Entfalls des Eigeneinkommens hat der Oberste Gerichtshof zu 10 Ob 41/19f klargestellt, dass die Unterhaltsvorschüsse iSd § 19 Abs 2 UVG nicht bereits mit dem folgenden Monatsersten zu erhöhen sind, weil dem unterhaltsberechtigten Kind aufgrund der nachträglichen Auszahlung das Lehrlingseinkommen in diesem Monat noch zur Deckung seiner Bedürfnisse zur Verfügung steht.

[13] 3.1 Das Lehrverhältnis wurde am 17. Februar 2020 vorzeitig aufgelöst. Der Bund geht in seinem Revisionsrekurs davon aus, dass die Unterhaltsberechtigte noch im März 2020 die Lehrlingsentschädigung für Februar ausgezahlt erhielt. So habe sie auch die erste Lehrlingsentschädigung nach Lehrbeginn mit 17. September 2019 erst Ende Oktober 2019 erhalten. Feststellungen über den jeweiligen Zeitpunkt der Auszahlung sowie zur Höhe des Ende Februar oder im März 2020 für den vorangegangenen Monat ausgezahlten Lehrlingseinkommens fehlen. Wenn die Unterhaltsberechtigte noch Ende Februar oder im März 2020 ein Lehrlingseinkommen bezogen hat, dessen Höhe nach wie vor die im Oktober 2019 ausgesprochene Herabsetzung auf 115 EUR rechtfertigt, sind die Unterhaltsvorschüsse erst ab 1. April 2020 zu erhöhen. Erst ab diesem Zeitpunkt wäre die Teil‑Selbsterhaltungsfähigkeit der Unterhaltsberechtigten weggefallen.

[14] 3.2 Das Erstgericht wird daher entsprechende Feststellungen zu treffen und die Voraussetzungen für die Erhöhung der Unterhaltsvorschüsse für den Monat März 2020 neuerlich zu prüfen haben.

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