European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0100OB00003.23Y.0221.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Das Kind ist Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien (künftig kurz: Syrien). Die Eltern sind ebenfalls syrische Staatsangehörige und leben getrennt. Mit einstweiliger Verfügung des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 28. April 2022 wurde der Vater verpflichtet, dem Kind einen vorläufigen monatlichen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 38 EUR zu leisten (ON 2). Mit Beschluss vom 13. Juni 2022 wurde der Unterhalt in gleicher Höhe ab 1. 4. 2022 festgesetzt und die einstweilige Verfügung aufgehoben (ON 9).
[2] Dem Vater wurde mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 11. August 2020 Asyl gewährt. Mit Bescheiden des BFA vom 30. Juni 2021 wurden der Mutter und dem Kind der Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 5 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 als Familienangehörige (des Vaters) zuerkannt. Eigene Fluchtgründe brachten sie im Asylverfahren nicht vor.
[3] Mit Antrag vom 1. Juni 2022 begehrte das Kind die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG. Es verwies darauf, dass ihm mit Bescheid des BFA vom 30. Juni 2021 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden und seine Mutter mit ihm aus Syrien geflohen sei, weil dort Krieg herrsche. Da dies nach wie vor der Fall sei, sei eine Rückkehr der Familie in ihr Heimatland weder möglich noch verantwortbar. Der KJHT bestätigte (iSd § 11 Abs 2 UVG) die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben.
[4] Das Erstgericht gewährte mit Beschluss vom 9. Juni 2022 monatliche Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von 38 EUR für die Zeit von 1. Juni 2022 bis 31. Jänner 2024.
[5] Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Bundes nicht Folge. Die Flüchtlingseigenschaft des Kindes sei zwar eine vom Gericht selbständig zu beurteilende Vorfrage. Eine eigenständige Prüfung habe aber nur dann zu erfolgen, wenn seit einer dahingehenden Feststellung im Verwaltungsverfahren bereits geraume Zeit vergangen sei. Im Anlassfall lägen mit den Bescheiden des BFA aus den Jahren 2020 (Vater) und 2021 (Kind und Mutter) hinsichtlich aller Familienmitglieder rezente Asylentscheidungen vor, weshalb sich das Erstgericht zu Recht weder mit der Flüchtlingseigenschaft des Kindes noch der konkreten Situation der Familie näher befasst habe. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zu, weil der Oberste Gerichtshof zur Notwendigkeit und zum Umfang der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft syrischer Staatsbürger, denen erst kürzlich Asyl gewährt worden sei, noch nicht Stellung genommen habe.
[6] Gegen diese Entscheidung richtet sich der – nur vom Kind beantwortete – Revisionsrekurs des Bundes, mit dem dieser die Abweisung des Vorschussantrags anstrebt. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) – Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.
[8] 1. Im Verfahren ist nicht strittig, dass Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) österreichischen Staatsbürgern im Sinn des § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt sind und daher Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse haben (10 Ob 11/20w; 10 Ob 28/18t ua).
[9] 1.1. Nach der ständigen Rechtsprechung hat das Gericht im Verfahren über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen die Flüchtlingseigenschaft selbständig als Vorfrage zu prüfen (RIS‑Justiz RS0110397; RS0037183). Das folgt aus dem Umstand, dass sie nicht vom Vorliegen der (bloß deklarativen) Feststellung durch eine Behörde abhängig ist, sondern sich unmittelbar aus Art 1 A Z 2 der GFK ergibt (10 Ob 55/20s; 10 Ob 30/20i ua). Asylbescheide und die damit verbundene Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren (§ 3 Abs 5 AsylG 2005) entfalten in Verfahren nach dem UVG somit keine Bindungswirkung, sondern haben für die Vorfragenbeurteilung nur Indizwirkung (10 Ob 6/21m; 10 Ob 52/20z ua). Wie stark diese ausgeprägt ist, hängt maßgeblich von der seither verstrichenen Zeit ab, sodass das Gericht mangels gegenteiliger Anhaltspunkte auf eine selbständige Prüfung in der Regel verzichten kann, wenn die Entscheidung im Verfahren über die Asylgewährung erst kurz zuvor ergangen ist (RS0037183 [T1, T3]; 10 Ob 31/22i ua). Von einer selbständigen Prüfung kann hingegen nicht abgesehen werden, wenn seit der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft schon ein geraumer Zeitraum verstrichen ist und sich die Verhältnisse im Heimatstaat des Flüchtlings wesentlich geändert haben (RS0110397; 10 Ob 11/20w ua).
[10] 1.2. Bei Prüfung der Flüchtlingseigenschaft von Kindern, denen Asylstatus im Familienverfahren nach § 34 Abs 2 AsylG 2005 zuerkannt wurde, kommt es darauf an, ob entweder beim Kind oder bei einem Elternteil, von dem es seine Flüchtlingseigenschaft ableitet, konkrete Fluchtgründe vorliegen. Der Umstand, dass das Kind nicht im gemeinsamen Haushalt mit diesem Elternteil lebt, ist nicht relevant (10 Ob 18/22b mwN).
[11] 2. Auf Basis dieser, im Verfahren nicht strittigen Grundsätze macht der Bund in seinem Rechtsmittel geltend, dass die Vorinstanzen eine eigenständige Prüfung der Flüchtlingseigenschaft des Kindes vornehmen hätten müssen, weil dieses keine individuellen Fluchtgründe geltend gemacht habe und die vorgelegten Asylentscheidungen schon mehr als ein Jahr zurücklägen. Damit werden die Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht aufgezeigt.
[12] 3. Die Frage, ob die im Verwaltungsverfahren getroffene deklarative Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Kindes eine eigenständige Prüfung entbehrlich macht, hängt von zwei Faktoren ab, nämlich (primär) von der seither vergangenen Zeit aber auch davon, ob Anhaltspunkte für das Fortbestehen oder – aufgrund geänderter Verhältnisse – den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft vorliegen. Das Ergebnis dieser Beurteilung ist notwendigerweise von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägt und daher in der Regel keinen allgemeinen Aussagen zugänglich.
[13] 4. Anders als in bisherigen Entscheidungen (10 Ob 52/20z; 10 Ob 55/20s; 10 Ob 6/21m; 10 Ob 31/22i), in denen eine selbständige Prüfung deshalb notwendig war, weil die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft der Eltern – und von diesen abgeleitet auch jene der Kinder – bereits mehrere Jahre zurücklag, beträgt hier der Zeitraum zwischen der Entscheidung über den Vorschussantrag (9. Juni 2022) und der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Vaters (Bescheid des BFA vom 11. August 2020) weniger als zwei Jahre. Die Feststellung der davon abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft des Kindes (Bescheid des BFA vom 30. Juni 2021) erfolgte sogar (etwas) weniger als ein Jahr vor der Entscheidung über den Vorschussantrag. Ein Zeitraum von „mehreren Jahren“, wie er bislang vom Obersten Gerichtshof zu beurteilen war, liegt somit nicht vor. Zudem hat der Bund weder das Antragsvorbringen des Kindes, wonach die Verhältnisse in seinem Heimatland unverändert seien, bestritten, noch einen Anhaltspunkt aufgezeigt, der für eine seither eingetretene wesentliche Besserung der Sicherheitslage in Syrien oder sonst für die Änderung des Flüchtlingsstatus des Vaters sprechen könnte. Derartiges lässt sich auch den Akten nicht entnehmen. Wenn die Vorinstanzen unter diesen Voraussetzungen von einer eigenständigen Prüfung der Flüchtlingseigenschaft des Vaters absehen und aufgrund der vorgelegten Bescheide des BFA von dessen nach wie vor bestehendem Flüchtlingsstatus sowie dem davon abgeleiteten aufrechten Flüchtlingsstatus des Kindes ausgehen, stellt das keine Fehlbeurteilung dar, die zur Wahrung der Rechtseinheit und Rechtssicherheit korrekturbedürftig wäre.
[14] 5. Da im Revisionsrekurs auch sonst keine Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG angesprochen wird, ist er zurückzuweisen.
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