OGH 10Ob23/09v

OGH10Ob23/09v21.4.2009

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Julian L*****, geboren am 15. November 2001, *****, vertreten durch das Land Oberösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Bezirkshauptmannschaft Rohrbach, Bahnhofstraße 7-9, 4150 Rohrbach), über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 4. Februar 2009, GZ 15 R 6/09x-U8, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Rohrbach vom 28. November 2008, GZ 2 P 511/08p-U1, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Text

Begründung

Der am 15. 11. 2001 geborene Julian L***** ist der Sohn von Petra L***** und Robert L*****. Er ist - ebenso wie seine Eltern - deutscher Staatsangehöriger und lebt bei seiner Mutter in Österreich. Der Vater lebt in Deutschland.

Am 27. 11. 2008 beantragte das Kind die Gewährung von Titelvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von 245 EUR monatlich. Die Führung einer Exekution scheine aussichtslos, weil der Vater keiner versicherungspflichtigen Arbeit nachgehe.

Das Erstgericht bewilligte antragsgemäß die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Höhe von 245 EUR monatlich für den Zeitraum vom 1. 11. 2008 bis 31. 10. 2011.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes Folge und änderte den erstinstanzlichen Beschluss im Sinne einer Antragsabweisung ab. Da der geldunterhaltspflichtige Vater in Deutschland in das dortige System der sozialen Sicherheit eingebunden sei, könne das Kind nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nur in Deutschland einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen als Familienleistungen nach der Verordnung (EWG) 1408/71 geltend machen.

Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil die jüngere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von der früheren Rechtsprechung zur entscheidungswesentlichen Frage abweiche und noch nicht beantwortet sei, ob die Arbeitnehmereigenschaft des betreuenden Elternteils einen ausreichenden Anknüpfungspunkt für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Österreich darstelle. Nach den Erhebungen des Rekursgerichts sei die Mutter in Österreich krankenversichert und insoweit in das Sozialversicherungssystem eingebunden. Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes mit dem Antrag, den antragsstattgebenden Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen.

Der Bund, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, die Mutter und der Vater haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und im Sinn der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt. Der Revisionsrekurswerber macht geltend, der Anspruch des Kindes auf Familienleistungen könne nicht nur vom geldunterhaltspflichtigen Vater, sondern auch von der obsorgeberechtigten Mutter vermittelt werden.

Der 10. Senat des Obersten Gerichtshofs ist jüngst in mehreren Fällen (siehe RIS-Justiz RS0124515) von der in den Entscheidungen 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g (RIS-Justiz RS0122131) vertretenen Ansicht abgegangen, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen iSd Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 daran anknüpft, in welches System der sozialen Sicherheit der Geldunterhaltsschuldner eingebunden ist.

Die Rückkehr zur früheren Rechtsprechung (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77;

9 Ob 157/02g = RIS-Justiz RS0115509 [T3] ua) wurde in den

Entscheidungen 10 Ob 75/08i, 10 Ob 83/08s, 10 Ob 78/08f und 10 Ob 87/08d, je vom 27. 1. 2009, ausführlich begründet und kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

1. Für die Anspruchsberechtigung nach der Wanderarbeitnehmer-VO 1408/71 (im Folgenden: „VO") ist neben der Familienangehörigen-Eigenschaft in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO erfasste Gruppe (tätige oder arbeitslose Arbeitnehmer, Selbständige) fällt.

2. Der weiters als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden. Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustande kommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält.

Im vorliegenden Fall besteht der grenzüberschreitende Gesichtspunkt darin, dass die Mutter, bei der sich der Antragsteller aufhält, eine deutsche Staatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich ist, während der Vater in Deutschland wohnt (vgl 10 Ob 36/08d).

3. Schließlich ist zu prüfen, ob auf den Antragsteller nach den Koordinierungsregeln der VO das österreichische Unterhaltsvorschussgesetz oder (im Hinblick auf den Wohnort des Geldunterhaltsschuldners in Deutschland) das deutsche Unterhaltsvorschussgesetz anzuwenden ist.

3.1. Abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen unterliegen Personen, für die die VO gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats (Art 13 Abs 1 der VO); dieser ist nach Titel II der VO zu bestimmen. Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staats (Beschäftigungslandprinzip, Art 13 Abs 2 lit a der VO).

3.2. Grundsätzlich ist das Recht des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO begründet. Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Geldunterhaltsschuldners ist den Koordinierungsregelungen der VO nicht zu entnehmen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem derjenige Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird.

3.3. Daraus ist zu folgern, dass auch dann, wenn der geldunterhaltspflichtige Elternteil den Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Recht seines Bechäftigungsstaats vermittelt, nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Anspruch auf Vorschüsse in einem anderen Mitgliedstaat durch den betreuenden Elternteil vermittelt wird. Für den Fall, dass für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist in Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 für den Fall, dass Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats von einer Berufstätigkeit abhängen, eine Priorität der Familienleistungen des Wohnsitzstaats der Familienangehörigen normiert (Wohnortstaatprinzip). Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Ausgleichszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind.

Für den vorliegenden Fall ist daraus Folgendes abzuleiten:

Da im Falle eines Zusammentreffens von Ansprüchen aus mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Kindes vorgehen würde, ist zu klären, ob die Mutter des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz (10 Ob 87/08d) in Österreich als tätige oder arbeitslose Arbeitnehmerin oder als Selbständige in das System der sozialen Sicherheit eingebunden war. Zwar hat das Rekursgericht im Rahmen der Begründung seines Zulässigkeitsausspruchs ausgeführt, dass „die Mutter des Antragstellers in Österreich krankenversichert und insoweit in das Sozialversicherungssystem eingebunden" sei. Diese Feststellung ist aber getroffen worden, ohne dass die übrigen Parteien dazu im Sinne des § 15 AußStrG Stellung nehmen hätten können; außerdem geht daraus nicht der Zeitpunkt hervor, auf den die Feststellung abstellt.

Dem Revisionsrekurs des Antragstellers ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.

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