EGMR Bsw44647/98

EGMRBsw44647/9828.1.2003

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Peck gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 28.1.2003, Bsw. 44647/98.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK - Überwachungskameras im öffentlichen Raum und Recht auf Achtung es Privatlebens.

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 11.800,- für immateriellen Schaden; EUR 18.075,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Im April 1994 wurde im Stadtzentrum von Brentwood, Essex, ein Videoüberwachungssystem installiert, um Verbrechen im öffentlichen Raum vorzubeugen. Das vom Stadtrat in Zusammenarbeit mit der Polizei betriebene System wird von einer Kontrollzentrale im Rathaus aus rund um die Uhr von einem Angestellten der Stadtverwaltung überwacht. Dieser verständigt die Polizei, sobald er Vorfälle beobachtet, die deren Eingreifen erforderlich erscheinen lassen.

Am 10.8.1995 ging der unter Depressionen leidende Bf. um 23.30 Uhr mit einem Küchenmesser in der Hand in die Innenstadt, wo er versuchte, sich durch Aufschneiden der Pulsadern das Leben zu nehmen. Er bemerkte nicht, dass er dabei von einer der Überwachungskameras gefilmt wurde. Dem diensthabenden Beamten fiel der mit einem Messer hantierende Bf. auf, woraufhin er die Polizei verständigte. Diese nahm den Bf. mit auf die Polizeistation, wo er ärztlich versorgt wurde. Danach wurde er nach Hause gebracht. Eine Anzeige wurde nicht erstattet.

Am 9.10.1995 veröffentlichte der Stadtrat eine Presseaussendung, in der die Vorzüge des neuen Überwachungssystems gepriesen wurden. Diese enthielt zwei Standbilder, auf denen der Bf. erkennbar war. Der Vorfall wurde als Beispiel dafür ins Treffen geführt, wie gefährliche Situationen dank der neuen Systems entschärft werden könnten. Die Geschichte wurde von zwei lokalen Zeitungen aufgegriffen, die auch ein Foto des Bf. veröffentlichten. Auf Anfrage eines lokalen Fernsehsenders sowie der nationalen Fernsehgesellschaft BBC wurde diesen Videomaterial zur Verfügung gestellt. Aufgrund einer entsprechenden Aufforderung des Stadtrates wurde das Gesicht des Bf. in der Ausstrahlung des Lokalsenders unkenntlich gemacht, er wurde aber dennoch von vielen Bekannten wiedererkannt. In den Vorankündigungen für die Sendung der BBC wurde auf eine Unkenntlichmachung des Bf. vergessen. Dem Bf. wurde durch Hinweise von Bekannten, die ihn im Fernsehen erkannt hatten, erstmals bewusst, dass er gefilmt worden war. Daraufhin wandte er sich an den Stadtrat und beschwerte sich über die geplante Sendung der BBC, wodurch der Stadtrat erstmals von der Identität des Bf. erfuhr. Dieser wandte sich daraufhin an die BBC, um sicherzustellen, dass das Gesicht des Bf. in der geplanten Sendung unkenntlich gemacht würde. Die Produzenten der Sendung entsprachen dieser Aufforderung jedoch nur ungenügend, sodass der Bf. von seiner Familie und Freunden erkannt wurde.

Die Broadcasting Standards Commission stellte aufgrund einer Bsw. des Bf. fest, dass die BBC sein Recht auf Achtung der Privatsphäre verletzt hätte und ordnete eine Veröffentlichung ihres Spruches im Programm der BBC sowie in einer nationalen Tageszeitung an. Die Independent Television Commission stellte fest, dass die lokale Fernsehgesellschaft die Identität des Bf. nicht ausreichend unkenntlich gemacht hätte. Die Press Complaints Commission wies die Bsw. des Bf. zurück.

Der Bf. beantragte eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Stadtrates, das Bildmaterial weiterzugeben. Der High Court stellte fest, dass es dem Stadtrat erlaubt wäre, Bildmaterial an die Medien weiterzugeben, um die Wirksamkeit des Überwachungssystem zu demonstrieren, weil dadurch dessen abschreckende Wirkung auf potentielle Straftäter erhöht würde. Das generelle Ziel der Verbrechensbekämpfung würde auch Eingriffe in das Privatleben des Bf. rechtfertigen. Zudem habe der Stadtrat die Fernsehsender aufgefordert, das Gesicht des Bf. unkenntlich zu machen. Aus diesen Gründen wurde der Antrag abgewiesen. Das Rechtsmittel an den Court of Appeal blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) undund Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Weitergabe von Bildmaterial durch den Stadtrat, die zur Veröffentlichung seines Bildes in den Medien führte, stelle einen nicht gerechtfertigten Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens dar.

Zwar ereignete sich der Vorfall an einem öffentlichen Ort, der Bf. hielt sich jedoch nicht im Stadtzentrum auf, um am öffentlichen Leben teil zu nehmen. Sein Selbstmordversuch selbst wurde zwar nicht aufgezeichnet, er war aber auf den Bildern der Überwachungskamera unmittelbar danach zu sehen. Das Gesicht des Bf. wurde in den Veröffentlichungen in Zeitungen und im Fernsehen nicht ausreichend unkenntlich gemacht. Er wurde von Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn und Kollegen erkannt. Die Handlungen des Bf. wurden daher in einem Ausmaß beobachtet, das weit über eine Beobachtung durch Passanten oder eine Überwachungskamera hinausgeht und in diesem Ausmaß vom Bf. nicht vorhergesehen werden konnte, als er sich im Zentrum von Brentwood aufhielt. Die Weitergabe des Bildmaterials durch den Stadtrat stellt daher einen ernsten Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens dar.

Der GH stellt fest, dass die Information über den erfolgreichen Betrieb des Überwachungssystems geeignet ist, dessen abschreckende Wirkung zu verstärken. Die lokale Behörde war daher gemäß Art. 163 des Criminal Justice and Public Order Act 1994 iVm. Art. 111 des Local Government Act 1972 (Anm.: Gemäß Art. 163 des Criminal Justice and Public Order Act 1994 ist es lokalen Behörden gestattet, zur Verhinderung strafbarer Handlungen ua. Überwachungssysteme zu installieren und zu betreiben. Gemäß Art. 111 (1) des Local Government Act 1972 sind lokale Behörden ermächtigt, alles zu tun, was geeignet ist, ihre Aufgaben zu erleichtern.) befugt, das Bildmaterial an die Medien weiter zu geben. Der Eingriff beruhte daher auf einer gesetzlichen Grundlage. Er verfolgte das legitime Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, der Verhinderung von strafbaren Handlungen und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer.

Der GH anerkennt das große Interesse des Staates an der Verhinderung und Aufklärung von Straftaten. Es steht außer Streit, dass das Überwachungssystem eine wichtige Rolle bei der Erreichung dieses Zieles spielt und Information über ein solches System dazu beitragen kann. Dem Stadtrat standen jedoch zum Erreichen des gleichen Zieles auch andere Möglichkeiten zur Verfügung. Er hätte über die Polizei, die den Bf. aufgegriffen hatte, dessen Identität feststellen und seine Zustimmung zu einer Veröffentlichung einholen können. Er hätte auch das Gesicht des Bf. auf den weitergegebenen Bildern selbst unkenntlich machen können. Der Stadtrat hätte auch die Unkenntlichmachung durch die Fernsehsender bzw. Zeitungen sicher stellen können. Da die Presseerklärung dazu diente, auf die Effektivität des Überwachungssystems zur Verhinderung von Straftaten hinzuweisen, war es nahe liegend, dass die Bilder von den Medien in diesem Zusammenhang veröffentlicht würden. Gerade die Veröffentlichung iZm. strafbaren Handlungen und deren Verhinderung hätte besondere Vorsicht erfordert.

Der GH stellt fest, dass keine ausreichenden Gründe vorlagen, die die Weitergabe des Bildmaterials an die Medien gerechtfertigt hätten. Sie wurde nicht von ausreichenden Maßnahmen zur Verhinderung einer den Bf. in seinem Recht auf Achtung des Privatlebens verletzenden Veröffentlichung begleitet. Die Weitergabe stellt einen unverhältnismäßigen und daher ungerechtfertigten Eingriff in das Privatleben des Bf. dar. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der Bf. bringt vor, ihm sei keine wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz zur Verfügung gestanden, mit der er die Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens geltend hätte machen können. Bei der gerichtlichen Überprüfung (judicial review) der Entscheidung des Stadtrates ging es einzig um die Frage, ob diese vollkommen unsachlich (irrational) gewesen sei. Zwar stellte der High Court einen Eingriff in die Privatsphäre des Bf. fest, er war jedoch der Ansicht, dass der Stadtrat nicht vollkommen unsachlich gehandelt hätte.

Die Schwelle, ab der der High Court die Weitergabe des Bildmaterials durch den Stadtrat als vollkommen unsachlich beurteilt hätte, liegt so hoch, dass sie jede Erörterung der Frage, ob der Eingriff in das Privatleben des Bf. einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach bzw. verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen war, ausschloss. Die gerichtliche Überprüfung stellt daher keine wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz dar. Die verschiedenen Medienkommissionen hatten keine Möglichkeit, dem Bf. Schadenersatz zuzusprechen. Die Verfahren vor diesen können daher nicht als wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz qualifiziert werden. Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 11.800,-- für immateriellen Schaden; EUR 18.075,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Friedl/A v. 31.1.1995, A/305-B (= NL 1995, 28).

Z./FIN v. 25.2.1997 (= NL 1997, 54 = ÖJZ 1998, 152).

Smith & Grady/GB v. 27.9.1999 (= NL 1999, 156 = ÖJZ 2000, 614).

Amann/CH v. 16.2.2000 (= NL 2000, 50 = ÖJZ 2001, 71).

Rotaru/ROM v. 4.5.2000 (= NL 2000, 96 = ÖJZ 2001, 74).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.1.2003, Bsw. 44647/98, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2003, 19) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/03_1/Peck.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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