VwGH 2011/21/0260

VwGH2011/21/026019.3.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des SC, zuletzt in W, vertreten durch die Preslmayr Rechtsanwälte OG in 1010 Wien, Universitätsring 12, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 28. Juni 2011, Zl. UVS-01/40/5460/2011-28, betreffend Festnahme und Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §79a Abs3;
AVG §79a Abs7;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §52 Abs1;
AVG §79a Abs3;
AVG §79a Abs7;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §52 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird in seinem Spruchpunkt I. insoweit, als er die zugrunde liegende Administrativbeschwerde in den Punkten Schubhaftverhängung und Aufrechterhaltung der Schubhaft bis zum 5. Mai 2011 als unbegründet abweist, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Im übrigen Umfang der Anfechtung (Spruchpunkt I.: Abweisung der Administrativbeschwerde im Punkt Festnahme, Spruchpunkt II.:

Kostenzuspruch an den Bund) wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist indischer Staatsangehöriger. Am 4. April 2011 suchte er eine Wiener Polizeiinspektion auf, wo er dann festgenommen wurde. Nach seiner Überstellung in das Polizeianhaltezentrum gab er gemäß der in den Verwaltungsakten erliegenden Niederschrift Folgendes zu Protokoll:

"Ich bin (am) 04.04.2011 von unbekannt am Landweg, versteckt in einem LKW schlepperunterstützt nach Österreich eingereist. Der Zweck meiner Einreise war: Ich wollte nicht nach Österreich. Der Schlepper hat mich hier abgesetzt. Ich kenne mein Zielland nicht.

Bei meiner Einreise war ich im Besitz von: EUR 100.-. Derzeit bin ich im Besitz von EUR 100.-. Ich bin ledig und für niemanden sorgepflichtig. Meine Familie lebt in Indien. In Österreich habe ich keine Angehörige.

Mir ist bekannt, dass ich mich unrechtmäßig in Österreich aufhalte. Ich hatte einen indischen Reisepass, diesen hat der Schlepper mir abgenommen. Ich nehme zur Kenntnis, dass gegen mich die Ausweisung verfügt wird. … Nach Vorhalt und Erörterung des § 51 FPG gebe ich an, dass ich in meiner Heimat weder strafrechtlich noch politisch verfolgt werde. Ich stelle keinen Antrag gem. § 51 FPG.

…"

In der Folge verhängte die Bundespolizeidirektion Wien (BPD) gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG gegen den Beschwerdeführer zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes (§ 60 FPG), des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung (§§ 53, 54 FPG) und der Abschiebung (§ 46 FPG) Schubhaft. Dabei ging die BPD von den zuvor dargestellten niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers aus und hielt fest, dass infolge seiner Mittellosigkeit der Ausweisungstatbestand nach § 53 Abs. 2 Z 4 FPG sowie der Aufenthaltsverbotstatbestand nach § 60 Abs. 2 Z 7 FPG vorlägen. Die Verhängung der Schubhaft zur Sicherung des bzw. der fremdenpolizeilichen Verfahren sei notwendig - im Folgenden der Schubhaftbescheid wörtlich -, "da zu befürchten war, dass Sie sich dem weiteren fremdenrechtlichen Verfahren bzw. Maßnahmen zu entziehen trachten werden, zumal Sie Ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sind. Die Verhängung der Schubhaft ist im Hinblick auf das zu erreichende Ziel angemessen und verhältnismäßig".

Außerdem führte die BPD noch aus, dass die Anordnung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG nicht in Betracht gekommen sei, da kein Grund zur Annahme bestanden habe, dass der Zweck der Schubhaft auch durch dessen Anwendung erreicht werden könne; der Beschwerdeführer sei in Österreich weder sozial, familiär noch beruflich integriert.

Der Beschwerdeführer erhob Beschwerde nach § 82 Abs. 1 FPG und beantragte, seine Festnahme, die Schubhaftnahme und die Anhaltung in Schubhaft ab 4. April 2011 für rechtswidrig zu erklären.

Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien (die belangte Behörde) entschied hierüber mit Bescheid vom 28. Juni 2011 wie folgt:

"I. Gemäß § 83 Absatz 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl I 2005/100 idgF, in Verbindung mit § 67c Absatz 3 AVG wird die Beschwerde gegen die Festnahme, die Schubhaftverhängung und die Aufrechterhaltung der Schubhaft bis zum 5.5.2011 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerdeführer hat dem Bund (Bundespolizeidirektion Wien) gemäß § 83 Absatz 2 FPG in Verbindung mit § 79a Absatz 3 AVG und § 1 der UVS-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl II 2008/456, Aufwendungen (Schriftsatz- und Vorlageaufwand) in der Höhe von 426,25 Euro binnen zwei Wochen, bei sonstiger Exekution, zu ersetzen.

III. Gemäß § 83 Absatz 1 FPG in Verbindung mit § 67c Absatz 3 AVG wird der Beschwerde insoweit Folge gegeben, als festgestellt wird, dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft in der Zeit vom 6.5.2011 bis zur Entlassung am 19.5.2011, 16.00 Uhr, rechtswidrig war.

IV. Der Bund (Bundespolizeidirektion Wien) hat dem Beschwerdeführer gemäß § 83 Absatz 2 FPG in Verbindung mit § 79a Absatz 2 AVG und § 1 der UVS-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl II 2008/456, Aufwendungen (Schriftsatzaufwand) in der Höhe von 737,60 Euro binnen zwei Wochen, bei sonstiger Exekution, zu ersetzen."

Die belangte Behörde stellte, soweit hier von Relevanz, über den eingangs dargestellten unstrittigen Sachverhalt hinaus fest, dass der Beschwerdeführer bei Betreten der Polizeiinspektion am 4. April 2011 gegenüber den Exekutivbeamten nicht zum Ausdruck habe bringen können, was er von diesen wolle. Nach Festnahme und Schubhaftverhängung sei noch am 4. April 2011 gemäß § 53 Abs. 1 FPG eine Ausweisung erlassen und einer etwaigen Berufung die aufschiebende Wirkung aberkannt worden. Erst am 6. April 2011 habe der Beschwerdeführer - im Stand der Schubhaft - einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Dieser Antrag sei - in Verbindung mit einer Ausweisung - mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28. April 2011 abgewiesen worden, wogegen der Beschwerdeführer Beschwerde erhoben habe. Diese sei am 5. Mai 2011 an den Asylgerichtshof weitergeleitet worden. Am 19. Mai 2011 sei schließlich die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Schubhaft erfolgt.

Rechtlich begründete die belangte Behörde ihren Bescheid damit, dass der unrechtmäßig in Österreich aufhältige Beschwerdeführer am 4. April 2011 im Verdacht gestanden habe, eine Verwaltungsübertretung nach § 120 Abs. 1 Z 1 und 2 FPG begangen zu haben. Er habe sich nicht ausweisen können, es habe somit (insbesondere) der Grund des § 39 Abs. 1 Z 1 FPG für eine Festnahme vorgelegen. Diese sei somit zu Recht erfolgt. Was die Schubhaft anlange, so sei sie angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer am 4. April 2011 noch keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, zutreffend auf § 76 Abs. 1 FPG gestützt worden. Der Beschwerdeführer sei am 4. April 2011 - so die belangte Behörde weiter - offenbar erst seit wenigen Stunden im Bundesgebiet aufhältig gewesen, habe keinen Wohnsitz oder sonstige Unterkunft gehabt und über kein Einkommen sowie Angehörige in Österreich verfügt; das Zielland seiner Reise habe er nicht bekannt geben wollen. Das Fehlen eines gültigen Reisedokumentes bewirke, dass eine Direktabschiebung nicht möglich gewesen sei. Die Schubhaft sei daher notwendig gewesen, um die Erlassung einer Ausweisung und die anschließende Abschiebung zu sichern. Anhaltspunkte, die für die bloße Verhängung von gelinderen Mitteln gesprochen hätten, hätten nicht existiert, weil insbesondere das Verschweigen des Ziellandes in Verbindung mit der Unterlassung einer Asylantragstellung die Annahme nahe gelegt hätten, dass der Beschwerdeführer schon am 4. April 2011 nicht beabsichtigt habe, sich in Österreich für ein aufenthaltsbeendendes Verfahren zur Verfügung zu halten. Das rechtfertige die Annahme, dass sich der Beschwerdeführer einem behördlichen Zugriff entziehen oder diesen zumindest wesentlich erschweren werde. Im Hinblick auf seinen unsteten Aufenthalt und fehlende Bindungen in beruflicher, sozialer und familiärer Hinsicht sei der für die Anordnung der Schubhaft unerlässliche Sicherungsbedarf gegeben gewesen. Diese Schubhaft habe gemäß § 76 Abs. 6 FPG auch nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz aufrechterhalten werden dürfen, erst mit 5. Mai 2011 (Beschwerdeerhebung an den Asylgerichtshof) erweise sich ihre weitere Fortsetzung als rechtswidrig.

Ihre Kostenaussprüche begründete die belangte Behörde schließlich damit, dass die Administrativbeschwerde (vor allem) hinsichtlich der Festnahme als unbegründet abgewiesen worden sei; insoweit sei die BPD obsiegende Partei. Umgekehrt sei dem hinsichtlich der Anhaltedauer obsiegenden Beschwerdeführer entsprechender Aufwandersatz zuzuerkennen.

Über die ausdrücklich nur gegen die Spruchpunkte I. und II. dieses Bescheides erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:

Auch in der vorliegenden Beschwerde wird (wie schon in der zugrunde liegenden Administrativbeschwerde) letztlich nicht in Frage gestellt, dass der Beschwerdeführer am 4. April 2011 noch keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Vor diesem Hintergrund erfolgte die Beurteilung des vorliegenden Falles zu Recht am Boden des § 76 Abs. 1 FPG.

Gemäß dieser Bestimmung (in der hier anzuwendenden Fassung vor dem FrÄG 2011) können Fremde festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern.

Die Zulässigkeit dieser Maßnahme verlangt nach der Judikatur die Prüfung ihrer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, wobei eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Außerlandesschaffung (Aufenthaltsbeendigung) und dem privaten Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen ist. Bei dieser Prüfung ist unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses vor allem der Frage nachzugehen, ob im jeweils vorliegenden Einzelfall ein Sicherungsbedürfnis gegeben ist. Das setzt die gerechtfertigte Annahme voraus, der Fremde werde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. nach deren Vorliegen der Abschiebung (insbesondere) durch Untertauchen entziehen oder es/sie zumindest wesentlich erschweren. Für die Bejahung eines Sicherungsbedarfs kommen im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei Prüfung des Sicherungsbedarfs freilich auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen (vgl. in diesem Sinn zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom 16. November 2012, Zl. 2011/21/0127).

Dem Gebot, das Verhalten des Beschwerdeführers in die Beurteilung miteinzubeziehen, haben die Behörden nicht ausreichend Rechnung getragen. Das gilt zunächst und in erster Linie für die BPD, die lediglich mit fehlender Integration und - von vornherein verfehlt, weil noch keine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen war - mit Nichterfüllung der dem Beschwerdeführer zukommenden "Ausreiseverpflichtung" argumentierte. Aber auch die belangte Behörde berücksichtigte letztlich nicht ausreichend, dass der Beschwerdeführer - offenkundig hilfesuchend - von sich aus und unbestritten wenige Stunden nach "Absetzen" durch seinen Schlepper eine Polizeiinspektion aufgesucht hatte. Im Sinn der Beschwerde ist festzuhalten, dass es jedenfalls nicht nahe liegt, dass ein Fremder, der sein Untertauchen plant, dennoch aus freien Stücken eine Sicherheitsbehörde aufsucht. Warum einem allenfalls dennoch vorhandenen Sicherungsbedürfnis nicht durch Verhängung eines gelinderen Mittels hätte Rechnung getragen werden können, ist vor diesem Hintergrund nicht einsichtig. Der bekämpfte Bescheid war daher, soweit er die Administrativbeschwerde in Bezug auf die Schubhaft des Beschwerdeführers abgewiesen hat, gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen prävalierender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Festnahme des Beschwerdeführers ist hingegen aus den von der belangten Behörde zutreffend dargelegten Gesichtspunkten, gegen die in der vorliegenden Beschwerde auch nichts vorgebracht wird, nicht zu beanstanden. Soweit sich die vorliegende Beschwerde gegen die Abweisung der Administrativbeschwerde im Punkt Festnahme richtet - und damit im Grunde des § 79a Abs. 3 und 7 AVG iVm § 52 Abs. 1 VwGG auch, soweit sie den gesonderten Kostenzuspruch an den Bund (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides) bekämpft -, war sie daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 19. März 2013

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