VwGH 2011/21/0127

VwGH2011/21/012716.11.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des A in S, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Salzburg vom 29. April 2011, Zl. UVS-8/10196/4-2011, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs1;
NAG 2005 §44 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
NAG 2005 §44 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Iran, reiste im Oktober 2000 nach Österreich und beantragte hier Asyl. Der Antrag blieb erfolglos.

Am 17. März 2005, nach einer Rücküberstellung aus Großbritannien gemäß der Dublin II-Verordnung, stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Asylantrag. Auch dieser wurde abgewiesen, außerdem wurde der Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 Asylgesetz 1997 in den Iran ausgewiesen. Die Behandlung der gegen das in zweiter Instanz ergangene Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 21. Oktober 2008 erhobenen Beschwerde lehnte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 11. März 2009 ab.

Bereits am 13. März 2009 erging daraufhin an den Beschwerdeführer die Aufforderung, bis spätestens 20. April 2009 das Bundesgebiet zu verlassen. Der Beschwerdeführer, der seinerseits am 1. April 2009 einen Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" nach § 44 Abs. 3 NAG stellte, kam dieser Aufforderung nicht nach. Hierauf erließ die Bundespolizeidirektion Salzburg (BPD) am 26. Mai 2009 gemäß § 74 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG einen Festnahmeauftrag. Dieser konnte (zunächst) nicht vollzogen werden, weil der davor mit Hauptwohnsitz in 5020 Salzburg, H.-Straße, gemeldete Beschwerdeführer ab 28. Mai 2009 nur mehr über eine Obdachlosenmeldung verfügte und nicht greifbar war.

Im November 2010 erlangte die BPD über die Grundversorgungsstelle des Landes Salzburg von einer Mitteilung der Caritas Kenntnis, wonach sich der Beschwerdeführer "sehr oft bei seiner bereits anerkannten Tante … in der W.-Straße, 5020 Salzburg", aufhalte; u.a. wegen des Vermieters der Tante könne er sich nicht in der W.-Straße anmelden.

Unter der eben genannten Adresse war der Beschwerdeführer zuletzt schon im Asylverfahren erfasst worden; diese Adresse schien daher spätestens ab 2009 im AIS auf.

Dort wurde der Beschwerdeführer dann auch am 25. Dezember 2010 festgenommen. Noch am selben Tag verhängte die BPD gemäß § 76 Abs. 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG Schubhaft "zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes sowie zur Ausweisung und Abschiebung". Das begründete die BPD im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei und auch keinen festen Wohnsitz, sondern nur eine von ihm "nicht bewohnte" Meldeadresse in 5020 Salzburg, H.-Straße, habe. Angesichts dessen und weil er "seit der Einleitung des Ausweisungsverfahrens" seit über zwei Jahren untergetaucht sei, sei zu befürchten, dass er sich "dem weiteren fremdenrechtlichen Verfahren bzw. Maßnahmen zu entziehen trachten" werde.

Der erstmals am 27. Dezember 2010 einvernommene Beschwerdeführer wurde am 28. Dezember 2010 aus der Schubhaft entlassen. Ein an das Bundesministerium für Inneres gerichtetes Ersuchen um Erwirken eines Heimreisezertifikates für den Beschwerdeführer wurde am 4. Jänner 2011 u.a. damit beantwortet, "dass die HZ Beantragung/Ausstellung dzt. nur für Rückkehrwillige Iraner möglich" sei.

Der Beschwerdeführer erhob Schubhaftbeschwerde.

Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 29. April 2011 gab der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Salzburg (die belangte Behörde) dieser Beschwerde gemäß § 82 Abs. 1 iVm § 83 Abs. 4 FPG keine Folge. Im vorliegenden Fall seien - so die belangte Behörde -

nach rechtskräftiger Beendigung des Asylverfahrens fremdenpolizeiliche Maßnahmen zur Beendigung des inländischen Aufenthalts des Beschwerdeführers gesetzt worden, die "aber mangels festen Wohnsitzes (laut Melderegister Status 'Obdachlos' seit 28.05.2009) und somit Antreffens" des Beschwerdeführers nicht hätten vollzogen werden können. Der Beschwerdeführer habe in Österreich weder familienrechtliche Bande noch gehe er aktuell einer Erwerbstätigkeit nach. Es habe daher im Zeitpunkt des Aufgreifens und der folgenden Inschubhaftnahme die akute Gefahr bestanden, dass er sich nach bereits längerem illegalen Aufenthalt den unmittelbar bevorstehenden Maßnahmen durch Untertauchen (weiter) entziehen werde. Die Schubhaftverhängung nach § 76 Abs. 1 FPG sei somit "rechtlich korrekt" gewesen und habe auch nicht durch Anwendung gelinderer Mittel ersetzt werden können.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Gemäß § 76 Abs. 1 FPG in der hier anzuwendenden Fassung vor dem FrÄG 2011 können Fremde festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern.

Die Zulässigkeit dieser Maßnahme verlangt nach der Judikatur die Prüfung ihrer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, wobei eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Außerlandesschaffung (Aufenthaltsbeendigung) und dem privaten Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen ist. Bei dieser Prüfung ist unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses vor allem der Frage nachzugehen, ob im jeweils vorliegenden Einzelfall ein Sicherungsbedürfnis gegeben ist. Das setzt die gerechtfertigte Annahme voraus, der Fremde werde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. nach deren Vorliegen der Abschiebung (insbesondere) durch Untertauchen entziehen oder es/sie zumindest wesentlich erschweren. Fehlende Ausreisewilligkeit für sich allein erfüllt dieses Erfordernis noch nicht. Die bloße Nichtbefolgung eines Ausreisebefehls vermag somit für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen, sondern der Sicherungsbedarf muss in weiteren Umständen begründet sein. Für die Bejahung eines Sicherungsbedarfs kommen im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei Prüfung des Sicherungsbedarfs freilich auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 25. März 2010, Zl. 2009/21/0121).

Das im Sinn des eben Gesagten erforderliche Sicherungsbedürfnis sah die BPD erkennbar darin, dass der Beschwerdeführer seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei und dass er nur eine "nicht bewohnte Meldeadresse" in 5020 Salzburg, H.-Straße, habe. Ersteres ist nach den obigen Ausführungen für sich allein nicht wesentlich, Letzteres aber widerspricht der Aktenlage, weil der Beschwerdeführer schon seit 28. Mai 2009 nicht mehr an der von der BPD angeführten Adresse gemeldet war, sondern über eine Obdachlosenmeldung (an einer anderen Adresse) verfügte.

Im bekämpften Bescheid wurde richtig auf diese Obdachlosenmeldung Bezug genommen. Außerdem wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in Österreich weder familienrechtliche Bande habe noch aktuell einer Erwerbstätigkeit nachgehe. Dabei blieb allerdings unbeachtet, dass der Beschwerdeführer bei seiner Tante aufgegriffen wurde. Dieser Aufgriff erfolgte zudem - was in der vorliegenden Beschwerde mit Recht ins Treffen geführt wird - nicht zufällig, sondern auf Grund einer Bekanntgabe der Salzburger Grundversorgungsstelle, die darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass sich der Beschwerdeführer oft bei seiner Tante aufhalte. Seitens der Salzburger Grundversorgungsstelle war in diesem Zusammenhang an die BPD auch die Information weitergeleitet worden, dass sich der Beschwerdeführer (u.a.) "wegen des Vermieters der Tante" nicht an deren Adresse in 5020 Salzburg, W.- Straße, anmelden könne. Das blieb ungeprüft.

Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des bei Schubhaftverhängung noch nicht rechtskräftig erledigten Niederlassungsverfahrens des Beschwerdeführers (Antrag nach § 44 Abs. 3 NAG) lässt sich fallbezogen aber - anders als im bekämpften Bescheid zum Ausdruck gebracht - nicht sagen, bei Schubhaftnahme des Beschwerdeführers habe die akute Gefahr bestanden, dieser werde sich nach bereits längerem illegalen Aufenthalt "den unmittelbar bevorstehenden Maßnahmen durch Untertauchen (weiter) entziehen". Für die Annahme eines beabsichtigten Untertauchens hätte es vielmehr des Vorliegens weiterer Anhaltspunkte in diese Richtung (z.B. Nichtbefolgung von Ladungen) bedurft, die die belangte Behörde jedoch nicht aufzuzeigen vermochte.

Davon abgesehen bleibt offen, welche "unmittelbar bevorstehenden Maßnahmen" die belangte Behörde im Auge hat. Zum einen existierte nämlich ohnehin bereits eine rechtskräftige asylrechtliche Ausweisung, sodass es keines weiteren aufenthaltsbeendenden Titels bedurfte. Zum anderen aber war lt. der oben erwähnten Mitteilung des Bundesministeriums für Inneres vom 4. Jänner 2011 die Beantragung bzw. Ausstellung eines Heimreisezertifikates nur für rückkehrwillige Iraner möglich, weshalb auch eine Abschiebung des Beschwerdeführers offensichtlich von vornherein nicht in Betracht kam.

Zusammenfassend ist damit auf Basis der Überlegungen der belangten Behörde nicht zu sehen, weshalb die Schubhaftnahme des Beschwerdeführers am 25. Dezember 2010 und seine Anhaltung in Schubhaft bis zum 28. Dezember 2010 notwendig waren. Der die Administrativbeschwerde abweisende Bescheid der belangten Behörde war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 16. November 2012

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