VwGH 2011/23/0204

VwGH2011/23/020412.9.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde der O N in W, vertreten durch Reiffenstuhl & Reiffenstuhl Rechtsanwaltspartnerschaft OG in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 41/9, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 22. November 2010, Zl. E1/399.346/2010, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
MRK Art8 Abs2;
MRK Art8;
NAG 2005 §44 Abs4;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
MRK Art8 Abs2;
MRK Art8;
NAG 2005 §44 Abs4;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 610,60 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine ukrainische Staatsangehörige, reiste am 12. März 2003 auf Grund eines Visums legal nach Österreich ein. Ihr am 18. März 2003 gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29. Jänner 2004 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) abgewiesen. Gleichzeitig wurde gemäß § 8 AsylG festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Ukraine zulässig sei. Ihre dagegen erhobene Berufung wurde mit seit 26. Jänner 2010 rechtskräftigem Erkenntnis des Asylgerichtshofes abgewiesen.

In der Folge wurde die Beschwerdeführerin mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 18. Oktober 2010 gemäß § 53 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.

Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit dem angefochtenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (der belangten Behörde) vom 22. November 2010 keine Folge gegeben.

Darin verwies die belangte Behörde zunächst auf die begründenden Ausführungen des erstinstanzlichen Bescheides und auf ein in zweiter Instanz gegen die Beschwerdeführerin wegen unerlaubten Aufenthaltes im Bundesgebiet anhängiges Verwaltungsstrafverfahren. Ferner stellte sie ausführlich das von der Beschwerdeführerin im erstinstanzlichen Verfahren und in der Berufung erstattete Vorbringen dar.

In ihren Erwägungen hielt die belangte Behörde fest, die Beschwerdeführerin sei aktuell ohne Aufenthaltsberechtigung und halte sich daher illegal im Inland auf. Angesichts dieses Umstandes seien die Voraussetzungen zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 FPG gegeben.

Im Rahmen der gemäß § 66 FPG gebotenen Interessenabwägung führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin sei nicht verheiratet und habe keine familiären Bindungen in Österreich behauptet. Sie sei nicht in den heimischen Arbeitsmarkt integriert und nicht selbsterhaltungsfähig. Nach wie vor beziehe sie Leistungen aus der Grundversorgung, zudem habe sie finanzielle Unterstützungen von "dritter Seite" behauptet und eine "Patenschaftserklärung" vorgelegt. Das von ihr geltend gemachte soziale Engagement (die ehrenamtliche Tätigkeit in verschiedenen Vereinen) und die behaupteten Kenntnisse der deutschen Sprache seien in Gesamtheit genauso wenig geeignet, das Interesse der Beschwerdeführerin am Verbleib in Österreich zu verstärken, wie eine ortsübliche Unterkunft, eine bestehende Sozialversicherung, eine "Einstellungszusage" bei einer näher genannten Familie als "Kinderbetreuerin" oder der Bestand eines großen Freundeskreises. Etwaige private Bindungen seien jedenfalls zu einem Zeitpunkt begründet worden, als die Beteiligten sich des unsicheren Aufenthaltes der Beschwerdeführerin bewusst hätten sein müssen, weshalb daraus ableitbare Interessen als relativiert zu gelten hätten. Die in vorgelegten Schreiben enthaltenen Einschätzungen diverser Personen, die die Beschwerdeführerin als "Freundin" bezeichneten und ihr eine gute Integration und sehr gute Deutschkenntnisse attestierten, änderten in der Gesamtschau nichts am maßgeblichen Sachverhalt. Es sei kein Grund ersichtlich, warum die Beschwerdeführerin, der eine Auslandsantragstellung unbenommen sei, die geltend gemachten Bindungen und Freundschaften nicht auch vom Ausland aus aufrechterhalten könnte. Ebenso könnte eine etwaige finanzielle Unterstützung der Beschwerdeführerin durch die bereits erwähnte Familie auch durch Auslandsüberweisung geleistet werden.

Der Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin stehe gegenüber, dass sie erhebliche öffentliche Interessen an einem geordneten Fremdenwesen beeinträchtige, weil sie zwar mit einem "Sichtvermerk" nach Österreich gelangt sei, diesen aber offenbar erschlichen habe, weil sie - wie sich aus dem abgeschlossenen Asylverfahren ergebe - in Österreich allein eine Asylantragstellung und nicht einen touristischen Aufenthalt im Schengen-Raum angestrebt habe, und den aktuell unerlaubten Aufenthalt fortsetze.

Die von der Beschwerdeführerin behaupteten Asylgründe - so die belangte Behörde weiter - hätten sich von Anfang an als unzutreffend erwiesen. Ihr Vorbringen, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in die Ukraine hinsichtlich Unterkunft, Verpflegung und Arbeitsplatz keine ausreichenden Möglichkeiten vorfände, existenziell gefährdet wäre, und dass zudem keine Bindungen mehr in der Ukraine bestünden, stehe im Widerspruch zu ihrem Vorbringen und den erwiesenen Tatsachen im Asylverfahren. Die Beschwerdeführerin weise in der Ukraine familiäre Bindungen auf, lebe dort doch ihr Sohn. Die Beschwerdeführerin habe den Großteil ihres Lebens in der Ukraine verbracht, sei dort fundiert ausgebildet worden und habe in ihrem Heimatland auch jahrelang gearbeitet. Sie besitze nach den Feststellungen des Asylgerichtshofes in der Ukraine auch ein eigenes Haus, sodass ihre Unterkunft gesichert erscheine.

Eine entsprechende Interessenabwägung habe kein Überwiegen der persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an der Beendigung ihres Aufenthaltes ergeben. Die Erlassung der Ausweisung sei dringend geboten und sohin zulässig im Sinn des § 66 FPG.

Es seien auch keine besonderen Umstände ersichtlich, die die Behörde zu einer Abstandnahme von der Ausweisung im Rahmen des ihr gemäß § 53 Abs. 1 FPG eingeräumten Ermessens veranlassen müssten. Daran ändere auch die Antragstellung der Beschwerdeführerin auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nichts.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 28. Februar 2011, B 1736/10-3, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Über die von der Beschwerdeführerin auftragsgemäß ergänzte Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass der angefochtene Bescheid vom Verwaltungsgerichtshof auf Basis der Sach- und Rechtslage bei seiner Erlassung zu überprüfen ist. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG und des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) Bezug genommen, so handelt es sich dabei jeweils um die im November 2010 geltende Fassung der genannten Gesetze.

Gemäß § 53 Abs. 1 FPG können Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. In der Beschwerde wird nicht bestritten, dass das Asylverfahren der Beschwerdeführerin rechtskräftig negativ beendet und ihre vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz mit 26. Jänner 2010 widerrufen wurde. Die Beschwerdeführerin behauptet auch nicht, dass ihr ein Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet erteilt worden wäre. Die behördliche Annahme, der Tatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei verwirklicht, ist daher zutreffend.

Dem Hinweis der Beschwerdeführerin auf einen von ihr gestellten Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 44 Abs. 4 NAG und auf das diesbezüglich anhängige Verfahren ist zu entgegnen, dass diese Umstände der Erlassung einer Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 FPG nicht entgegenstehen (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 2010, Zl. 2010/21/0214, mwN).

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei einer Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 29. Februar 2012, Zl. 2010/21/0233, mwN).

Die Beschwerdeführerin verweist in diesem Zusammenhang auf ihren bereits sieben Jahre und acht Monate dauernden Aufenthalt in Österreich, ihre legale Einreise, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache (auf "Niveaustufe A2"), auf intensive Kontakte zu vielen (in der Beschwerde teilweise namentlich genannten) Freunden, auf eine verbindliche Arbeitszusage als Kinderbetreuerin, finanzielle Zuwendungen einer näher genannten Familie und eine "Patenschaftserklärung", wodurch ihre finanzielle Zukunft in Österreich gesichert sei. Die behördliche Feststellung, dass die Beschwerdeführerin sich den "Sichtvermerk" für die Einreise nach Österreich und ihren darauf fußenden Aufenthalt erschlichen habe, sei unrichtig. Die lange Dauer des Asylverfahrens, in dem sie keine Folgeanträge gestellt habe, könne ihr nicht zum Nachteil gereichen. Auf Grund der langen Dauer des Asylverfahrens habe sie sich vielmehr berechtigte Hoffnungen auf einen positiven Ausgang machen dürfen. Sie sei von ihrem Heimatland zur Gänze "entfremdet". Im Falle ihrer Rückkehr in die Ukraine wäre sie mittel- und obdachlos. Die familiäre Bindung zu ihrem in ihrem Heimatland lebenden Sohn werde durch dessen Volljährigkeit und seine inzwischen erfolgte Heirat gemindert. Sie habe in der Ukraine größere Schulden gehabt, die vor ihrer Ausreise von ihr durch "mafiaähnliche Organisationen" zurückgefordert worden seien.

Diesem Vorbringen ist zunächst zu entgegnen, dass die Beschwerdeführerin (spätestens) nach der erstinstanzlichen Abweisung ihres Asylantrages mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29. Jänner 2004 - auch wenn sie subjektiv berechtigte Hoffnungen auf ein positives Verfahrensende gehabt haben sollte - im Hinblick auf die negative behördliche Beurteilung ihres Antrages von einem nicht gesicherten Aufenthaltsstatus ausgehen musste. Es entspricht aber der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in seinem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen. Freilich hat die bei der Interessenabwägung vorzunehmende Relativierung der während unsicheren Aufenthalts erworbenen Integration vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass ihr überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (vgl. dazu etwa das bereits zitierte Erkenntnis Zl. 2010/21/0233, mwN).

Dafür reichen aber die im vorliegenden Fall in der Beschwerde ins Treffen geführten Umstände (insbesondere die Aufenthaltsdauer bis zur Bescheiderlassung von ca. sieben Jahren und acht Monaten, ohne dass dieser Zeitraum durch Folgeanträge der Beschwerdeführerin im Asylverfahren verursacht worden wäre, die vorgebrachte Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit, die Arbeitszusage als Kinderbetreuerin, die für sie abgegebene "Patenschaftserklärung", die geltend gemachten Deutschkenntnisse und der große Freundeskreis) nicht aus. Aus den genannten Umständen hätte die belangte Behörde noch nicht ableiten müssen, dass die Ausweisung der Beschwerdeführerin aus Österreich unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK am Maßstab der in § 66 Abs. 2 FPG angeführten Kriterien unverhältnismäßig sei. Die geltend gemachten - nur das Privat- und nicht auch das Familienleben der Beschwerdeführerin betreffenden - Umstände stellten sich auch in Verbindung mit der Aufenthaltsdauer nicht als so außergewöhnlich dar, dass unter dem genannten Gesichtspunkt von einer Ausweisung hätte Abstand genommen und akzeptiert werden müssen, dass die Beschwerdeführerin mit ihrem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf ihren Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen.

Im vorliegenden Fall ist es somit im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass die belangte Behörde das Interesse der Beschwerdeführerin an einem weiteren Aufenthalt in Österreich nicht höher einschätzte als das gegenläufige, der Aufrechterhaltung des - hoch zu bewertenden - geordneten Fremdenwesens dienende öffentliche Interesse an der Beendigung des seit Ende Jänner 2010 unrechtmäßigen Inlandsaufenthaltes der Beschwerdeführerin (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 24. November 2011, Zl. 2011/23/0465, sowie das bereits zitierte Erkenntnis vom 29. Februar 2012, Zl. 2010/21/0233, jeweils mwN).

Hinsichtlich des Vorbringens der Beschwerdeführerin, vor ihrer Ausreise seien größere Schulden von ihr durch "mafiaähnliche Organisationen" zurückgefordert worden, ist darauf hinzuweisen, dass eine allfällige, die Abschiebung unzulässig machende Gefährdungs- oder Bedrohungssituation im Heimatstaat nicht in dem, dem angefochtenen Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsverfahren, sondern vor allem im Verfahren über die Gewährung internationalen Schutzes nach dem Asylgesetz zu prüfen ist (vgl. erneut das bereits zitierte Erkenntnis Zl. 2011/23/0465, mwN).

In der Beschwerde werden schließlich auch keine Gründe aufgezeigt, wonach die Ermessensübung durch die belangte Behörde nicht im Sinne des Gesetzes erfolgt wäre.

Die Beschwerde war somit gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 12. September 2012

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte