VwGH 2009/22/0299

VwGH2009/22/029924.4.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des A, vertreten durch Dr. Nikolaus Schirnhofer, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Aspernbrückengasse 4/8a, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 18. Mai 2009, Zl. 318.027/5-III/4/09, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
NAG 2005 §11 Abs1 Z2;
NAG 2005 §21 Abs1;
12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
NAG 2005 §11 Abs1 Z2;
NAG 2005 §21 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.189,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines Staatsangehörigen des Kosovo, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger einer österreichischen Staatsbürgerin gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Dies begründete sie damit, dass gegen den Beschwerdeführer in der Bundesrepublik Deutschland ein unbefristetes "Einreise/Aufenthaltsverbot" verhängt worden sei. Diese Maßnahme sei wegen Vergewaltigung in drei Fällen in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in acht Fällen, vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen sowie einer Nötigung erlassen worden.

Der Beschwerdeführer habe mitgeteilt, dass seitens der Bundesrepublik Deutschland die Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) gelöscht worden wäre. Diesbezüglich habe er in Kopie die Benachrichtigung der deutschen Behörde beigelegt, woraus ersichtlich sei, dass das im Schengener Informationssystem gespeicherte Aufenthaltsverbot gelöscht und somit in ein nationales Aufenthaltsverbot umgewandelt werden solle. Jedoch dürfe der Beschwerdeführer auch weiterhin in die Bundesrepublik Deutschland nicht einreisen. Sollte er in Deutschland angetroffen werden, müsste er mit einer Inhaftierung und Abschiebung rechnen.

"Unbeschadet dieser Einwendungen" stehe fest, dass gegen den Beschwerdeführer ein rechtskräftiges Aufenthaltsverbot eines anderen EWR-Staates bestehe, weshalb die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 NAG zwingend zu versagen sei. Überdies könne der angestrebte Aufenthaltstitel auch deshalb nicht erteilt werden, weil gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG der Aufenthalt des Beschwerdeführers den öffentlichen Interessen widerstreite.

Ein zwingender Versagungsgrund sei einer Abwägung im Sinn des Art. 8 EMRK nicht zugänglich.

Der Verfassungsgerichtshof hat die gegen diesen Bescheid an ihn erhobene Beschwerde nach Ablehnung ihrer Behandlung mit Beschluss vom 21. September 2009, B 787/09-4, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten, der über die ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 NAG in der hier anzuwendenden Stammfassung dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nicht erteilt werden, wenn gegen ihn ein Aufenthaltsverbot eines anderen EWR-Staates besteht. Dass im vorliegenden Fall ein solches jedenfalls für die Bundesrepublik Deutschland (noch) aufrecht ist, ist auch aus der vom Beschwerdeführer der belangten Behörde vorgelegten Mitteilung der deutschen Behörde abzuleiten. Auch ein vom Beschwerdeführer so bezeichnetes "Rückkehrverbot" verbietet im Übrigen dem Betroffenen den Aufenthalt im bezeichneten Staat und unterscheidet sich von einem Aufenthaltsverbot nur durch das Fehlen einer (nicht mehr erforderlichen) Ausreiseanordnung.

Es darf aber gemäß dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 15. November 2011, C-256/11 , "Dereci u.a.", ein Aufenthaltstitel dann nicht verweigert werden, wenn dies dazu führen würde, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Angehörige sich de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihm die Inanspruchnahme des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre. Zu dieser Frage, die bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war, wird die belangte Behörde nach Einräumung von Parteiengehör allenfalls Feststellungen zu treffen und eine Beurteilung, die nicht mit der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen ist, vorzunehmen haben (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. März 2012, 2009/22/0211).

Für den Fall, dass Gründe im soeben genannten Sinn vorliegen sollten, wird angesichts der früheren Straffälligkeit des Beschwerdeführers zu prüfen sein, ob sein Aufenthalt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen könnte. Diesfalls wäre die Verweigerung des Aufenthaltstitels dann auch unionsrechtlich zulässig, wenn die Trennung des Beschwerdeführers von seiner die österreichische Staatsbürgerschaft - und somit auch die Unionsbürgerschaft - besitzenden Ehefrau hinzunehmen wäre. Da es sich hierbei um die Einschränkung von aus der Unionsbürgerschaft herrührender Rechte handelt, kann bei der Beurteilung kein geringerer Maßstab angelegt werden, als es das Unionsrecht im Fall eines Angehörigen eines sonstigen ("gewanderten") Unionsbürgers vorgibt, unter denen auch dieser die Trennung von seinen Angehörigen und somit allenfalls damit verbunden die Einschränkung der Rechte aus der Unionsbürgerschaft - etwa weil dem Unionsbürger durch Weigerung des Mitgliedstaates, seinem Angehörigen den Aufenthalt (weiterhin) zu gewähren, die (weitere) Inanspruchnahme seines Rechtes auf Freizügigkeit erschwert oder verunmöglicht wird - hinzunehmen hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. März 2012, 2008/22/0140). Davon kann aber nicht schon allein deshalb ausgegangen werden, weil in einem anderen Mitgliedstaat immer noch ein Aufenthaltsverbot besteht, zumal es für dessen Erlassung bezogen auf die Intensität des Fehlverhaltens unterschiedliche Gründe geben kann.

Der Vollständigkeit halber ist zu dem auf § 11 Abs. 2 Z 1 NAG Bezug nehmenden (oben wiedergegebenen) Teil der Bescheidbegründung auszuführen, dass für die Bejahung der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit eine das Gesamtfehlverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten ist; dabei hat die Behörde (auch) im Fall von strafgerichtlichen Verurteilungen gestützt auf das diesen zugrunde liegende Fehlverhalten eine Gefährdungsprognose zu treffen. Die damit erforderliche, auf den konkreten Fall abzustellende individuelle Prognosebeurteilung ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (vgl. für viele das hg. Erkenntnis vom 9. Juli 2009, 2009/22/0107).

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid schon deswegen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht - im begehrten Ausmaß - auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 24. April 2012

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