VwGH 2009/22/0272

VwGH2009/22/027228.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des I, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 18. August 2009, Zl. 153.347/2-III/4/09, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines indischen Staatsangehörigen, vom 30. Oktober 2008 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" zur Familienzusammenführung mit seiner österreichischen Ehegattin gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Dies begründete sie im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer am 24. November 2004 erstmals in Österreich einen Asylantrag gestellt habe; dieser sei rechtskräftig abgewiesen worden. Ein neuerlicher Asylantrag vom 17. August 2007 sei wegen entschiedener Sache ebenfalls rechtskräftig "negativ" entschieden worden.

Der Beschwerdeführer sei mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 12. Jänner 2008 gemäß den §§ 107 Abs. 1, 105 Abs. 1, 15, 83 Abs. 1, 88 Abs. 1, 223 Abs. 1 und 2, 224 und 297 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, davon sieben Monate bedingt nachgesehen, verurteilt worden. "Auf Grund des angeführten Sachverhaltes widerstreitet Ihr Aufenthalt den Interessen im Sinne des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG."

Bei der Auslegung des Begriffs "sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde" in § 11 Abs. 4 Z 1 NAG sei eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten; dabei habe die Behörde im Fall von strafgerichtlichen Verurteilungen gestützt auf das diesen zu Grunde liegende Fehlverhalten eine Gefährdungsprognose an Hand der Umstände des Einzelfalles zu treffen. Betrachte man zusammenfassend alle vom Beschwerdeführer verübten Delikte, dokumentiere sich eine von Unrechtsverhalten geprägte Gesinnung. Der Beschwerdeführer stelle jedenfalls auch in Zukunft eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar.

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK sei die Verweigerung des Aufenthaltstitels, sofern damit das Privat- und Familienleben des Antragstellers "angegriffen" würde, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele notwendig sei. Bei Abwägung der privaten Interessen mit den öffentlichen Interessen im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK habe die belangte Behörde sehr wohl berücksichtigt, dass durch den Aufenthalt der Ehefrau und des unehelichen Kindes in Österreich unabsprechbare familiäre Bindungen im Bundesgebiet bestünden. Trotzdem hätten die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers gegenüber der Wahrung der öffentlichen Ordnung zur Verhinderung von weiteren strafbaren Handlungen zurückzustehen. Die vom Beschwerdeführer gesetzten Delikte wögen für die getroffene Entscheidung besonders schwer. Demnach seien die öffentlichen Interessen höher zu werten als die nachteiligen Folgen einer Verweigerung des Aufenthaltstitels auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG (in der Stammfassung) dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt nicht öffentlichen Interessen widerstreitet. Gemäß § 11 Abs. 4 leg. cit. widerstreitet der Aufenthalt eines Fremden u. a. dann dem öffentlichen Interesse, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde (Z 1).

Diesbezüglich zitiert die belangte Behörde selbst die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die auf den konkreten Fall abzustellende individuelle Prognosebeurteilung jeweils an Hand der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 9. Juli 2009, 2009/22/0107). Dessen ungeachtet unterlässt sie aber konkrete Feststellungen zur angeführten Verurteilung und über das dieser Verurteilung zu Grunde liegende Fehlverhalten. Schon dadurch ist der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet.

Dies trifft auch auf die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zu, die die belangte Behörde bei Anwendung des § 11 Abs. 3 NAG vorzunehmen hat. Gemäß dieser Bestimmung kann ein Aufenthaltstitel trotz Vorliegens bestimmter Erteilungshindernisse sowie trotz Ermangelung bestimmter Voraussetzungen erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 9. November 2010, 2009/21/0031, und vom 21. Februar 2012, 2011/23/0275). In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners, insbesondere zu den Wohnverhältnissen, der Art ihrer Beschäftigungen und den erzielten Einkommen, aber etwa auch zur Frage der Deutschkenntnisse sowie zu den Bindungen zum Heimatstaat und zur Möglichkeit und Zumutbarkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden. Im vorliegenden Fall hat sich die belangte Behörde damit begnügt, den öffentlichen Interessen an der Verweigerung des Aufenthaltstitels den Familienstand des Beschwerdeführers gegenüberzustellen. Wie bereits ausgeführt, wurden aber weder zum Fehlverhalten des Beschwerdeführers nähere Feststellungen getroffen noch zu seinen Lebensverhältnissen und denen seiner in Österreich lebenden Familie.

Letztlich gleicht der Beschwerdefall vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union im Urteil vom 15. November 2011, C-256/11 "Dereci u.a.", darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht an Hand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach es das Unionsrecht gebietet, dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt zu gewähren, darstellt, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, 2011/22/0309, zu Grunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

Auch im vorliegenden Fall wird die belangte Behörde dazu allenfalls im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben.

Wegen dieser vorgehenden inhaltlichen Rechtswidrigkeit war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 28. März 2012

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