VwGH 2008/21/0028

VwGH2008/21/00285.7.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und den Hofrat Dr. Pelant sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des K, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Ring 6, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 6. Juli 2007, Zl. Senat-FR-07-3021, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §10;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 2005 §10;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde eine vom Beschwerdeführer, einem armenischen Staatsangehörigen, eingebrachte Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ab und stellte unter einem gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei am 3. Juni 2007 mit seiner Ehefrau und seiner minderjährigen Tochter über die Grenzkontrolle Drasenhofen in das Bundesgebiet eingereist und habe im Zuge der Einreisekontrolle einen Asylantrag gestellt. Er und seine Familie hätten keine gültigen Reisedokumente, sondern lediglich Kopien von Reisepässen sowie tschechische Identitätsausweise mit sich geführt, in denen tschechische Aufenthaltstitel ersichtlich gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe angegeben, bereits am 11. Februar 2005 in der Tschechischen Republik um Asyl angesucht, jedoch bereits dreimal einen negativen Bescheid erhalten zu haben. Die Familie habe daher das Gebiet der Tschechischen Republik verlassen müssen. Ein durchgeführter EURODAC-Abgleich habe zwei Treffer für die erwachsenen Personen erbracht. Auf Grund der Dublin-Relevanz habe die Bezirkshauptmannschaft Mistelbach gegen den Beschwerdeführer einen Schubhaftbescheid erlassen und die Überstellung in das Polizeianhaltezentrum Hernals veranlasst. Die Ehefrau und Tochter des Beschwerdeführers seien unter Anwendung eines gelinderen Mittels in einer Pension untergebracht worden, was offensichtlich auf Grund des Gesundheitszustandes der Tochter erforderlich gewesen sei.

Der dargestellte "Dublin II-Bezug" bedeute, dass zu erwarten sei, der bei der Einreise gestellte Antrag auf internationalen Schutz werde mangels Zuständigkeit Österreichs zurückgewiesen werden. Der Beschwerdeführer verfüge über keine für einen Aufenthalt in Österreich ausreichenden Barmittel. Es sei weder ihm noch seinen Angehörigen möglich, einer rechtmäßigen Beschäftigung nachzugehen. Eine legale Ausreise aus eigenem Antrieb sei mangels eines gültigen Reisedokumentes nicht möglich.

Im Hinblick auf "die in § 76 (1 und 2) FPG 2005 umschriebenen Schubhaftzwecke" sei nicht abschließend zu beurteilen, ob die zu sichernden Maßnahmen wie Aufenthaltsverbot, Ausweisung oder Abschiebung tatsächlich erlassen oder verhängt würden, vielmehr genüge es, dass die Behörde auf Grund der ihr bis zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung bekannten Umstände berechtigten Grund zur Annahme haben könne, dass diese "Maßnahmen, Verfahrensschritte oder Vollzugshandlungen" möglich sein würden.

Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft gegenüber allfällig anwendbaren gelinderen Mitteln im Sinne des § 77 FPG sei Folgendes festzustellen: Im Zusammenhalt mit dem bisher Gesagten ergebe sich unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Beschwerdeführer im Inland weder beruflich noch sozial verankert sei, dass in Bezug auf seine Person die begründete Befürchtung bestehe, er werde im Bundesgebiet untertauchen und sich dem behördlichen Zugriff entziehen bzw. versuchen, durch "illegale Beschäftigung o.ä." den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern. Diesbezüglich werde auch kein Widerspruch zu der Unterbringung der Familienangehörigen unter Anwendung eines gelinderen Mittels gesehen.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 5. Dezember 2007, B 1639/07-7 ablehnte und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Über die - auftragsgemäß ergänzte - Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die belangte Behörde hat bei Prüfung des Schubhaftgrundes nicht ausreichend berücksichtigt, dass ungeachtet des Vorliegens eines Tatbestandes nach § 76 Abs. 2 FPG - hier infolge der nachvollziehbaren Annahme, es werde wegen der wahrscheinlichen Zuständigkeit der Tschechischen Republik im Asylverfahren zur Antragszurückweisung und Erlassung einer Ausweisung nach § 10 AsylG 2005 kommen, vorerst jenes nach der Z 4 und nach der (der Aktenlage entnehmbaren) Einleitung des Ausweisungsverfahrens jenes nach der Z 2 - die Anhaltung eines Asylwerbers in Schubhaft nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die (schon) in diesen frühen Asylverfahrensstadien ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen (vgl. ausführlich das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043).

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach betont, dass die Verhängung der Schubhaft in "Dublin-Fällen" nicht zu einer Standardmaßnahme gegen Asylwerber werden darf. Besondere Gesichtspunkte, die erkennen ließen, es handle sich hier um eine von den typischen "Dublin-Fällen" abweichende Konstellation, in der mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auf Grund konkreter Anhaltspunkte auf eine drohende Verfahrensvereitelung durch den Beschwerdeführer geschlossen hätte werden können, sind dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen. Die belangte Behörde weist auf das Fehlen eines Reisedokuments und das Fehlen von Barmitteln hin. Dabei handelt es sich allerdings um keine Umstände, die den gegenständlichen Fall gegenüber sonstigen typischen "Dublin-Fällen" auszeichnen würden und die Notwendigkeit der Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft darlegen könnten, und zwar ungeachtet dessen, dass im Asylverfahren das Ausweisungsverfahren auch formell eingeleitet wurde.

Soweit die belangte Behörde auf das Fehlen einer beruflichen und sozialen Integration des Beschwerdeführers abstellt, handelt es sich dabei in Bezug auf (wie der Beschwerdeführer noch nicht lange in Österreich aufhältige) Asylwerber, die Anspruch auf Grundversorgung haben, um kein tragfähiges Argument für das Bestehen eines Sicherungsbedarfes. Die Heranziehung des Gesichtspunktes, der Fremde sei in Österreich nicht ausreichend integriert, ist vielmehr bei Asylwerbern in der Situation des Beschwerdeführers verfehlt. Der Frage der Integration kommt primär im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG Bedeutung zu (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Oktober 2010, Zl. 2007/21/0068, mwN).

Hinzu kommt noch, dass sich die belangte Behörde unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft nicht mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend den Gesundheitszustand seines behinderten Kindes, das der Pflege durch beide Eltern bedürfe, auseinandergesetzt hat.

Der angefochtene Bescheid war sohin schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am 5. Juli 2011

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