VwGH 2008/22/0440

VwGH2008/22/044011.5.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerden 1. der F), 2. der G), 3. des G) und 4. des G), alle vertreten durch die Rechtsanwaltsgemeinschaft Mory & Schellhorn OEG in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen die Bescheide des Bundesministers für Inneres vom 15. Mai 2007, 1. Zl. 313.777/3- III/4/07, 2. Zl. 313.777/4-III/4/07, 3. Zl. 313.777/5-III/4/07 und

4. Zl. 313.777/6-III/4/07, jeweils betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art6;
NAG 2005 §1 Abs2 Z1;
VwGG §28 Abs1 Z4;
VwGG §34 Abs1;
EMRK Art6;
NAG 2005 §1 Abs2 Z1;
VwGG §28 Abs1 Z4;
VwGG §34 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die aus dem Kosovo stammende Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der übrigen beschwerdeführenden Parteien. Alle sind serbische Staatsangehörige.

Mit den angefochtenen, im Wesentlichen inhaltsgleichen im Instanzenzug ergangenen Bescheiden vom 15. Mai 2007 wies die belangte Behörde die am 20. Dezember 2005 eingebrachten Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf Erteilung von Erstniederlassungsbewilligungen für den Zweck "Drittsta. - Ö, § 49 Abs. 1 FrG" gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.

Begründend führte die belangte Behörde aus, die Erstbeschwerdeführerin habe für sich und ihre Kinder die Anträge auf Erteilung von Erstniederlassungsbewilligungen im Inland bei der Bezirkshauptmannschaft S eingebracht und die beschwerdeführenden Parteien hätten sich seit Oktober 2002 bzw. der Viertbeschwerdeführer habe sich seit seiner Geburt am 15. Juli 2005 durchgehend in Österreich aufgehalten. Somit stehe fest, dass sich die beschwerdeführenden Parteien vor, während und nach der Antragstellung in Österreich aufgehalten hätten.

Mit den gegenständlichen Anträgen hätten die beschwerdeführenden Parteien eine Familienzusammenführung mit dem Vater der Erstbeschwerdeführerin bzw. dem Großvater der übrigen beschwerdeführenden Parteien, der seit April 2004 österreichischer Staatsbürger sei, angestrebt. Bei den gegenständlichen Anträgen handle es sich um Erstanträge, die gemäß § 21 Abs. 1 NAG vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland eingebracht hätten werden müssen, wobei die Entscheidungen im Ausland abgewartet hätten werden müssen. Unter Hinweis auf die mit den Eingaben vom 21. November 2006 und 9. Februar 2007 behaupteten besonderen humanitären Sachverhaltskonstellationen würden Inlandsantragstellungen bzw. die daraus resultierenden Entgegennahmen der Aufenthaltstitel im Inland gemäß § 74 NAG nicht zugelassen. Die angekündigten weiteren Urkundenvorlagen seien nicht erfolgt.

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden Beschwerden mit den Anträgen, die Bescheide aufzuheben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die - wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Beschwerden nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Vorweg ist anzumerken, dass sich die Beurteilung der gegenständlichen Fälle im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Bescheide nach der Rechtslage des NAG in der Fassung des BGBl. I Nr. 99/2006 richtet.

Unbestritten ist davon auszugehen, dass es sich bei den Anträgen der beschwerdeführenden Parteien um Erstanträge handelt, auf die § 21 Abs. 1 NAG, wonach Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen seien und die Entscheidung darüber im Ausland abzuwarten sei, Anwendung findet, die Anträge im Inland gestellt und die Entscheidungen im Inland abgewartet wurden.

Die beschwerdeführenden Parteien weisen jeweils auf ihre Berechtigung zur Antragstellung im Inland nach der Bestimmung des - mit 31. Dezember 2005 außer Kraft getretenen - § 47 Abs. 3 Z. 2 Fremdengesetz 1997 - FrG hin und führen dazu aus, durch die angefochtenen Bescheide werde in wohlerworbene Rechte eingegriffen. Zusätzliche Formalvoraussetzungen, die zum Zeitpunkt der Antragstellung nach dem FrG noch nicht vorgesehen gewesen seien, dürften nicht zu Ungunsten der Parteien "zu einer Zurückweisung" der Anträge führen.

Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass es sich bei dem Erfordernis nach § 21 Abs. 1 NAG nicht um ein bloßes Formalerfordernis, sondern um eine Erfolgsvoraussetzung handelt. Darüber hinaus ist dem NAG weder ein Rückwirkungsverbot noch eine Regelung zu entnehmen, der zufolge auf vor dessen Inkrafttreten verwirklichte Sachverhalte die Bestimmungen des mit Ablauf des 31. Dezember 2005 außer Kraft getretenen FrG anzuwenden wären (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Februar 2010, 2008/22/0202, mwN). Ein einen Aufenthaltstitel versagender Bescheid berührt auch kein "civil right" im Sinn des Art. 6 EMRK (vgl. auch dazu das erwähnte Erkenntnis vom 18. Februar 2010, mwN).

Ausgehend von der zutreffenden Ansicht der belangten Behörde, dass das Erfordernis der Auslandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung der gegenständlichen Anträge entgegensteht, Inlandsantragstellungen aber ausnahmsweise nach den §§ 72 ff NAG zuzulassen wären, hat die belangte Behörde jeweils zutreffend erkannt, das Vorliegen humanitärer Gründe im Sinn des § 72 NAG prüfen zu müssen.

Liegen nämlich die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis vom 18. Februar 2010, mwN).

Bereits in der Berufung vom 27. Juli 2006 wurde vorgebracht, dass die Erstbeschwerdeführerin mit den zweit- und drittbeschwerdeführenden Parteien vor beinahe fünf Jahren den Kosovo verlassen habe und dort keinerlei Unterkunft und Lebensgrundlage mehr vorfinde. Das Haus, in dem die Erstbeschwerdeführerin mit ihren beiden älteren Kindern gelebt habe, werde mittlerweile von anderen "Verwandten" (dem Schwiegersohn des Bruders und zwei Schwestern des Schwiegersohnes) bewohnt. Auch die medizinische Versorgung der Kinder sei im Kosovo nicht gewährleistet. Die älteren Kinder gingen in Österreich zur Schule, der Viertbeschwerdeführer sei in Österreich geboren worden. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der übrigen beschwerdeführenden Parteien werde im Kosovo verfolgt, weil er mit den Serben zusammengearbeitet habe. In Österreich seien die beschwerdeführenden Parteien vollkommen integriert. Im Kosovo wäre die Erstbeschwerdeführerin mit ihren drei Kindern völlig auf sich allein gestellt, weil ihr Ehemann infolge der ihn im Kosovo erwartenden Verfolgung nicht dorthin zurückkehren könne.

Die Beschwerden bringen diesbezüglich vor, die angefochtenen Bescheide enthielten weder ausreichende Feststellungen der Sachverhalte betreffend das Vorliegen humanitärer Gründe noch nachvollziehbare Begründungen, weshalb die Inlandsantragstellung jeweils nicht zugelassen werde.

Dadurch, dass die belangte Behörde ein "weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK," für entbehrlich erachtete, hat sie keine Feststellungen zu den im Verwaltungsverfahren vorgebrachten persönlichen Umständen der beschwerdeführenden Parteien getroffen. Damit hat sie die Rechtslage - schon vom Ansatz her - verkannt (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 10. November 2009, 2008/22/0280, mwN). Da angesichts des wiedergegebenen Vorbringens der beschwerdeführenden Parteien zu ihrer Situation in Österreich in Gegenüberstellung zu der Lage in ihrem Heimatstaat bei Zugrundelegung entsprechender Feststellungen dazu nicht von vornherein auszuschließen ist, dass die belangte Behörde zur Bejahung humanitärer Gründe im Sinn des § 72 NAG gelangen könnte, waren die angefochtenen Bescheide wegen des auf unrichtiger rechtlicher Beurteilung beruhenden Feststellungsmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 11. Mai 2010

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