VwGH 2008/22/0280

VwGH2008/22/028010.11.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der B, vertreten durch Dr. Andreas Waldhof, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Reichsratsstraße 13, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 28. März 2007, Zl. 316.509/2-III/4/06, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/29;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/29;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) vom 28. März 2007 wurde ein von der Beschwerdeführerin, einer serbischen Staatsangehörigen, am 29. Juni 2006 auf postalischem Weg beim Landeshauptmann von Wien (der Erstbehörde) gestellter Erstantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für Angehörige gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass die Beschwerdeführerin noch nie über einen Sichtvermerk, eine Aufenthaltsbewilligung oder eine Niederlassungsbewilligung für die Republik Österreich verfügt habe. Sie sei illegal nach Österreich eingereist und seit 11. Mai 2006 in Österreich aufrecht gemeldet. Sie habe den gegenständlichen Antrag im Inland gestellt und sich vor, während und nach der Antragstellung in Österreich aufgehalten.

Seit ihrer Einreise nach Österreich lebe die Beschwerdeführerin bei ihrem Ehemann und ihrer Tochter, welche "anerkannte Asylwerber" seien, in N. (Den Verwaltungsakten ist zu entnehmen, dass das Verfahren über einen Asylantrag des Ehemannes der Beschwerdeführerin, ebenfalls ein serbischer Staatsangehöriger, im Jahr 2005 rechtskräftig positiv erledigt wurde; die gemeinsame Tochter der beiden wurde 2006 in Wien geboren.)

Mit Schreiben vom 14. März 2007 habe die Beschwerdeführerin gegenüber der belangten Behörde angegeben, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Einreise nach Österreich schwanger gewesen sei, ihr Ehemann sowie die gemeinsame Tochter anerkannte Flüchtlinge seien und es der Beschwerdeführerin unzumutbar sei, ihr Kind in den ersten Monaten seines Lebens allein zu lassen.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - unter Wiedergabe der Bestimmungen der §§ 21 Abs. 1 und 2, 74 und 72 Abs. 1 NAG - im Wesentlichen aus, dass der gegenständliche Antrag als Erstantrag zu werten sei und die Beschwerdeführerin diesen Antrag gemäß § 21 Abs. 1 NAG im Ausland einbringen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten hätte müssen.

Eine Überprüfung der von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Umstände gemäß §§ 72, 74 NAG von Amts wegen ergebe, dass im konkreten Fall zwar das berechtigte Interesse an einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Beschwerdeführerin durch die Auswanderung nach Österreich festgestellt werden könne, aber keinerlei humanitären Gründe für die Erteilung eines diesbezüglichen Aufenthaltstitels. Vielmehr sei die gewählte Vorgehensweise eine Umgehung der Einwanderungsbestimmungen. Das "Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland und die Integration in Österreich" stellten "keine Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall" dar.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Beschwerde bestreitet nicht, dass die Beschwerdeführerin noch nie über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt hat. Die Auffassung der belangten Behörde, dass es sich bei dem gegenständlichen Antrag um einen Erstantrag im Sinn des § 21 Abs. 1 NAG handle, begegnet somit keinen Bedenken. Dem in dieser Bestimmung verankerten Grundsatz der Auslandsantragstellung folgend hätte die Beschwerdeführerin daher den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels an sich im Ausland stellen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten müssen.

Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 iVm § 72 NAG (in der zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides maßgeblichen Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann.

§ 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch, etwa auf Familiennachzug, besteht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 14. Mai 2009, 2008/22/0152, mwN).

Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die die fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer fremdenpolizeilichen aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht bzw. humanitäre Gründe im Sinn der §§ 72 ff NAG zu bejahen sind. Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität und die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert; sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, sind bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (vgl. zum Ganzen näher das hg. Erkenntnis vom 3. April 2009, 2008/22/0592, mwN).

Über das im angefochtenen Bescheid wiedergegebene - oben ersichtliche - Vorbringen der Beschwerdeführerin hinaus hat diese im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass ihr Ehemann und das gemeinsame Kind, die beide als Asylwerber anerkannt worden seien, in Hinblick auf die "Familienverfolgung der Roma in Serbien" nicht dorthin zurückkönnten. Sie selbst wäre in Serbien allein ohne jede Verwandtschaft "der Verfolgung und sexistischen Rache" preisgegeben. Die Beschwerde weist darüber hinaus darauf hin, dass die Beschwerdeführerin in Serbien keinerlei Angehörige oder Verwandte mehr habe; auch ihre Mutter lebe in Österreich und arbeite hier - ebenso wie ihr Ehemann - als Reinigungskraft.

Dadurch, dass die belangte Behörde - wie oben wiedergegeben - dem "Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland" und der "Integration in Österreich" von vornherein die Eignung als "Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall" abgesprochen hat, hat sie, wie aus dem Gesagten ersichtlich, die Rechtslage - schon vom Ansatz her - verkannt (vgl. die hg. Erkenntnisse vom heutigen Tag, 2008/22/0249, sowie vom 22. September 2009, 2008/22/0681, mwN; das im angefochtenen Bescheid zitierte hg. Erkenntnis vom 15. März 2006, 2006/18/0020, betraf die Rechtslage vor In-Kraft-Treten des NAG).

Da angesichts des wiedergegebenen Vorbringens der Beschwerdeführerin zu ihrer Situation in Österreich in Gegenüberstellung zu der Lage in ihrem Heimatstaat (insbesondere im Blick des Ehemannes) bei Zugrundelegung entsprechender Feststellungen dazu nicht von vornherein auszuschließen ist, dass die belangte Behörde - eine wegen der Unmöglichkeit, ein Familienleben im Heimatstaat der Beschwerdeführerin zu führen - zur Bejahung humanitärer Gründe im Sinn des § 72 NAG gelangen könnte, war der angefochtene Bescheid wegen des auf unrichtiger rechtlicher Beurteilung beruhenden Feststellungsmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 10. November 2009

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