VwGH 2008/22/0173

VwGH2008/22/017314.12.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des S, vertreten durch Dr. Alois Leyrer, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Alser Straße 23, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 27. April 2007, Zl. 148.411/2-III/4/06, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs5;
NAG 2005 §19 Abs2;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §47 Abs3 Z3;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs5;
NAG 2005 §19 Abs2;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §47 Abs3 Z3;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) vom 27. April 2007 wurde ein am 5. Juni 2003 bei der Bundespolizeidirektion Wien eingebrachter Antrag des Beschwerdeführers, eines Staatsangehörigen der Volksrepublik China, auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "begünstigter Drittsta. - Ö, § 49 Abs. 1 FrG" gemäß § 11 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 5 iVm § 21 und § 11 Abs. 2 Z. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.

Die belangte Behörde legte dieser Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass sich der Beschwerdeführer "mindestens seit 1994" illegal in Österreich aufhalte und über ihn im Zeitraum von 1994 bis 2000 insgesamt sechsmal unter verschiedenen Aliasidentitäten durch Bescheide der Bundespolizeidirektion Wien die Schubhaft verhängt worden sei.

Der Beschwerdeführer habe erst im Zuge seiner Annahme an Kindes statt durch einen österreichischen Staatsbürger am 16. Dezember 2002 und bei der Einbringung des gegenständlichen Antrages, dessen Zweck die Familienzusammenführung mit seinem österreichischen Adoptivvater sei, durch Vorlage seines chinesischen Reisepasses und seiner Geburtsurkunde seine wahre Identität bekannt gegeben. Den Antrag habe der Beschwerdeführer persönlich bei der Bundespolizeidirektion Wien gestellt; er habe sich bei Antragstellung und auch danach im Inland aufgehalten. Mittlerweile sei der Adoptivvater des Beschwerdeführers verstorben.

Mit seiner Berufung gegen den Bescheid erster Instanz (mit dem der Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 11 Abs. 2 Z. 4 NAG abgewiesen wurde) habe der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine Kopie aus einem Sparbuch vorgelegt, welches auf den Beschwerdeführer laute und per 28. November 2006 einen Einlagenstand von EUR 83.208,38 aufweise.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass aufgrund der nunmehr - nach dem In-Kraft-Treten des NAG - geltenden Rechtslage und "durch den Tod" des zusammenführenden Adoptivvaters der vorliegende Antrag als Antrag auf Ausstellung einer "Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit" geprüft werde.

In Hinblick auf § 11 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 5 NAG dürfe dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel erteilt werden, weil keine ausreichenden eigenen Mittel zu dessen Unterhalt "für eine dauernde Zuwanderung in das Bundesgebiet" vorlägen. Bei dem ins Treffen geführten Sparguthaben handle es sich nämlich weder um feste noch regelmäßige Einkünfte, sodass es nicht herangezogen werden könne.

Darüber hinaus stelle der langjährige illegale Aufenthalt des Beschwerdeführers, der die österreichischen Einwanderungsvorschriften mehrfach missachtet bzw. die Behörden durch Angaben falscher Namen und Geburtsdaten getäuscht habe, eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinn des § 11 Abs. 4 Z. 1 NAG dar, sodass der Beschwerdeführer auch die Voraussetzung des § 11 Abs. 2 Z. 1 NAG für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht erfülle.

Weiters stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung des Antrages entgegen.

Gemäß § 11 Abs. 3 NAG könne ein Aufenthaltstitel trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z. 1 bis 6 NAG erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei. Im Zuge der damit erforderlichen Interessenabwägung habe die belangte Behörde festgestellt, dass "den öffentlichen Interessen gegenüber den privaten Interessen absolute Priorität eingeräumt" habe werden müssen, weil der Beschwerdeführer keinen Nachweis über die Sicherung seines Lebensunterhaltes erbracht habe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass die belangte Behörde das Verfahren über den am 5. Juni 2003 (noch während der Geltung des Fremdengesetzes 1997 - FrG) gestellten Antrag zutreffend nach den Bestimmungen des am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen NAG beurteilt hat (§ 81 Abs. 1 iVm § 82 Abs. 1 NAG).

Die Beschwerde stellt nicht in Abrede, dass es sich bei dem gegenständlichen Antrag um einen Erstantrag (vgl. § 2 Abs. 1 Z. 13 NAG) handelt und der Beschwerdeführer die Entscheidung über diesen Antrag entgegen § 21 Abs. 1 NAG im Inland abgewartet hat.

Der angefochtene Bescheid lässt allerdings eine Prüfung in Hinblick auf § 74 iVm § 72 NAG (jeweils in der Stammfassung) vermissen. Nach diesen Bestimmungen ist bei mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundenen Lebensumständen eines Fremden die Antragstellung im Inland zuzulassen; solche besonders berücksichtigungswürdigen Fälle liegen auch dann vor, wenn ausnahmsweise ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 9. September 2010, 2008/22/0748, mwN; zu den verfehlten Ausführungen der belangten Behörde mit Blick auf § 11 Abs. 3 NAG siehe im Folgenden).

Der noch unter dem Regime des FrG gestellte Antrag war auf die Familienzusammenführung mit dem österreichischen Adoptivvater des Beschwerdeführers gerichtet und somit nach dem In-Kraft-Treten des NAG nach dessen § 47 Abs. 3 Z. 3 zu beurteilen.

Aus den Verwaltungsakten ist ersichtlich, dass die Behörde erster Instanz den Beschwerdeführer mit Schreiben vom 3. Jänner 2006 "zwecks Klärung des Aufenthaltszweckes" für den 27. Jänner 2006 vorlud. Anlässlich der Befragung an jenem Tag nahm der Beschwerdeführer jedoch keine Änderung oder Richtigstellung seines Antrages vor.

Dadurch, dass die belangte Behörde - wie oben wiedergegeben - den gegenständlichen Antrag entgegen der im Anwendungsbereich des NAG geltenden strengen Antragsbindung amtswegig umgedeutet hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 15. April 2010, 2008/22/0071, mwN).

Weiters kommt - entgegen der von der belangten Behörde vertretenen Auffassung - bei Anwendung des § 11 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 5 NAG (in der hier maßgeblichen Fassung des BGBl. I Nr. 157/2005) der Nachweis ausreichender Unterhaltsmittel auch durch Spareinlagen in Betracht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 15. April 2010, 2008/22/0835, mwN).

Schließlich gibt die belangte Behörde zwar zutreffend § 11 Abs. 3 NAG (in der hier maßgeblichen Stammfassung) wieder, wonach ein Aufenthaltstitel trotz des Mangels einer allgemeinen Erteilungsvoraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z. 1 bis 6 NAG erteilt werden kann, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist.

Im Weiteren führt sie jedoch mit der Begründung des mangelnden Nachweises der Sicherung des Lebensunterhaltes des Beschwerdeführers aus, dass den öffentlichen Interessen gegenüber den privaten Interessen "absolute Priorität" einzuräumen sei. Diese Begründung würde dazu führen, dass bei fehlenden Unterhaltsmitteln die Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG niemals zu Gunsten des Fremden ausgehen könnte, was nicht mit dem Gesetz in Einklang steht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Februar 2010, 2008/22/0396, mwN). Hinsichtlich des Abweisungsgrundes des § 11 Abs. 2 Z. 1 NAG führte die belangte Behörde keine Interessenabwägung durch.

Der angefochtene Bescheid war somit wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 14. Dezember 2010

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte