VwGH 2008/22/0167

VwGH2008/22/01679.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der H, vertreten durch Mag. Thomas Singer, Rechtsanwalt in 1190 Wien, Döblinger Hauptstraße 68, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 22. Dezember 2006, Zl. 142.080/3-III/4/06, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §2 Abs1 Z9;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs2 Z1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
NAG 2005 §81 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
EMRK Art8;
NAG 2005 §2 Abs1 Z9;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs2 Z1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
NAG 2005 §81 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Bundesministerin für Inneres (der belangten Behörde) vom 22. Dezember 2006 wurde ein am 8. Juli 2003 von der Beschwerdeführerin, einer türkischen Staatsangehörigen, bei der Außenstelle Bonn der österreichischen Botschaft in Deutschland gestellter Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft, § 20 Abs. 1 FrG" gemäß § 21 Abs. 1 und 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass die Beschwerdeführerin 1986 in der Türkei geboren worden sei und von August 1987 bis Juni 2004 sowie von November 2004 bis April 2005 in Deutschland gelebt habe. Vom 30. August 2002 bis 6. Mai 2003 und vom 8. Oktober 2003 bis 1. Juni 2004 sei sie auch in Österreich mit Nebenwohnsitz gemeldet gewesen; seit 1. Juni 2004 lebe sie durchgehend in Wien. Ein Aufenthaltstitel für das österreichische Bundesgebiet sei ihr bisher nicht erteilt worden.

Mit Schreiben vom 17. September 2004 habe die belangte Behörde eine Anfrage des Landeshauptmannes von Wien (der Behörde erster Instanz) wegen der Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen mangels eines ausreichenden Nachweises der behaupteten Behinderung der Beschwerdeführerin negativ beantwortet.

Nach Aufforderung an den Vater der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 31. Jänner 2006, entsprechende Unterlagen zu deren Behinderung vorzulegen, habe der Vater am 13. März 2006 "medizinische Befunde von deutschen Ärzten" aus den ersten drei Lebensjahren der Beschwerdeführerin vorgelegt.

Am 29. März 2006 sei die für den Wohnsitz der Beschwerdeführerin zuständige Amtsärztin, Dr. G., um die Erstattung eines amtsärztlichen Gutachtens ersucht worden; mit am 31. Mai 2006 eingelangtem Schreiben habe Dr. G. mitgeteilt, dass die Beschwerdeführerin derzeit nicht geschäftsfähig und auch nicht in der Lage sei, sich selbst zu erhalten.

Daraufhin habe die Behörde bei Gericht die Einleitung eines Sachwalterbestellungsverfahrens angeregt. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Fünfhaus vom 7. November 2006 sei - unter Zugrundelegung eines eingeholten Gutachtens - festgestellt worden, dass die Beschwerdeführerin in der Lage sei, einer Person ihres Vertrauens eine Vollmacht auszustellen. Die Beschwerdeführerin sei somit für geschäftsfähig erachtet worden. Dem Gerichtsbeschluss sei weiters zu entnehmen, dass die Großmutter der Beschwerdeführerin - nachdem ihr Ehemann am 7. September 2004 in Deutschland gestorben sei - wieder in die Türkei gezogen sei.

Außer der Beschwerdeführerin hielten sich deren Vater, dem am 7. Februar 2006 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden sei, sowie deren Mutter, zwei minderjährige Geschwister sowie zwei volljährige Geschwister im Inland auf.

In der gegen den Bescheid erster Instanz erhobenen Berufung sei vorgebracht worden, dass die Beschwerdeführerin aufgrund einer schweren Erkrankung geistig zurückgeblieben und daher auf Hilfe angewiesen sei. Sie sei von ihrem kürzlich verstorbenen Großvater in Deutschland gepflegt worden; ihr Onkel wolle sie nicht "verpflegen". Es sei die Aufgabe der Eltern, für das Wohl der Beschwerdeführerin zu sorgen, die keine Verwandten in ihrem Heimatland habe.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - unter Wiedergabe der Bestimmungen der §§ 82 Abs. 1, 81 Abs. 1, 21 Abs. 1 und 2 NAG - im Wesentlichen aus, dass das Verfahren über den Antrag gemäß § 81 Abs. 1 NAG nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen sei. Aufgrund der nunmehr geltenden Rechtslage sei der vorliegende Antrag zum Zweck der Familiengemeinschaft mit einem österreichischen Staatsbürger als auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" (§ 47 Abs. 3 NAG in der hier maßgeblichen Stammfassung) gerichtet zu werten. Da die Beschwerdeführerin bereits volljährig sei, könne die Ausnahmebestimmung des § 21 Abs. 2 Z. 1 NAG in ihrem Fall nicht herangezogen werden. Gemäß § 21 Abs. 1 NAG hätte die Beschwerdeführerin daher die Entscheidung über ihren Antrag im Ausland abwarten müssen.

Mit dem - oben wiedergegebenen - Berufungsvorbringen würden humanitäre Gründe im Sinn des § 72 NAG behauptet, weshalb eine Überprüfung im Sinn dieser Bestimmung durchgeführt worden sei. Infolge der Einstellung des Sachwalterschaftsverfahrens durch den zitierten Beschluss des Bezirksgerichtes Fünfhaus vom 7. November 2006 könne nicht davon gesprochen werden, dass die Beschwerdeführerin geistig zurückgeblieben sei. Dem Vorbringen, dass die Beschwerdeführerin keine Verwandten in der Türkei habe, werde entgegengehalten, dass sich ihre Großmutter in der Türkei aufhalte. Der Aktenlage sei somit kein ausreichender besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt zu entnehmen, weshalb eine Inlandsantragstellung bzw. die "daraus resultierende Entgegennahme des Aufenthaltstitels im Inland" nicht zugelassen werde.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass die belangte Behörde das Verfahren über den gegenständlichen, am 8. Juli 2003 gestellten Antrag zutreffend gemäß § 81 Abs. 1 NAG nach den Bestimmungen dieses (am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen) Bundesgesetzes zu Ende geführt hat.

Die Beschwerde führt aus, dass für die Beschwerdeführerin nach der damals geltenden Gesetzeslage, nämlich "§ 20 FrG von 1997", keine Pflicht bestanden habe, das "Ergebnis der Antragstellung" im Ausland abzuwarten. Dem ist entgegenzuhalten, dass dem NAG weder ein Rückwirkungsverbot noch eine Regelung zu entnehmen ist, der zufolge auf vor dessen In-Kraft-Treten verwirklichte Sachverhalte die Bestimmungen des mit Ablauf des 31. Dezember 2005 außer Kraft getretenen Fremdengesetzes 1997 - FrG anzuwenden wären (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 6. Juli 2010, 2008/22/0457, mwN).

Die Beschwerde bestreitet nicht die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, dass die Beschwerdeführerin noch nie über einen Aufenthaltstitel für das österreichische Bundesgebiet verfügt hat und sich seit 1. Juni 2004 - somit auch nach In-Kraft-Treten des NAG am 1. Jänner 2006 - in Wien aufhält.

Im Übrigen trifft die Beschwerdebehauptung, dass die Beschwerdeführerin "Familienangehörige von österreichischen Staatsbürgern" sei und daher § 21 NAG einen "sofortigen Aufenthalt" im Inland zulasse, nicht zu: Die Beschwerde spricht damit offensichtlich den Ausnahmetatbestand des § 21 Abs. 2 Z. 1 NAG (in der hier maßgeblichen Stammfassung) an, der allerdings auf die Beschwerdeführerin, die wegen ihrer Volljährigkeit nicht (mehr) Familienangehörige im Sinn des § 2 Abs. 1 Z. 9 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) ist, schon aus diesem Grund nicht anwendbar ist.

Dem in § 21 Abs. 1 NAG festgelegten Grundsatz folgend hätte somit die Beschwerdeführerin die Entscheidung über ihren Antrag im Ausland abwarten müssen.

Das Recht, die Entscheidung über den Antrag im Inland abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 iVm § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) in Betracht. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen - nach ständiger hg. Judikatur - besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung auch dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch etwa auf Familiennachzug besteht (vgl. etwa wiederum das hg. Erkenntnis vom 6. Juli 2010, mwN).

In diesem Zusammenhang bringt die Beschwerde vor, die belangte Behörde beurteile das Vorliegen humanitärer Gründe im Sinn des § 72 NAG lediglich danach, ob für die Beschwerdeführerin ein Sachwalter zu bestellen gewesen wäre. Dies sei eine nicht nachvollziehbare Begründung, insbesondere weil ein Sachwalter nur deswegen nicht bestellt habe werden müssen, weil die Versorgung der Beschwerdeführerin durch deren Familie gewährleistet sei. Nur im Rahmen der Familie (Vater, Mutter und die beiden Geschwister), welche in Österreich lebe, sei eine Verpflegung und Versorgung der Beschwerdeführerin gesichert.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg.

Bereits in der Berufung wurde - wie oben ersichtlich - im Wesentlichen vorgebracht, dass die Beschwerdeführerin geistig zurückgeblieben sei und auf die Hilfe und Pflege ihrer Eltern in Österreich angewiesen sei.

Ein Arztbrief des Krankenhauses B. in Wien vom 11. Mai 2006 bestätigt eine geistige Retardierung der Beschwerdeführerin, die eine Sonderschule in Wien besuche. Der im angefochtenen Bescheid erwähnten Stellungnahme der Amtsärztin Dr. G. vom 26. Mai 2006 ist weiters zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin bereits in Deutschland eine Sonderschule besucht habe - dazu erliegt im Verwaltungsakt ein Abgangszeugnis der "M.-K.-Schule" - Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen (Sonderschule) vom 23. August 2002 - und im Gespräch mit der Ärztin deutliche Zeichen einer intellektuellen Minderbegabung gezeigt habe.

In dem (von der belangten Behörde maßgeblich zur Verneinung von humanitären Gründen im Sinn des § 72 Abs. 1 NAG herangezogenen) Beschluss des Bezirksgerichtes Fünfhaus vom 7. November 2006 finden sich schließlich - auf Basis eines eingeholten psychiatrisch-neurologischen Sachverständigengutachtens - die Feststellungen, dass bei der Beschwerdeführerin eine leichte Intelligenzminderung mit Förderdefiziten vorliege, wodurch es dieser nicht möglich sei, gewisse Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteiles für sich selbständig zu erledigen. Die Betroffene lebe nunmehr gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in Österreich und werde von ihrer Familie betreut und unterstützt. Gemeinsam mit ihrer Familie sei die Beschwerdeführerin in der Lage, mit allen ihren Angelegenheiten zu Recht zu kommen, weil sie nämlich bei jenen Angelegenheiten, die sie selber nicht besorgen könne, die Unterstützung ihrer Familie in Anspruch nehmen könne.

Bei Berücksichtigung dieser Erwägungen hätte die Behörde zu dem Schluss gelangen können, dass im vorliegenden Fall humanitäre Gründe gegeben seien. Dessen ungeachtet hat die belangte Behörde nähere Feststellungen zu der Behinderung der Beschwerdeführerin, der daraus entstandenen familiären Situation und zur Frage des allenfalls möglichen Zugangs zur notwendigen Unterstützung und Betreuung der Beschwerdeführerin im Herkunftsland der Familie nicht getroffen.

Damit aber weist der angefochtene Bescheid einen Feststellungsmangel auf, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Wien, am 9. September 2010

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte