VwGH 2008/20/0357

VwGH2008/20/03579.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde der F, geboren am 28. Februar 1986, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 31. März 2008, Zl. 317.330-1/2E-III/67/08, betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
AsylG 1997 §8 Abs2;
AVG §67d;
EGVG 2008 Art2 Abs2 Z43a;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
AsylG 1997 §8 Abs2;
AVG §67d;
EGVG 2008 Art2 Abs2 Z43a;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, beantragte am 3. Juli 2005 Asyl. Zu ihren Fluchtgründen gab sie im Wesentlichen an, von ihrem Vater zur Schuldentilgung einem Freund namens "O" übergeben worden zu sein. Von diesem sei sie vier Jahre lang eingesperrt und vergewaltigt worden. Da er Mitglied des Geheimkultes "Osokpikan" sei, hätte er sie nach der ersten Vergewaltigung zu einem - näher beschriebenen - Ritual gezwungen. Mehr als Einzelheiten über die spezielle Kleidung, welche sich "O" zu Anlässen des Kults angezogen habe, wisse sie über diesen Geheimbund nicht, da sie "die ganze Zeit im Haus eingesperrt" gewesen sei. Sie wisse nicht, ob "O" sein Vor- oder Nachname gewesen sei, ebensowenig kenne sie die Namen seiner weiteren vier Ehefrauen, da sich alle Frauen untereinander nur mit "Mammy" und "Aunty" angesprochen hätten. Vom Tod ihres Vaters habe sie durch ihre Mutter, welche die Beschwerdeführerin gelegentlich habe besuchen dürfen, sowie durch einen Diener des Mannes erfahren. Bei ihrer Rückkehr nach Nigeria fürchte sie, von "O" bzw. den Leuten des Kultes "Osokpikan" verfolgt zu werden.

Mit Bescheid vom 21. November 2007 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin ab, gewährte ihr keinen Refoulementschutz und wies die Beschwerdeführerin nach Nigeria aus. Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt kurz aus, es sei unglaubwürdig, dass die Beschwerdeführerin weder den genauen Betrag der Schulden ihres Vaters noch Alter und vollständigen Namen des "O" und der anderen Frauen trotz vierjährigem Aufenthalt im selben Haus kenne.

In ihrer dagegen erhobenen Berufung beantragte die Beschwerdeführerin ausdrücklich die Anberaumung einer Berufungsverhandlung. Sie wandte sich gegen die erstinstanzliche Beweiswürdigung und versuchte die vom Bundesasylamt geäußerten Bedenken gegen ihre Glaubwürdigkeit argumentativ zu entkräften.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Sie schloss sich den Ausführungen im erstinstanzlichen Bescheid an und erhob sie zum Inhalt ihrer Entscheidung. Darüber hinaus führte die belangte Behörde jedoch mehrere neue Argumente für die von ihr angenommene Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin an, wie mangelndes Detailwissen über die Geheimgesellschaft, den Erhalt der Nachricht über den Tod ihres Vaters von ihrer Mutter und einem Diener, sowie Widersprüche in den Angaben der Beschwerdeführerin darüber, ob sie mit "Obiba" formell verehelicht worden sei oder nicht. In diesem Zusammenhang wertete sie auch das in der Berufung erstattete Vorbringen etwa wegen des fortgesetzten Gebrauchs der Wörter "Ehe" und "Mann" als "verwunderlich und gleichzeitig unglaubwürdig". Einer Berufungsverhandlung habe es nicht bedurft, weil der Sachverhalt als geklärt anzusehen sei.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen hat:

Die Beschwerde macht unter anderem als Verfahrensmangel eine Verletzung der Verhandlungspflicht der belangten Behörde geltend und ist damit im Recht.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z 43 a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann nicht erfüllt ist, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 11. Juni 2008, Zlen. 2008/19/0216, 0217, und vom 15. Jänner 2009, Zl. 2007/01/0352, jeweils mwN).

Die belangte Behörde führte zunächst aus, das Bundesasylamt hätte "die im Rahmen der Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen (...) klar und übersichtlich zusammengefasst", weshalb sie sich den "diesbezüglichen Ausführungen des Bundesasylamtes im angefochtenen Bescheid" anschließe und diese "zum Inhalt des gegenständlichen Bescheides" erhebe. Dieser Beurteilung kann angesichts der beiden Argumente des Bundesasylamtes (Unkenntnis des genauen Betrags der Schulden des Vaters sowie des Alters und vollständigen Namens des "O" und seiner Frauen), nicht gefolgt werden, da sie keine Unplausibilität des Vorbringens belegen und somit die Beweiswürdigung nicht zu tragen vermögen. An der Mangelhaftigkeit des Verfahrens ändert auch die von der belangten Behörde "ergänzend" vorgenommene umfangreiche Bewertung der - vom Bundesasylamt nicht herangezogenen - Aussagen der Beschwerdeführerin, die auch als Grundlage für die Würdigung des Berufungsvorbringens als unglaubwürdig diente, nichts. Ihre eigene Beweiswürdigung sowohl des erstinstanzlichen als auch des Berufungsvorbringens hätte die belangte Behörde nämlich nicht ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung vornehmen dürfen (vgl. hiezu das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom 15. Jänner 2009 sowie die hg. Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2005/01/0106, und vom 9. Mai 2006, Zl. 2006/01/0096).

Schon aus diesem Grund - ohne dass noch auf die ausführliche Auseinandersetzung der belangten Behörde mit dem Berufungsvorbringen, das sie schließlich als eine Berufungsverhandlung nicht erfordernd qualifizierte, eingegangen werden muss - war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455. Wien, am 9. September 2010

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