VwGH 2007/20/0121

VwGH2007/20/01219.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde von 1. K und 2. A, vertreten durch Maga. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Kirchengasse 19, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 21. Dezember 2006, Zlen. 265.594/0-X/47/05 (ad 1.) und 265.593/0-X/47/05 (ad 2.), betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
AsylG 1997 §8 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
AsylG 1997 §8 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1106,40, insgesamt somit EUR 2212,80, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Erstbeschwerdeführerin, eine aus Dagestan stammende russische Staatsangehörige awarischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste am 15. Juli 2004 mit ihrer damals 5-jährigen Tochter, der Zweitbeschwerdeführerin, in das Bundesgebiet ein und stellte am folgenden Tag für sich und ihre Tochter Asylanträge. In ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt gab die Erstbeschwerdeführerin an, ihre gesamte Familie lebe in Dagestan. Sie sei dort mit einem religiösen Fanatiker verheiratet gewesen, der sie immer wieder geschlagen habe. Nachdem er sie im Jahr 2002 wieder verprügelt habe, habe sie ihn verlassen und sei seit April 2003 von ihm geschieden. Bereits im März 2003 sei sie von unbekannten Männern auf der Straße zusammengeschlagen und in der Folge von Familienangehörigen ihres geschiedenen Mannes immer wieder mit dem Tod bedroht und geschlagen worden, da sie Schande über die ganze Familie gebracht hätte. Sie habe daraufhin ständig ihren Arbeitsplatz als Krankenschwester gewechselt und sich bei verschiedenen Freundinnen versteckt. Im Jänner 2004 sei sie von zwei Unbekannten verschleppt und vergewaltigt worden. Die Männer hätten ihr gedroht, sie und ihre Tochter zu töten, sollte sie sich an die Polizei wenden. Für die Misshandlungen im März 2003 und im Jänner 2004 legte die Erstbeschwerdeführerin ärztliche Bestätigungen vor. Aus Angst um das Leben ihrer Tochter und ihr eigenes habe sie das Land verlassen. Allein (mit ihrer Tochter) in einen anderen Teil der Russischen Föderation zu übersiedeln habe sie wegen ihrer Herkunft aus Dagestan nicht in Erwägung gezogen. Sie äußerte ihre Angst davor, "alleine nach Russland zu fahren", da Dagestaner bzw. "dunkelhäutige Menschen" in Russland nicht gerne gesehen und immer wieder rassistischen Übergriffen ausgesetzt wären, und führte dazu Beispiele an. Die Zweitbeschwerdeführerin sei aus denselben Gründen gefährdet.

Mit Bescheiden vom 4. Oktober 2005 wies das Bundesasylamt die Asylanträge der Beschwerdeführerinnen ab, gewährte ihnen keinen Refoulementschutz und wies sie in die Russische Föderation aus. In der Begründung der Bescheide finden sich Feststellungen zur allgemeinen politischen und sozialen Lage in der Russischen Föderation; zur Menschenrechtslage wird ausgeführt, diese sei unbefriedigend, das Recht der Freizügigkeit und der freien Wahl des Aufenthalts sei verfassungsrechtlich garantiert, in der Praxis werde an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg) Personen aus den südlichen Republiken der russischen Föderation der legale Zuzug durch Verwaltungsvorschriften und rechtswidrige Verwaltungspraxis stark erschwert. Das Vorbringen der Beschwerdeführerinnen wertete das Bundesasylamt zwar als glaubwürdig, jedoch nicht als asylrelevant. Einerseits seien die Misshandlungen der Erstbeschwerdeführerin bloß kriminelle Akte Unbekannter gewesen, andererseits bestehe - selbst wenn man von lokal begrenzter Verfolgung ausgehe - in anderen Teilen der Russischen Föderation schon aufgrund der Größe und des Bevölkerungsreichtums des Landes eine inländische Fluchtalternative. Gegen die Möglichkeit einer derartigen Wohnsitzverlegung sei nichts Konkretes vorgebracht worden. Gründe, die für die Gewährung von Refoulementschutz und gegen die Ausweisung sprächen, seien nicht ersichtlich.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung wandten sich die Beschwerdeführerinnen gegen die Annahme, die Misshandlungen der Erstbeschwerdeführerin seien nicht asylrelevant. Unter Hinweis auf den Jahresbericht 2005 von Amnesty International Deutschland wird unter anderem vorgebracht, dass nicht nur Tschetschenen, sondern auch Personen aus Dagestan in der gesamten Russischen Föderation zunehmend diskriminiert würden.

Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufung ohne weitere Ermittlungen und ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung vollinhaltlich ab. Sie verwies auf die erstinstanzlichen Bescheide und schloss sich den Feststellungen und der Beweiswürdigung des Bundesasylamtes an. Lediglich zur Schutzfähigkeit und -willigkeit der russischen Behörden in Dagestan selbst wurden ausdrücklich keine Feststellungen getroffen. Solche seien nicht notwendig, da sich die Beschwerdeführerinnen außerhalb Dagestans in der Russischen Föderation niederlassen könnten. Die Asylrelevanz der festgestellten Verfolgung könne dahingestellt bleiben, da den Beschwerdeführerinnen - wie sich aus den erstinstanzlichen Feststellungen ergebe - eine inländische Fluchtalternative offen stehe.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass die im angefochtenen Bescheid festgestellte Verfolgung zweifellos auf dem in Art. I Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Grund der "bestimmten sozialen Gruppe" beruht. Dazu kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das hg. Erkenntnis vom 28. August 2009, Zlen. 2008/19/1027, 1028 (mit zahlreichen weiteren Nachweisen), verwiesen werden.

Wie die Beschwerde richtig rügt, ist die uneingeschränkte Annahme der belangten Behörde, aus den Feststellungen der erstinstanzlichen Bescheide ergebe sich das Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative, schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil das Bundesasylamt ausreichend konkrete Feststellungen zur Situation von Personen aus den Kaukasusrepubliken und im Besonderen aus Dagestan, die sich in anderen Teilen der Russischen Föderation niederlassen wollen, unterlassen hat. Derartige Feststellungen wären schon aufgrund der von der Erstbeschwerdeführerin in ihrer Einvernahme geäußerten Angst, "alleine nach Russland zu fahren", da Dagestaner bzw. "dunkelhäutige Menschen" in Russland nicht gerne gesehen und immer wieder rassistischen Übergriffen ausgesetzt seien, indiziert gewesen. Dass diese Äußerung und die Bezugnahme auf den Bericht von Amnesty International in der Berufung keine konkrete Bestreitung einer inländischen Fluchtalternative gewesen sei, kann angesichts der notorischen Probleme von Kaukasiern in der Russischen Föderation, von denen auch das Bundesasylamt in seinen Feststellungen (zu Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation, denen der legale Zuzug durch Verwaltungsvorschriften und rechtswidrige Verwaltungspraxis stark erschwert wird) ausgegangen ist, nicht gesagt werden. Hinzu kommt, dass sich den erstinstanzlichen Bescheiden nicht entnehmen lässt, dass die spezifische Lage der Beschwerdeführerinnen - alleinstehende Mutter mit Kind ohne Familienanschluss - in irgendeiner Weise Berücksichtigung gefunden hätte (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 11. Juni 2002, Zl. 2000/01/0305, vom 30. November 2004, Zl. 2004/01/0068, oder vom 26. Jänner 2006, Zl. 2005/01/0057).

Insgesamt lassen die erstinstanzlichen und damit auch die angefochtenen Bescheide die im Hinblick auf das einer inländischen Fluchtalternative u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül erforderlichen näheren Feststellungen über die im Falle eines Ortswechsels zu erwartende Lage der Beschwerdeführerinnen vermissen.

Die Erwägungen der belangten Behörde, die Asylrelevanz der Verfolgung könne wegen Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative dahingestellt bleiben, sind somit aufgrund der Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, die auch die Abhaltung einer mündlichen Berufungsverhandlung erfordert hätte, nicht nachvollziehbar.

Die angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Wien, am 9. September 2010

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