VwGH 2006/21/0350

VwGH2006/21/035030.4.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Kühnberg, über die Beschwerde des E, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwalt in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 12. September 2006, Zl. Senat-FR-06-0091, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde eine vom Beschwerdeführer, einem russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, eingebrachte Schubhaftbeschwerde samt Kostenbegehren gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ab und stellte gleichzeitig gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen im Entscheidungszeitpunkt vorlägen.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe am 21. Dezember 2004 sein Heimatland verlassen und sei nach Polen gereist. Dort habe er sich vom 26. Dezember 2004 bis 26. August 2006 aufgehalten. Infolge eines Asylantrages habe er in Polen eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Am 26. August 2006 sei er jedoch nach Österreich weitergereist, weil seinen Angaben zufolge in Polen Flüchtlinge keine Perspektiven hätten und er nicht vorgehabt hätte, in Polen zu bleiben. Seine Ehefrau und die drei gemeinsamen Kinder - so die belangte Behörde weiter - hielten sich bereits in Österreich auf. Diese seien seit 2. August 2006 in Bundesbetreuung und in einem Quartier in Traiskirchen sowie ab 28. August 2006 in einem Quartier in Kreutzen untergebracht.

Am 27. August 2006 sei der Beschwerdeführer unrechtmäßig in Österreich eingereist und habe am selben Tag bei der Erstaufnahmestelle Ost des Bundesasylamtes einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Noch an diesem Tag sei seine Anhaltung in Schubhaft angeordnet und in Vollzug gesetzt worden.

In seiner Schubhaftbeschwerde habe der Beschwerdeführer erstmals darauf hingewiesen, dass er bei seinem namentlich genannten Schwager und dessen Mutter, die in Österreich anerkannte Flüchtlinge seien, wohnen könnte. Die diesbezüglichen Angaben seien allerdings lediglich vage gewesen.

In ihrer rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde aus, auf Grund des vom Beschwerdeführer zugestandenen Aufenthalts in Polen läge Grund zur Annahme vor, dass sein Antrag auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zurückgewiesen werde. Am 29. August 2006 sei eine Mitteilung des Bundesasylamtes nach § 29 Abs. 3 (Z 4) Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) an den Beschwerdeführer ergangen. Darin sei ihm zur Kenntnis gebracht worden, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen. Somit sei von der Asylbehörde gegen den Beschwerdeführer ein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden. Das Vorliegen der Voraussetzungen zur Verhängung der Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 4 FPG durfte sohin im Zeitpunkt der Schubhaftverhängung bejaht werden. Im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides liege nunmehr der Fall des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG vor.

Zum Sicherungsbedarf wurde von der belangten Behörde ausgeführt, die Fremdenpolizeibehörde habe diesen zutreffend dargelegt, indem sie darauf abgestellt habe, dass der Beschwerdeführer in Österreich in keinster Weise sozial integriert sei, er in Österreich über keine Wohnung und kein Einkommen verfüge und eine rechtmäßige Beschäftigung nicht ausüben könne. "Unter Berücksichtigung der vorliegenden personenspezifischen Daten des Beschwerdeführers und dessen gesamter Situation" sei davon auszugehen, er habe keinerlei berufliche Bindung im Inland und er habe bereits "durch sein Vorverhalten gezeigt", dass ihn einreise- und aufenthaltsrechtliche Bestimmungen in den einzelnen EU-Staaten "nicht sonderlich tangieren sowie, dass er gewillt ist, EU-Grenzen und Grenzen im Schengenraum illegal zu überschreiten". Bereits auf Grund der Tatsache, dass er sich in einem anderen sicheren EU-Mitgliedstaat dem asylrechtlichen Verfahren entzogen habe, sei davon auszugehen, dass "das Risiko des Untertauchens im Rahmen des in Österreich durchzuführenden asylrechtlichen Verfahrens mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen" sei. Der Hinweis auf eine Wohnmöglichkeit bei seinem Schwager und dessen Mutter sei nicht geeignet, eine soziale Verankerung im Inland nachzuweisen. Der Beschwerdeführer habe weder "konkrete Meldedaten" bekannt gegeben, noch habe er vorgebracht, mit dem Schwager bereits vor der Einreise nach Österreich bzw. kurz danach Kontakt aufgenommen zu haben. Durch eine Anwendung eines gelinderen Mittels in Form einer Unterkunftnahme beim Schwager wäre auch in keiner Weise gewährleistet, dass "der Beschwerdeführer sich nicht neuerlich den behördlichen Zugriffen im Rahmen des asylrechtlichen Verfahrens entziehen" werde. Die Anwendung eines gelinderen Mittels im Sinne des § 77 FPG sei daher nicht in Betracht gekommen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die belangte Behörde hat bei Prüfung des Schubhaftgrundes nicht ausreichend berücksichtigt, dass ungeachtet des Vorliegens eines Tatbestandes nach § 76 Abs. 2 FPG - hier vorerst jener nach der Z 4, und nach Einleitung des Ausweisungsverfahrens jener nach der Z 2 - die Anhaltung eines Asylwerbers in Schubhaft nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die (schon) in diesen Asylverfahrensstadien ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen (vgl. zum Ganzen ausführlich das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird). Dass der Beschwerdeführer unrechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist ist, um hier wegen der behaupteten Verfolgung in seinem Heimatland einen Antrag auf internationalen Schutz einzubringen, stellt keinen besonderen Umstand dar, der in nachvollziehbarer Weise den Schluss zuließe, der Beschwerdeführer werde sich dem Verfahren durch "Untertauchen" entziehen. Daran vermag auch die Inanspruchnahme eines Schleppers nichts zu ändern (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. Mai 2008, Zl. 2007/21/0233). In der vorliegenden Konstellation wäre vielmehr maßgeblich darauf Bedacht zu nehmen gewesen, dass sich der Beschwerdeführer unmittelbar nach seiner Einreise aus eigenem zur Erstaufnahmestelle Ost des Bundesasylamtes begab, um dort einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, und darüber hinaus die belangte Behörde nicht davon ausging, der von ihm geschilderte Reiseweg, die von ihm angegebenen Personaldaten (ungeachtet dessen, dass er über kein Identitätsdokument verfügt) oder seine sonstigen Angaben, wie etwa zum bisherigen Aufenthalt in Polen, den er sogleich im Rahmen der asylrechtlichen Ersteinvernahme zugestand, seien unrichtig.

Vor diesem Hintergrund fehlen konkrete Anhaltspunkte für die Annahme, der Beschwerdeführer werde sich dem weiteren Verfahren entziehen und für die Behörden nicht erreichbar sein. Für eine solche Befürchtung müssten vielmehr, vor allem aus dem bisherigen Verhalten des Fremden ableitbare spezifische Hinweise bestehen. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach betont, dass die Verhängung der Schubhaft in "Dublin-Fällen" nicht zu einer "Standardmaßnahme" gegen Asylwerber werden darf. Besondere Gesichtspunkte, die erkennen ließen, es handle sich hier um eine von den typischen "Dublin-Fällen" abweichende Konstellation, in der mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auf Grund konkreter Anhaltspunkte auf eine drohende Verfahrensvereitelung durch den Beschwerdeführer geschlossen hätte werden können, sind fallbezogen, und zwar ungeachtet dessen, dass im Asylverfahren das Ausweisungsverfahren formell eingeleitet worden war, nicht erkennbar. Dementsprechend konnte - entgegen der Ansicht der belangten Behörde - auch nicht davon gesprochen werden, das Verhalten des Beschwerdeführers sei durch eine besondere Gleichgültigkeit gegenüber den für die Einreise von Fremden geschaffenen Regelungen gekennzeichnet.

Soweit die belangte Behörde auch auf die Mittellosigkeit sowie die fehlende soziale und berufliche Integration des Beschwerdeführers abstellt, handelt es sich dabei in Bezug auf (wie der Beschwerdeführer noch nicht lange in Österreich aufhältige) Asylwerber, die Anspruch auf Grundversorgung haben, um kein tragfähiges Argument für das Bestehen eines Sicherungsbedarfes. Die Heranziehung des Gesichtspunktes, der Fremde sei in Österreich nicht ausreichend integriert, ist vielmehr bei Asylwerbern in der Situation des Beschwerdeführers verfehlt. Der Frage der Integration kommt primär im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG Bedeutung zu (vgl. zum Gesamten etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Mai 2008, Zl. 2007/21/0233, mwH).

Darüber hinaus sind aber auch die Ausführungen der belangten Behörde zum in Österreich (laut Vorbringen in der Schubhaftbeschwerde als anerkannten Flüchtling) lebenden Schwager des Beschwerdeführers nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer gab in der Schubhaftbeschwerde dessen Namen und Geburtsdatum bekannt, was die belangte Behörde in die Lage versetzte, zu diesem im Rahmen ihrer Pflicht zur Ermittlung des Sachverhaltes eine Meldeauskunft einzuholen und so allenfalls in Kenntnis von dessen Wohnanschrift, an der die Zustellung einer Ladung möglich wäre, zu gelangen. Sohin konnte nicht davon gesprochen werden, die diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers wären bloß vage gewesen. Soweit die belangte Behörde nun aber familiäre Beziehungen des Beschwerdeführers zu seinem Schwager ohne Weiteres in Abrede stellte und aus diesem Grund eine bei diesem gegebene Wohnmöglichkeit des Beschwerdeführers schon deshalb als nicht geeignet ansah, die Annahme des Sicherungsbedarfes zu entkräften, stützte sie sich auf kein durch ein Beweisverfahren nachvollziehbar gedecktes Ergebnis. Im Hinblick auf das Vorbringen in der Schubhaftbeschwerde hätte die belangte Behörde sohin nicht von einem in Sinn des § 83 Abs. 2 Z 1 FPG aus der Aktenlage in Verbindung mit Beschwerde geklärten Sachverhalt ausgehen und deshalb auch nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. Juli 2008, Zl. 2008/21/0355).

Andererseits stellt sich auch die Ansicht der belangten Behörde, allfällige persönliche Bindungen im Bundesgebiet könnten von vornherein keine Gewähr dafür bieten, dass der Beschwerdeführer sich dem Ausweisungsverfahren nicht entziehen werde, in der von der belangten Behörde geäußerten allgemeinen Form als nicht zutreffend dar. Die von der belangten Behörde im Ergebnis vertretene Auffassung, das Belassen eines Fremden auf freiem Fuß könnte immer dann, wenn ein Sicherungsbedürfnis zu bejahen ist, keine Gewähr für die Verfahrenssicherung bieten, hätte zur Folge, dass das Sicherungsbedürfnis nie anders als durch Anhaltung in Haft gedeckt werden könnte. Diese Ansicht entspricht aber mit Blick auf § 77 FPG, der ausdrücklich (unter den dort näher angeführten Voraussetzungen) die Sicherung der Schubhaftzwecke auch auf andere Art als durch Haft vorsieht, nicht dem Gesetz (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Februar 2009, Zl. 2006/21/0261).

Der angefochtene Bescheid war sohin wegen - der vorrangig wahrzunehmenden - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 30. April 2009

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