Normen
ABGB §273a Abs1;
AsylG 1997 §23 Abs1;
AVG §11;
AVG §56;
AVG §62;
AVG §63 Abs1;
AVG §66 Abs4;
AVG §67b Z1;
AVG §8;
AVG §9;
VwGG §26 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z2;
ABGB §273a Abs1;
AsylG 1997 §23 Abs1;
AVG §11;
AVG §56;
AVG §62;
AVG §63 Abs1;
AVG §66 Abs4;
AVG §67b Z1;
AVG §8;
AVG §9;
VwGG §26 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z2;
Spruch:
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin und den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 991,20, insgesamt somit EUR 2.973,60, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweit-
und Drittbeschwerdeführer; sie sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit.
Die Beschwerdeführerin und die Beschwerdeführer reisten im Mai 2005 in des Gebiet der EU-Mitgliedstaaten ein und stellten am 29. Mai 2005 in Polen Asylanträge. Am 31. Juli 2005 reisten sie in das Bundesgebiet ein und brachten am nächsten Tag (weitere) Asylanträge ein.
Im Rahmen einer am 16. August 2005 erfolgten Untersuchung der Erstbeschwerdeführerin stellte Dr. Ilse Hruby, Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, keine "krankheitswertige psychische Störung" fest. Allerdings leide die Erstbeschwerdeführerin seit Langem an Epilepsie und sei ihren Angaben zufolge in Polen auch deshalb (wie Dr. Hruby anmerkte: mit dem Standard entsprechenden Medikamenten) behandelt worden.
Mit Bescheiden vom 24. August 2005 wies das Bundesasylamt die Asylanträge der beschwerdeführenden Parteien - nach Konsultationen mit den zuständigen polnischen Behörden - gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 idF der Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101 (AsylG), als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung der Asylanträge sei "gemäß Artikel 13 iVm 16 Absatz 1 lit. d der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Polen zuständig, und wies die beschwerdeführenden Parteien gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus.
Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die dagegen erhobenen Berufungen, in denen keine Traumatisierung oder sonstige psychische Störung der Beschwerdeführerin oder ihrer Söhne vorgebracht wurde, "gemäß §§ 5, 5a" AsylG ab. Sie ging - von den Beschwerden insoweit unbestritten - davon aus, dass für die Prüfung der Asylanträge nach den Kriterien der Dublin-Verordnung Polen zuständig sei. Eine Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts sei u.a. deshalb nicht erforderlich, da sich aus den in den Berufungen unbestrittenen und auf einer ärztlichen Untersuchung im Zulassungsverfahren basierenden Feststellungen der erstinstanzlichen Bescheide ergebe, dass bei der Erstbeschwerdeführerin keine krankheitswertige psychische Störung vorliege. Sie sei daher auch von den in der Berufung erwähnten Defiziten der psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen Versorgung in Polen nicht betroffen. Im Hinblick auf die Epilepsieerkrankung habe sich bereits anlässlich des Voraufenthaltes der Erstbeschwerdeführerin in Polen ergeben, dass ihr dort medizinische Hilfe nach dem Stand der Medizin geleistet worden sei.
Dagegen richten sich die vorliegenden - wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen - Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde und Erstattung von Gegenschriften erwogen hat:
1. Die am 13. Oktober 2005 eingebrachten Beschwerden wenden sich gegen die Annahme der belangten Behörde, die Voraussetzungen für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung durch Österreich seien hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin und damit auch hinsichtlich des Zweit- und des Drittbeschwerdeführers nicht gegeben. Es wird vorgebracht, die Erstbeschwerdeführerin sei im Verwaltungsverfahren aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung (Traumatisierung) nicht handlungs- und prozessfähig gewesen. Eine Abschiebung der Erstbeschwerdeführerin nach Polen würde einerseits angesichts der dortigen Behandlungsdefizite im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten gegen Art. 3 EMRK verstoßen, andererseits im Hinblick auf eine mögliche Traumatisierung eine Verletzung von § 24b Abs. 1 AsylG darstellen. Wie sich aus mit Beschwerdeergänzungen vorgelegten Befunden ergebe, leide die Beschwerdeführerin überdies an einer Hirnzyste (Hydrocephalus) und an Hepatitis C. Aus - ebenfalls mit Beschwerdeergänzungen vorgelegten - Bestätigungen des Ambulatoriums für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen ("die Boje") vom 1. Dezember 2005 ergebe sich überdies, dass der Zweit- und der Drittbeschwerdeführer an posttraumatischen Belastungsstörungen litten.
Zum Beleg der Handlungs- und Prozessunfähigkeit der Erstbeschwerdeführerin wurde nachträglich der Beschluss des Bezirksgerichtes Josefstadt vom 27. März 2006, GZ 23 P 121/05a-29, vorgelegt, mit welchem für die Erstbeschwerdeführerin Mag. Dr. Ilse Korenjak, Rechtsanwältin in Wien, gemäß § 273 ABGB zur Sachwalterin mit dem Aufgabenkreis "Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten; Vertretung gegenüber privaten Vertragspartnern soweit dies über alltägliche Geschäfte hinaus geht" bestellt wurde.
Mit Schreiben vom 6. Juni 2007 (bewilligt mit Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 14. Juni 2007, GZ 082 4 P 50/07g-
49) genehmigte die Sachwalterin über Anfrage des Verwaltungsgerichtshofs u.a. den Verfahrenshilfeantrag vom 6. September 2005, protokolliert zu den Zlen. VH 2005/01/0321 bis 0323, sowie die gegenständlichen Beschwerden vom 13. Oktober 2005 (zur Möglichkeit der nachträglichen Genehmigung einer Beschwerde gemäß § 273a ABGB über Anfrage des Verwaltungsgerichtshofs vgl. etwa die hg. Beschlüsse vom 2. Juli 1998, Zl. 98/16/0023, und vom 4. April 2001, Zl. 2000/01/0121).
Dem Beschluss des Bezirksgerichtes Josefstadt vom 27. März 2006 über die Sachwalterbestellung liegt ein aktenkundiges Sachverständigengutachten von OA Dr. H. M.-K., Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, vom 18. Februar 2006 zugrunde, welches unter der Rubrik "Zusammenfassung und Gutachten" folgende Aussagen enthält:
"Die unterfertigte Sachverständige kommt zu dem Schluss, ... dass sich das Bild eines organischen Psychosyndroms zeigt, dem zugrunde liegend eine seit Jahrzehnten bestehende Epilepsie. Soweit anamnestisch zu erfahren war, zurückzuführen auf eine Meningitis. Im Weiteren besteht eine Hirnzyste.
Es liegen bei der Betroffenen auch sehr fassbare Hinweise vor, die einer posttraumatischen Belastungsstörung nach einer Extrembelastung entsprechen. Daraus resultierend seelische sowie auch psychosoziale und psychosomatische Störungen indem starke diffuse Schmerzattacken auftreten (psychosomatisch: körperliche Störung ohne organische Grundlagen, meist durch unverarbeitete seelische Probleme).
Die Angstsymptome treten immer wieder auf. Diese sind sicherlich auch zurückzuführen auf entsprechende negative Erlebnisse und Erinnerungen. Im Weiteren kommt es dann zu einer vegetativen Übererregbarkeit und Schreckhaftigkeit, was auch bei der Betroffenen vorliegt, sowie ist sie auch kaum fähig, alleine wohin zu gehen. Sie benötigt immer Begleitung und bekommt alleine Panikattacken. Erschwerend kommt hinzu, dass die Epilepsieerkrankung Angst vor neuerlichem Anfallsgeschehen beinhaltet. Sie selbst sieht sich außerstande - vor allem aufgrund der seelischen Belastung - zurzeit entsprechende Schritte vor allem im Zusammenhang mit dem Asylverfahren für sich zu unternehmen (auftretende Angelegenheiten bei Behörden und Gerichten selbst zu besorgen).
Eine posttraumatische Belastungsreaktion PTBR ist hervorgerufen durch ein traumatisches Erlebnis, daraus resultiert eine "seelische Verletzung" mit entsprechenden Folgen. Eine PTBR tritt immer im Zusammenhang mit extremer Belastung auf, Ursachen sind Vertreibung und Krieg sowie auch individuelle Gewalteinwirkungen.
Die Betroffene scheint doch in den letzten Jahren schweren Belastungen ausgesetzt gewesen zu sein. Daraus ergeben sich Hinweise, dass ihre seelischen (und) körperlichen Reserven sich doch reduziert haben. ...
Die Betroffene ist sicherlich nicht fähig (aufgrund ihres psychischen Leidens, wie beschrieben), sich selbst ohne die Gefahr eines Nachteils vor Ämtern, Behörden, Gerichten und privaten Vertragspartnern zu vertreten, vor allem im Zusammenhang mit ihrem Asylverfahren. ...
Das Beisein bei einer mündlichen Verhandlung ist dem Wohle der Betroffenen als nicht abträglich zu erachten. Sie benötigt jedoch eine Begleitung."
2. Gemäß § 9 AVG hat die Behörde die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten - wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist - nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiellrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft. Gemäß § 273a Abs 1 ABGB kann eine Person, der ein Sachwalter bestellt wurde, innerhalb des Wirkungskreises des Sachwalters ohne dessen ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung rechtsgeschäftlich weder verfügen noch sich verpflichten. Diese Regelung statuiert die beschränkte Geschäftsfähigkeit von Personen, denen ein Sachwalter bestellt wurde, in der Art des § 151 Abs 1 ABGB. In diesen Grenzen steht der Behinderte einem Unmündigen über sieben Jahre gleich.
Der Beschluss über die Sachwalterbestellung hat zwar konstitutive Wirkung nur für die Zeit ab seiner Erlassung. Für die Zeit davor ist aber zu prüfen, ob die Erstbeschwerdeführerin schon damals nicht mehr prozessfähig gewesen ist und somit nicht mehr in der Lage war, Bedeutung und Tragweite der Verfahren und der sich in diesen ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen derartiger Verfahren entsprechend zu verhalten (vgl. das Erkenntnis vom 20. Februar 2002, Zl. 2001/08/0192 und die dort zitierte Vorjudikatur).
3. Aus dem erwähnten unbedenklichen - auch von der belangten Behörde im Rahmen der ihr vom Verwaltungsgerichtshof mit Schreiben vom 2. Mai 2007 dazu eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme nicht in Zweifel gezogenen - Sachverständigengutachten ergibt sich, dass die Erstbeschwerdeführerin aufgrund der beschriebenen psychischen Leiden nicht (mehr) fähig ist, sich ohne die Gefahr eines Nachteils insbesondere auch im Asylverfahren zu vertreten. Als derartige Leiden führt die Sachverständige vor allem eine "seit Jahrzehnten bestehende Epilepsie" und eine (wahrscheinliche) posttraumatische Belastungsstörung nach einer Extrembelastung an. Letztere führt sie erkennbar auf die "schweren Belastungen", denen die Erstbeschwerdeführerin "in den letzten Jahren" ausgesetzt gewesen sei, zurück. Aus all dem lässt sich nur schließen, dass der von der Sachverständigen am 18. Februar 2006 begutachtete Geisteszustand der Erstbeschwerdeführerin nicht erst zu diesem Zeitpunkt, sondern schon seit dem Auftreten der "psychischen Leiden", jedenfalls aber bereits bei der am 25. August 2005 durch persönliche Übergabe an die Erstbeschwerdeführerin erfolgten Zustellung der Bescheide des Bundesasylamts vom 24. August 2005, vorlag. Der Verwaltungsgerichtshof geht daher davon aus, dass die Erstbeschwerdeführerin nicht in der Lage war, die Bedeutung und Tragweite der ihr zugestellten Bescheide zu erkennen, diese zu verstehen und sich dementsprechend zu verhalten, geschweige denn, die gesetzliche Vertretung ihrer beiden Söhne im Verfahren wahrzunehmen.
4. Daraus folgt, dass die - entgegen § 11 AVG durchgeführte - persönliche Zustellung der erstinstanzlichen Bescheide an die unvertretene Erstbeschwerdeführerin ihr und damit auch ihren minderjährigen Söhnen gegenüber nicht zu einer rechtswirksamen Erlassung dieser Bescheide führen konnte (vgl. etwa die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998),
E 131 zu § 9 AVG, zitierte hg. Judikatur). Da die erstinstanzlichen Erledigungen somit keinen Bescheidcharakter besitzen, hat die belangte Behörde insofern, als sie über die Berufungen meritorisch entschieden hat anstatt sie wegen Unzulässigkeit mangels tauglichen Anfechtungsgegenstandes zurückzuweisen, ihre Zuständigkeit überschritten (vgl. dazu Hengstschläger/Leeb, AVG § 63 Rz 46 und die dort zitierte hg. Judikatur).
5. Zur Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerden bleibt darauf hinzuweisen, dass die angefochtenen Bescheide nach der Aktenlage am 15. September 2005 dem Bundesasylamt, dem im Verfahren vor dem unabhängigen Bundesasylsenat Parteistellung zukommt (§ 23 Abs. 1 AsylG iVm § 67b Z 1 AVG), rechtswirksam zugestellt wurden. Damit erlangten sie rechtliche Existenz (zur Bescheiderlassung im Mehrparteienverfahren vgl. die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrengesetze I2 (1998), E 35 ff. zu § 62 AVG, angeführte ständige hg. Rechtsprechung). Die Anfechtung dieser Bescheide durch die weiteren Parteien des Asylverfahrens, denen diese Bescheide nicht wirksam zugestellt wurden, ist daher zulässig (vgl. dazu etwa Mayer, B-VG3 (2002) § 26 VwGG VI.).
6. Da die Beschwerden aufgrund der Unzuständigkeit der belangten Behörde auch berechtigt sind, waren die angefochtenen Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.
7. Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 2 und 6 VwGG abgesehen werden.
8. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl II Nr. 333.
Wien, am 30. August 2007
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