VwGH 2006/19/0156

VwGH2006/19/015624.8.2007

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des N, vertreten durch Mag. Karin Lindner, Rechtsanwältin in 4020 Linz, Roseggerstraße 58, gegen den am 17. März 2005 verkündeten und am 25. April 2005 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 231.312/10-II/04/05, betreffend §§ 7 und 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
VwGG §42 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
VwGG §42 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird insoweit, als damit Spruchpunkt II des erstinstanzlichen Bescheides (Zulässigerklärung der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan) gemäß § 8 Asylgesetz 1997 bestätigt wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte im November 2001 - damals 15-jährig - in das Bundesgebiet und beantragte Asyl. Bei seiner Einvernahme zu den Fluchtgründen am 27. Februar 2002 gab er an, Afghanistan im September/Oktober 2000 auf Grund des von ihm im Monat zuvor bei einem Sportunfall verschuldeten Todes eines Kindes verlassen zu haben. Nach dem Vorfall hätte die Familie des getöteten Kindes versucht, sich am Beschwerdeführer zu rächen, und auch die vorübergehende Festnahme seines Vaters durch die Taliban erwirkt.

Im weiteren Verfahren vor dem Bundesasylamt brachte der den Beschwerdeführer vertretende Jugendwohlfahrtsträger - neben umfangreichen Ausführungen zur Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse in Afghanistan - vor, der Beschwerdeführer habe den Kontakt zu seinen Eltern verloren und von einem im Iran lebenden Onkel erfahren, dass das Haus, in dem die Familie in Kabul gelebt habe, zerstört sei.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 3. September 2002 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I des erstinstanzlichen Bescheides) und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG für zulässig (Spruchpunkt II). Es führte u.a. aus, nach dem "ho. Amtswissen" sei "Blutrache in Kabul lediglich in den dreißiger Jahren vollzogen" worden und aus dem "Vorbringen" des Beschwerdeführers gehe hervor, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan bei seiner "Familie über eine Wohnmöglichkeit, sowie über familiären Rückhalt" verfügen würde.

Am 12. Dezember 2003 verhandelte die belangte Behörde unter Beiziehung des Sachverständigen Dr. Klimburg über die Berufung des Jugendwohlfahrtsträgers gegen diesen Bescheid sowie über Berufungen anderer afghanischer Asylwerber. Nach mehr als sechsstündiger Verhandlung, in der der Fall des Beschwerdeführers ("BW IX") aber nur zweimal kurz zur Sprache kam, vertagte die belangte Behörde sein Verfahren.

In der fortgesetzten Berufungsverhandlung am 17. März 2005 äußerte sich der Sachverständige Dr. Klimburg, nach telefonischer Kontaktaufnahme mit einer vom Beschwerdeführer genannten Auskunftsperson in Kabul, näher zum Fall des Beschwerdeführers. Er erachtete den - von der Auskunftsperson bestätigten - tödlichen Sportunfall als nachvollziehbar, nicht jedoch den vom Beschwerdeführer behaupteten Versuch der Familie des Opfers, ohne vorherige Aufnahme von Verhandlungen über eine finanzielle Entschädigung am Beschwerdeführer Rache zu nehmen. Darüber hinaus erachtete der Sachverständige es in Anbetracht ihrer Feindschaft mit den Taliban als "überhaupt kaum vorstellbar", dass sich zur Zeit des Vorfalls noch Panjiris - um solche sollte es sich bei der Familie des Opfers nach den Angaben des Beschwerdeführers handeln -

in Kabul aufgehalten hätten ("zumal das Panjirtal auch von Kabul aus nicht weit entfernt ist"). Es sei aus diesem Grund auch "höchst unwahrscheinlich", dass solche Personen dazu in der Lage gewesen wären, gegenüber der Familie des Beschwerdeführers (eines schiitischen, Dari sprechenden Tadschiken) die Hilfe der Taliban in Anspruch zu nehmen.

Darüber hinaus beurteilte der Sachverständige die Sicherheitslage in Kabul (die Lage sei dort "noch besser" als in der in einem anderen Fall beurteilten Provinz, es sei ein "Neuaufbau der afghanischen Polizei mit deutscher Betreuung" im Gange, das Gerichtswesen sei "mit westlichen Maßstäben durchaus vergleichbar" und "grundsätzlich in Funktion", und der "offenkundig weitgehend mittellose" Beschwerdeführer würde auch kaum zur bevorzugten Zielgruppe krimineller Übergriffe gehören). Schließlich äußerte sich der Sachverständige auf Wunsch des Verhandlungsleiters noch zu der Frage, ob dem Beschwerdeführer bei Rückkehr eine existentielle Notlage drohe. In diesem Zusammenhang kam ein von der belangten Behörde in einem anderen der am 12. Dezember 2003 verhandelten Fälle eingeholtes Gutachten des Sachverständigen Dr. Mostafa Danesch vom 25. November 2003 zur Sprache, von dem aus den Akten nicht hervorgeht, dass es dem den Beschwerdeführer vertretenden Jugendwohlfahrtsträger zugänglich gemacht worden war (vgl. hiezu auch das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0143). Zu diesem Gutachten, das u.a. die Bemühungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) behandelte, nahm der Sachverständige Dr. Klimburg teilweise kritisch Stellung.

Am Schluss der Verhandlung verkündete die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid, mit dem sie die Berufung gemäß §§ 7 und 8 AsylG zur Gänze abwies.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die belangte Behörde hat sich in der Darstellung der "sachverhaltsmäßigen" Grundlage ihrer Entscheidung abstrakter Bezugnahmen derselben Art - betreffend das Vorbringen "in seiner letzten Fassung, soweit" es mit den Ausführungen des Sachverständigen übereinstimme, und letztere in Bezug auf den "komplementären Teil" - bedient wie in dem mit dem hg. Erkenntnis vom 23. November 2006, Zl. 2005/20/0620, behandelten Fall (vgl. dazu auch die Erkenntnisse vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0131 und Zl. 2006/19/0155). Erst in den Rechtsausführungen finden sich - im vorliegenden Fall - konkretisierende Bemerkungen, in denen u.a. ausgeführt wird, das "zentrale Vorbringen" des Beschwerdeführers werde "der Entscheidung schon in sachverhaltsmäßiger Hinsicht nicht zugrunde gelegt".

Gemeint ist damit - soweit nachvollziehbar - nicht die behauptete Tötung eines Kindes durch den Beschwerdeführer, sondern nur dessen Darstellung der weiteren Entwicklung. Insoweit die belangte Behörde diesen Angaben bloß mit dem Hinweis auf die Ausführungen des Sachverständigen entgegen tritt, ist die gedankliche Schlüssigkeit dieses Vorgehens zweifelhaft, weil in Bezug auf den dabei im Vordergrund stehenden Aspekt einer "Tradition", zunächst einen finanziellen Ausgleich zu suchen, die zugrunde liegende Prämisse, Personen in Afghanistan verhielten sich stets entsprechend der "Tradition", nicht offen gelegt und begründet wird (vgl. zu diesem Thema die im hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0155, wiedergegebenen Ausführungen desselben Sachverständigen).

Die belangte Behörde verweist aber - "der Vollständigkeit halber" - auch darauf, dass der behaupteten Gefährdung durch Rache der Familie des getöteten Kindes der für die Asylgewährung erforderliche Zusammenhang mit einem Konventionsgrund fehle. Dies trifft im vorliegenden Fall, da der Beschwerdeführer selbst das Kind getötet hat, nach den Maßstäben des von der belangten Behörde dazu zitierten hg. Erkenntnisses vom 26. Februar 2002, Zl. 2000/20/0517, zu, weshalb die Beschwerde insoweit, als sie sich gegen die Bestätigung der Abweisung des Asylantrages richtet, mangels tauglicher Hinweise auf andere dem Beschwerdeführer drohende und mit einem Konventionsgrund zusammenhängende Verfolgungsgefahren nicht erfolgreich sein kann.

In Bezug auf die Ansicht der belangten Behörde, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan könne gemäß § 8 AsylG für zulässig erklärt werden, ist die Begründung des angefochtenen Bescheides hingegen nicht ausreichend. Sie lautet - ungekürzt und zum Teil noch die Abweisung des Asylantrages betreffend - wie folgt:

"Nachdem der aufgenommene Sachverständigenbeweis auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer sonstigen im gegenständlichen Verfahren relevanten Gefährdung des Berufungswerbers, im Falle seiner (freiwilligen oder zwangsweisen) Rückkehr nach Afghanistan, erbracht hat (geprüft wurden: Gefahr einer Verfolgung aus ethnischen oder religiösen Gründen, Auswirkungen der erfolgten Asylantragstellung in Österreich, zu erwartende Behandlung an der Grenze, allgemeine Sicherheitslage, vor allem in Kabul, sowie schließlich die Möglichkeit des Berufungswerbers, in wirtschaftlicher Hinsicht zumindest ein Abfallen unter das vom Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 16.7.2003, Zl. 2003/01/0059, noch für im Lichte des Art. 3 EMRK unbedenklich erachtete Niveau zu vermeiden), war die Berufung spruchgemäß vollinhaltlich abzuweisen."

Ein Text dieser Art gibt zwar über die Themen der vorgenommenen Prüfung und über das Ergebnis Auskunft, lässt sich aber nicht als dessen Begründung verstehen, was allein schon zur Aufhebung des zweiten Spruchpunktes führen muss.

Zur Vermeidung weiterer Rechtswidrigkeiten im fortgesetzten Verfahren ist aber auch darauf hinzuweisen, dass der Sachverständige - wie die Beschwerde mit Recht hervorhebt - den von der belangten Behörde nicht als unglaubwürdig beurteilten fluchtauslösenden Vorfall und die nach Meinung des Sachverständigen "zu erwartenden" finanziellen Forderungen als Vorstufe einer möglichen Racheübung in seinen Ausführungen zur Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr nach Kabul völlig ausgeblendet hat. Eine bloß auf diese Ausführungen gestützte Beurteilung dieser hypothetischen Situation wäre daher gedanklich nicht schlüssig. Die optimistisch gefärbten Ausführungen des Sachverständigen zur Entwicklung der Sicherheitslage in Kabul geben darüber hinaus auch Anlass zum Hinweis auf die Verantwortung der belangten Behörde, eine für die betroffene Partei mit so schwerwiegenden Konsequenzen verbundene Entscheidung auf ausreichend breite Grundlagen zu stützen (vgl. in diesem Zusammenhang etwa das hg. Erkenntnis vom 1. April 2004, Zl. 2002/20/0440; in Bezug auf das von der belangten Behörde eingeholte Gutachten von Dr. Mostafa Danesch auch das schon zitierte Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0143).

Es war daher der angefochtene Bescheid insoweit, als darin - durch Bestätigung des entsprechenden Teils des erstinstanzlichen Bescheides - die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan für zulässig erklärt wurde, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben und die Beschwerde im Übrigen - nämlich hinsichtlich der Bestätigung der Abweisung des Asylantrages - gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff , insbesondere auf § 50 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 24. August 2007

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