VwGH 2006/19/0155

VwGH2006/19/015524.8.2007

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des A, vertreten durch Dr. Christian Moser, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Neutorgasse 24, gegen den am 4. April 2005 verkündeten und am 25. April 2005 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 226.745/20-II/04/05, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan und schiitischer Qizilbash aus Kabul, gelangte im November 2001 in das Bundesgebiet und beantragte Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 25. Februar 2002 gab er an, verwitwet zu sein und einen fünfjährigen Sohn zurückgelassen zu haben, dessen Wohnort in Kabul er gleich wie für seine Eltern und Geschwister angab. Er selbst habe bis Juni 2001 ebenfalls dort gewohnt, sei allerdings im Jänner 2001 im Teheran gewesen, wo ihm in der Botschaft sein Reisepass ausgestellt worden sei. Die Frage, wann seine Frau gestorben sei, beantwortete er damit, sie sei 1994 bei einem Artillerieangriff ums Leben gekommen. Als Fluchtgrund gab er an, die Taliban seien immer fanatischer geworden und er habe auch befürchtet, zwangsrekrutiert zu werden. Die Taliban brauche er jetzt nicht mehr zu fürchten, aber er habe in Afghanistan nichts mehr, die Situation dort sei schlecht und er wolle nicht zurück. Auf die Frage, ob er nicht seinen Sohn wiedersehen wolle, antwortete er, er habe im Moment keinen Kontakt zu ihm, hoffe ihn aber eines Tages nachzuholen. Bei der Angabe des Alters seines Sohnes müsse er sich geirrt haben, dieser sei um einiges älter.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 25. Februar 2002 gemäß § 7 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan aber gemäß § 8 AsylG für nicht zulässig. Die Abweisung des Asylantrages begründete es damit, dass der Beschwerdeführer vor den Taliban geflohen und dieser Fluchtgrund wegen des Sturzes der Taliban "gegenstandslos" sei.

In Ergänzung der nicht mit neuem Vorbringen verbundenen Berufung vom 28. Februar 2002 gegen die Abweisung des Asylantrages legte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers mit Schriftsatz vom 31. März 2003 Kopien eines Schulzeugnisses, der Heiratskunde und des Personalausweises des Sohnes des Beschwerdeführers vor, die - soweit aus den vorgelegten Akten ersichtlich - im weiteren Verfahren weder übersetzt noch erörtert wurden. Er beantragte zur Frage der Gefährdung im Falle einer nunmehrigen Rückkehr nach Afghanistan die Einholung von Stellungnahmen von Amnesty International und UNHCR sowie die Beiziehung eines länderkundlichen Sachverständigen.

Von Juli 2003 bis Oktober 2003 richtete der Beschwerdeführer insgesamt sieben handschriftliche Eingaben an das Bundesasylamt und die belangte Behörde, in denen er u.a. jeweils ausführte, durch das lange Warten auf das "zweite Interview" habe er "mental problems" bzw. "verschiedene Krankheiten" bekommen. Zum Teil lagen diesen Eingaben ärztliche Bestätigungen bei.

Mit Schriftsatz vom 28. August 2003 brachte der Vertreter des Beschwerdeführers ergänzend vor, dessen Ehefrau sei Paschtunin gewesen und ihre Familie habe dem Beschwerdeführer vorgeworfen, sich bei der Verletzung, an der sie gestorben sei, zu wenig um sie gekümmert zu haben. Dem Beschwerdeführer drohe daher die Rache dieser Familie.

In der Berufungsverhandlung am 2. September 2004 gab der Beschwerdeführer - der Niederschrift zufolge ohne nähere Einzelheiten - an, seine erstinstanzlichen Angaben seien "nicht richtig" gewesen. "Von Bedeutung" könne jedoch sein, dass er als schiitischer Qizilbash seinerzeit gegen den Willen ihrer Familie eine sunnitische Paschtunin geheiratet habe. Etwa eineinhalb Jahre später sei seine Frau von Angehörigen ihrer Familie getötet worden. Er selbst erachte sich ebenfalls durch diese gefährdet. Sein Sohn habe 1999/2000 noch bei der Familie des Beschwerdeführers gelebt, sei inzwischen aber, möglicherweise noch unter dem Taliban-Regime, von der Familie seiner Frau entführt worden, wie er erst kürzlich erfahren habe.

Der (im Juli 2004) zur Verhandlung geladene Sachverständige Dr. Klimburg gab zu Protokoll, dieser Sachverhalt sei ihm "bereits anlässlich seines jüngsten Aufenthaltes in Kabul vom Bruder des BW ... am 18.5.2004 mitgeteilt worden ... (siehe Beilage A)" und er halte es für möglich, diese Informationen bei der Familie der getöteten Ehefrau "gegenzuprüfen", wenn der Beschwerdeführer geeignete Daten zur Verfügung stelle. Der Beschwerdeführer nannte daraufhin u.a. die Namen und den letzten ihm bekannten Aufenthaltsort seiner Schwiegereltern.

Die Verhandlungsniederschrift enthält keinen Hinweis auf eine Erörterung des Umstandes, dass der (in deutscher Sprache gehaltenen) "Beilage A" zufolge der Bruder des Beschwerdeführers dem Sachverständigen gesagt hatte, der Beschwerdeführer sei schon nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban und einmonatiger Inhaftierung durch diese in den Iran geflohen, wobei er "die Frau mitgenommen" habe. Der Urheber der dazu in Widerspruch stehenden, aber dem nunmehrigen Vorbringen entsprechenden und ebenfalls in der Beilage festgehaltenen Information, die Frau des Beschwerdeführers sei (zu einem noch früheren Zeitpunkt) von Angehörigen ihrer eigenen Familie getötet worden, ging aus der Beilage nicht hervor.

In der fortgesetzten Berufungsverhandlung am 4. April 2005 berichtete der Sachverständige von einem Gespräch, das er anlässlich eines weiteren Aufenthaltes in Kabul am 30. November 2004 mit den Eltern des Beschwerdeführers geführt habe, wobei dessen Bruder zwar anwesend gewesen sei, sich zur Sache aber nicht geäußert habe. Der Sachverständige begutachtete einzelne Aspekte des ihm beschriebenen Konfliktes zwischen der sunnitisch-paschtunischen Familie der verstorbenen Frau und der Familie des Beschwerdeführers, wobei unter anderem zur Sprache kam, "auch in Afghanistan" würden "nicht nur staatliche rechtliche Normen, sondern auch solche religiöser bzw. traditioneller Art ... im Einzelfall durchbrochen werden" und die "tatsächliche Bindungswirkung" dieser Normen könnte im vorliegenden Fall aus näher beschriebenen Gründen eingeschränkt gewesen sein. Darüber hinaus äußerte sich der Sachverständige - zum Teil beweiswürdigend - über Widersprüche in den Angaben des Beschwerdeführers sowie zwischen diesen und den Angaben seiner Eltern. Zum Sohn des Beschwerdeführers führte er u.a. aus, es sei "auszuschließen", dass die Vaterschaft des Beschwerdeführers "zum behaupteten Zeitpunkt der Geburt" urkundlich festgehalten worden sei, weil es damals "kein funktionierendes Personenstandswesen" gegeben habe. Auf den vorgelegten Personalausweis des Sohnes des Beschwerdeführers nahm er dabei nicht Bezug.

Schließlich hielt der Verhandlungsleiter dem Beschwerdeführer aber die schon in der "Beilage A" zum ersten Verhandlungsprotokoll festgehaltene Angabe seines Bruders am 18. Mai 2004 vor, wonach der Beschwerdeführer bei der Flucht in den Iran "die Frau mitgenommen" habe. Der Sachverständige gab bekannt, die Information über die Tötung der Frau des Beschwerdeführers durch deren Verwandte habe er damals vom Vater des Beschwerdeführers erhalten, den er am Mobiltelefon des Bruders des Beschwerdeführers erreicht habe.

Der Verhandlungsleiter führte aus, er halte es für naheliegend, dass der Beschwerdeführer seine am 2. September 2004 vorgetragene Darstellung "zwar mit seinen Eltern, nicht aber auch mit seinem Bruder abgesprochen habe". Im Zuge des nachfolgenden Wortwechsels richtete er an den Beschwerdeführer u.a. die Frage, ob dieser "im Ernst meine, dass man ihm lediglich seiner schönen Augen wegen Asyl gewähren und auf ein Ermittlungsverfahren überhaupt verzichten solle".

Schließlich gab der Sachverständige noch zu Protokoll, als "schiitischer Qizilbash ohne politisches Profil" müsse der Beschwerdeführer unter den gegenwärtigen Verhältnissen weder staatliche noch "gesellschaftliche" Verfolgung, "schon gar nicht in Kabul", befürchten.

Die belangte Behörde verkündete ihre Entscheidung, mit der sie die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG abwies.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die Beschwerde kritisiert zurecht die Vorgangsweise der belangten Behörde, von Sachverhaltsfeststellungen - u.a. über die Frage, ob dem Beschwerdeführer als schiitischem Qizilbash in Kabul noch Verfolgung drohe - ganz abzusehen. Die belangte Behörde hat sich - wie in den mit den hg. Erkenntnissen vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0131 und Zl. 2006/19/0156, erledigten Fällen - stattdessen einer abstrakten Bezugnahme auf das Vorbringen des Beschwerdeführers in seiner letzten Fassung ("soweit" es mit der "Beurteilung" des Sachverständigen "im Einklang" stehe) und auf die Darlegungen des Sachverständigen (hinsichtlich des "komplementären Teils" und hinsichtlich der "allgemeinen Situation" in Afghanistan) bedient und damit ihren in § 60 AVG normierten Begründungspflichten nicht entsprochen (vgl. dazu schon das hg. Erkenntnis vom 23. November 2006, Zl. 2005/20/0620).

In den Rechtsausführungen, in denen sie wegen der ethnischen und religiösen Implikationen einen Zusammenhang der Behauptungen mit einem Konventionsgrund nicht ausschloss, hat die belangte Behörde zum Sachverhalt allerdings noch nachgetragen, sowohl die "erstinstanzlichen Angaben" des Beschwerdeführers - die dieser selbst zu Beginn der Berufungsverhandlung als "nicht richtig" bezeichnet habe - als auch "die nachfolgend erstatteten Angaben" entbehrten "jeder Glaubwürdigkeit, und zwar auf Grund der einfachen Tatsache, dass der vom Sachverständigen, offenbar ohne vorherige Absprache mit dem Berufungswerber, kontaktierte Bruder" des Beschwerdeführers dem Sachverständigen gegenüber angegeben habe, der Beschwerdeführer sei zusammen mit seiner Frau in den Iran geflohen. Darüber hinaus stützt sich die belangte Behörde in diesem Zusammenhang noch auf eine Abschwächung in den Angaben der Eltern des Beschwerdeführers bei ihrer Befragung durch den Sachverständigen am 30. November 2004 (betreffend die Todesursache der Ehefrau des Beschwerdeführers) und auf die Reaktion des Beschwerdeführers auf den Vorhalt der seinerzeitigen Angabe seines Bruders in der fortgesetzten Berufungsverhandlung.

Die Schlüssigkeit dieser Beweiswürdigung - der gegenüber die Beschwerde an der Behauptung einer drohenden Verfolgung durch die Familie der verstorbenen Frau des Beschwerdeführers festhält - kann auf Grund der insgesamt mangelhaften Begründung des angefochtenen Bescheides nicht ausreichend überprüft werden, weil weder den Ausführungen der belangten Behörde (die zum Gang des Berufungsverfahrens nur eine Verweisung auf die Verhandlungsschriften enthalten) noch den vorgelegten Akten entnehmbar ist, wie es zu der den Beschwerdeführer betreffenden Befundaufnahme des Sachverständigen in Kabul im Mai 2004 - zwei Monate vor der erstmaligen Ladung des Sachverständigen zur Berufungsverhandlung - gekommen sein soll. Nicht erkennbar ist im Besonderen, ob der Beschwerdeführer von der Bestellung des Sachverständigen und dessen Betrauung mit derartigen Nachforschungen im Herkunftsstaat überhaupt Kenntnis erlangt und somit allenfalls Anlass dazu hatte, sich mit seinem Vater in Kabul schon zu diesem frühen Zeitpunkt "abzusprechen". Auf entsprechende Kontakte zwischen der belangten Behörde und dem damaligen Vertreter des Beschwerdeführers oder diesem selbst deutet in den vorgelegten Akten nichts hin.

Damit fehlt es aber an einer wesentlichen Grundlage für ein Urteil darüber, ob die Annahme der belangten Behörde, die ursprüngliche Angabe des Bruders des Beschwerdeführers sei in diesem Punkt richtig und die nachfolgenden - durch diesen Bruder ermöglichten bzw. in seinem Beisein erfolgten - Angaben des Vaters bzw. der Eltern des Beschwerdeführers über den Tod der Ehefrau des Beschwerdeführers seien unwahr, insgesamt schlüssig ist. Auch eine Bedachtnahme darauf, dass der Beschwerdeführer den Tod seiner Ehefrau schon ganz zu Beginn des Verfahrens erwähnt hatte, und - hinsichtlich der Reaktion des Beschwerdeführers auf den Vorhalt in der fortgesetzten Berufungsverhandlung - auf die schon aus seinen Eingaben hervorgehende psychische Beeinträchtigung ist den beweiswürdigenden Überlegungen der belangten Behörde in deren Rechtsausführungen nicht entnehmbar.

Was schließlich die Bemerkung der belangten Behörde anlangt, auch ausgehend von den Behauptungen des Beschwerdeführers hätte auf Grund der Verneinung einer Gefährdung durch den Sachverständigen keine Asylgewährung erfolgen können, so ist dies in der Form dieses nur "der Vollständigkeit halber" angefügten und nicht näher ausgeführten Hinweises - angesichts des schon erwähnten Fehlens von Feststellungen zum Sachverhalt - keine tragfähige Eventualbegründung der angefochtenen Entscheidung.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 24. August 2007

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