VwGH 2004/20/0384

VwGH2004/20/038429.9.2005

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerden 1) der S, geboren 1971, und 2) des mj. D, geboren 1992, beide in Salzburg, beide vertreten durch Dr. Stefan Vargha, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Georg-Wagner-Gasse 5, dieser vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1) 28. Juni 2004, Zl. 218.700/0-II/39/00, betreffend §§ 7, 8 AsylG (hg. Zl. 2004/20/0385), und

2) 29. Juni 2004, Zl. 218.698/0-II/39/00, betreffend §§ 10, 11 AsylG (hg. Zl. 2004/20/0387), damit jeweils verbunden die in eventu gestellten Wiedereinsetzungsanträge hg. Zlen. 2004/20/0384 und 0386 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der erstangefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der zweitangefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von je EUR 991,20, insgesamt somit EUR 1.982,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1. Die Erstbeschwerdeführerin, eine türkische Staatsbürgerin, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und der alevitischen Religionsgemeinschaft, reiste am 17. April 2000 gemeinsam mit ihrem minderjährigen Sohn (dem Zweitbeschwerdeführer) und einem weiteren Verwandten in das Bundesgebiet ein. Sie beantragte am 19. April 2000 Asyl sowie namens des Zweitbeschwerdeführers die Erstreckung des ihr zu gewährenden Asyls. Sie wurde zunächst durch die Fremdenpolizei am 18. April 2000 und am 3. Juli 2000 durch das Bundesasylamt einvernommen. Bei der niederschriftlichen Einvernahme am 3. Juli 2000 gab die Erstbeschwerdeführerin an, sie stamme aus einem Dorf im Bezirk Elbistan und sei in ihrer Heimat "stark unterdrückt" worden, weil sie Kurdin sei. Ihr Gatte sei im Jahr 1995 vom Einkaufen nicht mehr zurückgekommen; seit damals habe sie ihn nicht mehr gesehen und habe auch keinen Kontakt zu ihm gehabt. Seither sei sie von der Gendarmerie wiederholt nach dem Aufenthaltsort ihres Ehemannes und darüber befragt worden, "ob er mit den Terroristen zusammen arbeiten würde". Ihr Mann habe "Beziehungen mit der HADEP" gehabt. Auf die Frage, wann die Erstbeschwerdeführerin zum ersten Mal Probleme mit der Gendarmerie gehabt hätte, gab sie zunächst an, "das erste Mal vor zwei Wochen vor der Flucht"; sie seien "jeden Monat gekommen". Auf den Vorhalt des Widerspruches in dieser Angabe führte die Erstbeschwerdeführerin aus, sie seien "jedes Jahr gekommen, aber dieses Jahr ... öfter". Die Gendarmen hätten sie mit dem Umbringen bedroht und misshandelt und die Fensterscheiben zerbrochen. Sie habe keine Möglichkeit, sich in einem anderen Teil der Türkei niederzulassen. Ihr Leben sei überall in Gefahr. Im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei würde die Erstbeschwerdeführerin "mit Sicherheit umgebracht", weil sie Kurdin und ihr Mann untergetaucht sei. Sie sei gemeinsam mit ihrem mj. Sohn und dem Sohn ihres Schwagers geflüchtet, ihre (jüngere) Tochter habe sie bei ihrer Schwiegermutter gelassen.

2. Das Bundesasylamt wies den Asylantrag der Erstbeschwerdeführerin mit Bescheid vom 22. August 2000 gemäß § 7 AsylG ab und sprach aus, dass ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Der auf seine Mutter bezogene Asylerstreckungsantrag des Zweitbeschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 22. August 2000 gemäß § 10 in Verbindung mit § 11 Abs. 1 AsylG abgewiesen.

3. Gegen diese Bescheide erhob die Erstbeschwerdeführerin eine Berufung, die sie selbst unterfertigte. Auch der Zweitbeschwerdeführer erhob Berufung.

Am 11. Dezember 2001 führte die belangte Behörde eine gemeinsame mündliche Verhandlung durch, in der beide Berufungswerber (laut Verzeichnis der anwesenden Beteiligten) durch "Mag. D, Caritas, amtsbekannt, VM mündlich erteilt", vertreten wurden. Die Erstbeschwerdeführerin wiederholte im Wesentlichen ihr Vorbringen, wonach sie von der Gendarmerie mehrfach misshandelt und über den Aufenthaltsort ihres Ehemannes befragt worden. Sie gab an, dass die Gendarmerie die Beschuldigung, "dass wir eine Terrororganisation unterstützen", schon erhoben habe, als ihr Mann noch zu Hause gewesen sei. Man habe ihnen "in die Schuhe schieben (wollen), dass wir die PKK unterstützen". Außer ihrem Mann seien auch andere Mitglieder von dessen Familie "für die kurdische Sache" aktiv gewesen, teilweise hätten "sie für die HADEP gearbeitet, teilweise für die PKK". Die Beschwerdeführer hätten in Ankara eine Verwandte, doch es sei zu gefährlich gewesen, dorthin zu gehen. Wenn man seine Kinder in die Schule schicke, müsse man sich anmelden; in diesem Fall sei man aber mit Sicherheit den Behörden ausgeliefert, "sie" könnten jederzeit nach Hause kommen, den Kindern Angst einjagen und einfach die Eltern mitnehmen. Manchmal würden die Sicherheitskräfte sogar kurdische Kinder schlagen, es werde kein Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gemacht. Die Erstbeschwerdeführerin gab an, sie würde auch im Westen der Türkei, wie alle Kurden, die sich dort angemeldet hätten, "unter enormen Druck leben" und wüsste nicht, wie sie "im Westen" leben und ihre Kinder ernähren sollte.

Der Vertreter der Beschwerdeführer präsentierte drei "Gutachten deutscher SV, aus denen hervorgeht, dass eine Kurdin mit schlechter Schulbildung ohne private Verbindungen außerhalb ihres Heimatortes ihr Existenzminimum, insbesondere auch für 2 Kinder, auch auf Grund der derzeitigen schlechten wirtschaftlichen Lage in der Türkei nicht halten kann". Weiters wiederholte die Erstbeschwerdeführerin, sie habe eine Verwandte in Ankara, es sei ihr aber zu gefährlich gewesen, sich dorthin zu begeben. Sie sei "nicht sicher", ob diese Verwandten ihr hätten helfen können. Nachdem von der belangten Behörde Unterlagen betreffend Frauenhäuser in der Türkei verlesen worden waren, äußerte sich der Vertreter der Beschwerdeführer dahin, dass das Bestehen von Frauenhäusern nicht geeignet sei, für die Erstbeschwerdeführerin eine interne Fluchtalternative zu begründen und wies auf "die jüngste Verschärfung der Gefährdungssituation" laut einem Bericht des US State Departement vom Februar 2001 hin.

4.1. Mit dem erstangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Erstbeschwerdeführerin gemäß §§ 7, 8 AsylG ab. Sie stellte fest, dass der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin seit 1995 verschwunden sei. Die Erstbeschwerdeführerin habe vorgebracht, von der türkischen Polizei "unter Anwendung von körperlicher Gewalt, Erniedrigungen und Sachbeschädigungen zur Bekanntgabe des Aufenthaltsortes ihres Ehemannes befragt" worden zu sein. "Ohne jedoch die Glaubwürdigkeit bzw. die Intensität von allenfalls erfolgten polizeilichen Maßnahmen zu prüfen", sei der Berufung (schon deshalb) kein Erfolg beschieden, "weil sich im gesamten Verfahren keine Anhaltspunkte dafür ergeben (haben), dass die Berufungswerberin möglichen Übergriffen durch die türkische Polizei auch außerhalb ihres Heimatgebietes ausgesetzt gewesen sein könnte". Zwar sei die derzeitige wirtschaftliche Lage der Türkei "mäßig", und es könne sich die Arbeitssuche vor allem für Frauen - auch unter Berücksichtigung des alevitischen Glaubens - schwierig gestalten, doch sei zu berücksichtigen, "dass es auch in der Türkei Fraueneinrichtungen gibt, die Frauen den (Wieder-)Einstieg in das Berufsleben zu organisieren helfen, und es die Möglichkeit gibt, finanzielle Unterstützung durch den Staat (z.B. Sozialhilfe) zu erhalten". Darüber hinaus könne die Erstbeschwerdeführerin durch Verwandte - auch außerhalb ihres Heimatgebietes - unterstützt werden. Ein Fünftel der Bevölkerung der Türkei sei kurdischen Ursprungs. Im Westen der Türkei und an der Südküste lebten die Hälfte bis annähernd zwei Drittel der kurdischstämmigen Bevölkerung. "Ein gegen die Erstbeschwerdeführerin konkret gerichteter Übergriff durch die Polizei allein in diesen Regionen" sei als unwahrscheinlich anzusehen, hätten sich doch keine Anhaltspunkte für eine politische Betätigung der Erstbeschwerdeführerin ergeben. Aus der bloßen Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe sowie der alevitischen Religionszugehörigkeit sei zur Zeit keine asylrechtlich relevante Verfolgung ableitbar. "Da sich somit keine Anhaltspunkte für eine wirtschaftliche Existenzgefährdung ergeben haben", sei - "auch unter Zugrundelegung der in der mündlichen Verhandlung verlesenen internationalen Berichte" - eine inländische Fluchtalternative gegeben. "Aufgrund internationaler Berichte (z.B. Auswärtiges Amt Deutschland, 22.6.2000)" stellte die belangte Behörde zur Situation von Ab- bzw. Zurückgeschobenen sowie abgelehnten Asylwerbern bei der Einreise in die Türkei fest, dass bei der Einreisekontrolle nicht von Repressalien infolge von "Sippenhaft" auszugehen sei, da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen würden, dass der Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin mit Haftbefehl gesucht würde. Die Erstbeschwerdeführerin habe im Asylverfahren einen Personalausweis (Nüfus) vorgelegt. Vor diesem Hintergrund sei somit auch hinsichtlich der Einreise der Erstbeschwerdeführerin in die Türkei mit keinen Schwierigkeiten (Misshandlungen, Inhaftierungen) seitens der türkischen Behörden zu rechnen.

4.2. Mit dem zweitangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Zweitbeschwerdeführers unter Hinweis auf die Abweisung der Berufung seiner Mutter gemäß §§ 10, 11 AsylG ab.

5. Den erstangefochtenen Bescheid adressierte die belangte Behörde an die Erstbeschwerdeführerin "vertreten durch:

Caritas Wien, Mariannengasse 11, 1090 Wien". Den zweitangefochtenen Bescheid adressierte sie an "mj. ED vertreten durch die Mutter ES, diese vertreten durch: Caritas Wien, Mariannengasse 11, 1090 Wien".

An der angeführten Adresse wurden die Sendungen laut Rückschein am 1. Juli 2004 (erstangefochtener Bescheid) bzw. 2. Juli 2004 (zweitangefochtener Bescheid) von einem "Arbeitnehmer des Empfängers" übernommen.

Mit Schriftsatz vom 17. August 2004 gab der nunmehrige Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin der belangten Behörde seine Bevollmächtigung durch beide Beschwerdeführer bekannt, worauf die belangte Behörde am 18. August 2004 dem Beschwerdevertreter Kopien der "Rückscheine betreffend Bescheidzustellung" übermittelte.

Am 20. August 2004 beantragte der Beschwerdevertreter mit der Begründung, es sei an die Caritas Wien keine Zustellvollmacht erteilt worden (was von der Caritas am 8. August 2004 der belangten Behörde mitgeteilt worden sei), die neuerliche Zustellung der nunmehr angefochtenen Berufungsbescheide. Die belangte Behörde vermerkte im Akt, dass "nichts weiter zu veranlassen sei" und nahm keine neuerliche Zustellung vor.

6.1. Am 30. August 2004 stellte die Erstbeschwerdeführerin beim Verwaltungsgerichtshof einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Erhebung einer Beschwerde gegen diesen Bescheid, in dem sie als Zustelldatum den "27.8.2004" anführte und hinzufügte "bzw. in eventu Wiedereinsetzungsantrag". Am 1. September langte ein gleichlautender Verfahrenshilfeantrag des Zweitbeschwerdeführers ein, wobei als Zustelldatum der "30.8.2004" angeführt wurde.

Die Beschwerdeführer begründeten ihre Anträge in der Folge näher damit, dass Mag. D für die "Caritas Österreich" tätig gewesen sei. Von der "Caritas Wien", wo die Bescheide von Karin H übernommen worden seien, seien diese an die "Caritas Österreich" weitergeleitet worden. Da Mag. D "urlaubsbedingt abwesend gewesen" sei und mit 31. Juli 2004 seine Tätigkeit für die "Caritas Österreich" beendet habe, sei der belangten Behörde am 4. August 2004 von einer anderen Caritas-Mitarbeiterin die Adresse der Beschwerdeführerin bekannt gegeben worden. Mitte August 2004 sei die Erstbeschwerdeführerin in die Kanzlei des Beschwerdevertreters gekommen und habe ihm mitgeteilt, dass sie keine Bescheide erhalten habe. Er habe schließlich "am 27.8.2004 die Bescheide zugefaxt" erhalten.

6.2. Mit Beschluss vom 20. September 2004 bewilligte der Verwaltungsgerichtshof die Verfahrenshilfe.

7. Mit den vorliegenden Beschwerden, die innerhalb der sechswöchigen Frist nach Bewilligung der Verfahrenshilfe eingebracht wurden, verbanden beide Beschwerdeführer "in eventu, falls die Ansicht vertreten wird, es liege kein Zustellmangel vor", einen Wiedereinsetzungsantrag gegen die Versäumung der Beschwerdefrist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Verfahren über diese Beschwerden und Anträge verbunden und darüber gemeinsam erwogen:

1. Vorweg ist festzuhalten, dass durch die Zustellung der angefochtenen Bescheide an die "Caritas Wien" (wo die Sendungen am

1. bzw. 2. Juli 2004 von einem Arbeitnehmer, offenbar aber nicht von dem in der Berufungsverhandlung für die Beschwerdeführer eingeschrittenen Mag. D übernommen wurden) keine Zustellung an die Beschwerdeführer bewirkt wurde.

Gemäß § 10 Abs. 1 AVG kann "vor der Behörde ... eine Vollmacht auch mündlich erteilt werden; zu ihrer Beurkundung genügt ein Aktenvermerk". Der Verhandlungsschrift ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführer "Mag. D, Caritas" Vollmacht "mündlich erteilt" hatten. Aus der Niederschrift kann nicht abgeleitet werden, dass diese Vollmacht an die "Caritas Wien" (Caritas der Erzdiözese Wien), an die die angefochtenen Bescheide adressiert waren, erteilt worden wäre.

Auf Grundlage der vorgelegten Verwaltungsakten vermag der Verwaltungsgerichtshof daher nicht davon auszugehen, dass die Zustellung der angefochtenen Bescheide an die "Caritas Wien" gegenüber der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer wirksam war und damit schon am 1. Juli 2004 (Erstbeschwerdeführerin) bzw. am 2. Juli 2004 (Zweitbeschwerdeführer) den Lauf der Beschwerdefrist ausgelöst hätte. Bei der vorliegenden Adressierung des angefochtenen Bescheides kommt auch eine allfällige Heilung der unwirksamen Zustellung gemäß § 7 Abs. 1 ZustG durch tatsächliches Zukommen des Bescheides an die Erstbeschwerdeführerin selbst oder an Mag. D nicht in Betracht, sodass auf die Frage, ob die Beschwerdeführer Mag. D über die Vollmacht zur Vertretung in der Berufungsverhandlung hinaus eine Zustellvollmacht erteilt haben, nicht mehr eingegangen werden muss. Ein Abspruch über die gleichzeitig mit Einbringung der Beschwerde gestellten Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist daher nicht erforderlich.

2. Die belangte Behörde stellte im erstangefochtenen Bescheid fest, dass der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin seit 1995 verschwunden sei, traf darüber hinaus aber keine Feststellungen in Bezug auf gegen die Erstbeschwerdeführerin persönlich gerichtete Maßnahmen der Gendarmerie. Sie ging insoweit vom Vorbringen der Beschwerdeführer aus, vertrat dazu aber die Auffassung, dass sich unabhängig von der Glaubwürdigkeit bzw. Intensität von "allenfalls erfolgten polizeilichen Maßnahmen" im Verfahren keine Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass die Erstbeschwerdeführerin möglichen Übergriffen durch die türkische Polizei auch außerhalb ihres Heimatgebietes ausgesetzt gewesen sein könnte.

Diese Annahme einer innerstaatlichen Schutzalternative ergibt sich für die belangte Behörde - neben kurz gehaltenen Feststellungen zur Situation betreffend Arbeitsmöglichkeiten für Frauen, bestehende Fraueneinrichtungen und Sozialhilfe in der Türkei sowie darüber, dass die Erstbeschwerdeführerin durch Verwandte außerhalb ihres Heimatgebietes unterstützt werden könne -

daraus, dass ein gegen die Erstbeschwerdeführerin "konkret gerichteter Übergriff durch die Polizei allein in diesen Regionen" (im Westen und an der Südküste der Türkei, wo nach den Feststellungen der belangten Behörde "die Hälfte bis zwei Drittel der kurdischstämmigen Bevölkerung der Türkei" leben) "als unwahrscheinlich" anzusehen sei, zumal sich "keine Anhaltspunkte für eine politische Betätigung der Berufungswerberin ergeben" hätten. Aus der bloßen Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe sowie der alevitischen Religionszugehörigkeit sei eine asylrechtlich relevante Verfolgung nicht ableitbar.

Diese Begründung des erstangefochtenen Bescheides ist aus folgenden Gründen mangelhaft:

Die Erstbeschwerdeführerin hat zwar nicht behauptet, in der Türkei persönlich politisch aktiv gewesen zu sein. Dennoch sind die genannten Feststellungen insofern unzureichend, als sie nicht geeignet sind, die Entscheidung der belangten Behörde auch für den Fall zu tragen, dass das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin über die ihr widerfahrenen Misshandlungen als Ehefrau eines von der Gendarmerie der Unterstützung der PKK bzw. von "Terroristen" verdächtigten HADEP-Aktivisten zur Gänze zutreffen sollte. Die Annahme der belangten Behörde, dass bereits das Fehlen von Anhaltspunkten für eine politische Betätigung einer Angehörigen der kurdischen Volksgruppe und der alevitischen Religionszugehörigkeit jegliche asylrelevante Verfolgungsgefahr als "unwahrscheinlich" erscheinen lassen würde, ist nicht nachvollziehbar, zumal dies auch nicht den dem erstangefochtenen Bescheid in Bezug auf die allgemeine Situation in der Türkei zugrunde gelegten Länderberichten - einem Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 24. Juli 2001, einem Informationsschreiben von ACCORD vom 24. Jänner 2001, einer Information der Regierung der türkischen Republik vom 28. April 2000, sowie einem Gutachten des Sachverständigen Ö "in einem anderen Verfahren vor dem UBAS" - zu entnehmen ist. Zur Frage der Niederlassung in einem anderen Gebiet ihres Herkunftslandes hat die Erstbeschwerdeführerin schon vor dem Bundesasylamt vorgebracht, sie habe keine Möglichkeit, sich in einem anderen Teil der Türkei niederzulassen, da ihr Leben überall in Gefahr sei und sie im Falle ihrer Rückkehr umgebracht würde. In der Berufungsverhandlung gab sie an, sie habe in Ankara eine Verwandte, doch es sei ihr zu gefährlich gewesen, dorthin zu gehen; melde man seine Kinder für die Schule an, so sei man mit Sicherheit den Behörden ausgeliefert, deren Bedienstete jederzeit nach Hause kommen könnten, den Kindern Angst einjagen und "einfach die Eltern mitnehmen". Ohne sich mit der Glaubwürdigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit dieses und des Vorbringens der Erstbeschwerdeführerin zu den behaupteten wiederholten Misshandlungen durch die Gendarmerie im Einzelnen und konkret auseinander zu setzen, ist die allein aufgrund des Umstandes, dass die Erstbeschwerdeführerin politisch nicht aktiv gewesen sei, vorgenommene Einschätzung der belangten Behörde, behördliche Übergriffe gegen die Erstbeschwerdeführerin seien im Westen und an der Südküste der Türkei "unwahrscheinlich", nicht nachvollziehbar.

Die belangte Behörde hätte daher im Hinblick auf die behaupteten und nicht als unglaubwürdig qualifizierten körperlichen Misshandlungen insbesondere festzustellen gehabt, welche Bandbreite behördlichen Verhaltens gegenüber nahen Angehörigen eines der Unterstützung der PKK bzw. von "Terroristen" verdächtigten HADEP-Aktivisten in den zur Beurteilung dieser Frage zur Verfügung stehenden Berichten dokumentiert ist (vgl. in diesem Sinne das Erkenntnis vom 12. Dezember 2002, Zl. 2000/20/0140, betreffend nahe Angehörige eines in Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der PKK getöteten PKK-Aktivisten) und es wäre angesichts der von der belangten Behörde angenommenen innerstaatlichen Schutzalternative schließlich nachvollziehbar zu begründen gewesen, ob und inwiefern die Erstbeschwerdeführerin in den genannten Gebieten (Westen und Südküste der Türkei) frei von Furcht leben kann und ob ihr dies auch zumutbar ist (vgl. zu den Erfordernissen einer innerstaatlichen Schutzalternative für Kurden das hg. Erkenntnis vom 22. Juli 2004, Zl. 2001/20/0711, sowie allgemein die Erkenntnisse vom 9. November 2004, Zl. 2003/01/0534, und vom 19. Oktober 2000, Zl. 98/20/0430).

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde, hätte sie die vorhin dargestellten Ermittlungen durchgeführt, zu einem anderen Bescheid gelangt wäre, war der erstangefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

3. Indem der die Mutter des Zweitbeschwerdeführers (Erstreckungswerbers) betreffende Asylbescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben wurde, ist das Verwaltungsverfahren über dessen Asylantrag mit Wirkung ex tunc wieder offen. Der Bescheid, mit dem der Asylerstreckungsantrag des Zweitbeschwerdeführers abgewiesen wurde, ist insofern vor rechtskräftiger Entscheidung über den Hauptantrag ergangen und aus diesem Grund inhaltlich rechtswidrig (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2003, Zl. 2002/20/0565, mwN). Der zweitangefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

4. Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 29. September 2005

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