VwGH 94/03/0150

VwGH94/03/015020.9.1995

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Baumgartner und die Hofräte Dr. Gruber und Dr. Gall als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Gruber, über die Beschwerde des F in I, vertreten durch Dr. G, Rechtsanwalt in I, gegen den Bescheid des unabhängigen Verwaltungssenates in Tirol vom 21. April 1994, Zl. 14/54-1/1994, betreffend Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37;
AVG §39 Abs2;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
StVO 1960 §4 Abs1;
StVO 1960 §4 Abs2;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
StVO 1960 §4 Abs1;
StVO 1960 §4 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.920,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 21. April 1994 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe am 28. Oktober 1993 gegen 20.00 Uhr auf der Sellrainer Landesstraße an einer näher bezeichneten Örtlichkeit einen dem Kennzeichen nach bestimmten Pkw gelenkt und nach einem Verkehrsunfall, bei welchem eine Person verletzt wurde, nicht sofort die nächste Gendarmeriedienststelle verständigt. Er habe hiedurch eine Verwaltungsübertretung nach § 4 Abs. 2 StVO 1960 begangen, weshalb über ihn eine Geldstrafe in der Höhe von S 1.500,-- (und eine Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt wurde.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der der Beschwerdeführer Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Bescheides und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend macht und die kostenpflichtige Aufhebung der Beschwerde beantragt.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsstrafakten vor und beantragte in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 4 Abs. 2 StVO 1960 haben, wenn bei einem Verkehrsunfall Personen verletzt worden sind, alle Personen, deren Verhalten am Unfallsort mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang steht, Hilfe zu leisten; sind sie dazu nicht fähig, so haben sie unverzüglich für fremde Hilfe zu sorgen. Ferner haben sie die nächste Polizei- oder Gendarmeriedienststelle sofort zu verständigen.

Unbestritten ist, daß das Verhalten des Beschwerdeführers am Unfallsort mit einem Verkehrsunfall am 28. Oktober 1993 gegen 20.00 Uhr in ursächlichem Zusammenhang stand. Ferner ist unbestritten, daß bei dem Verkehrsunfall außer dem Beschwerdeführer eine weitere Person verletzt worden ist und daß der Beschwerdeführer die Verständigung der nächsten Gendarmeriedienststelle nicht vorgenommen hat.

Der Beschwerdeführer bekämpft die Auffassung der belangten Behörde, daß er zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig gewesen wäre, weil er einen entgegenstehenden Nachweis nicht erbracht habe; die belangte Behörde legte dar, aus der von ihm vorgelegten ärztlichen Bestätigung sei nur abzuleiten, daß er "kurz nach dem Autounfall" in seiner Diskretions- und Dispositionsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei, jedoch sei daraus nicht zu entnehmen, daß dieser Zustand mehrere Stunden angedauert habe. Der Beschwerdeführer wendet demgegenüber ein, daß er im Verwaltungsstrafverfahren zum Beweise für seinen sehr verwirrten Zustand nach dem Verkehrsunfall die Einvernahme von Zeugen beantragt habe, woraus sich ergeben hätte, daß bei ihm bis zur Kontaktaufnahme durch die Gendarmeriebeamten (am folgenden Tag) mangelnde Zurechnungsfähigkeit vorgelegen habe. Die belangte Behörde habe es auch unterlassen, hinsichtlich der Einschränkung seiner Dispositions- und Diskretionsfähigkeit ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen.

Zunächst ist dem Einwand des Beschwerdeführers, im Hinblick auf seine eigene Verletzung habe ihn keine Meldepflicht im Sinne des § 4 Abs. 2 StVO 1960 getroffen, zu entgegnen, daß nur hinsichtlich der EIGENEN Verletzung keine Verständigungspflicht besteht. Mag auch der Beschwerdeführer bei dem Unfall ebenfalls verletzt worden sein und habe er sich einer ärztlichen Behandlung unterziehen müssen, so hätte er jedenfalls - bei gegebener Zurechnungsfähigkeit - spätestens nach Beendigung dieser Behandlung die Verständigungspflicht zu erfüllen gehabt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1990, Zl. 90/03/0147, mit weiterem Judikaturhinweis).

Auf Grund der vom Beschwerdeführer vorgelegten ärztlichen Bestätigung vom 29. Oktober 1993, die von der belangten Behörde dem angefochtenen Bescheid zugrundegelegt wurde, ergibt sich, daß der Beschwerdeführer nach dem Autounfall vom 28. Oktober 1993 einen Zustand nach leichter comotio cerebri mit entsprechenden Symptomen (kurz andauernde Bewußtlosigkeit, retrograde Amnesie, die sich langsam zurückbildet, Benommenheit und Schocksyndrom) aufgewiesen hat. Wenn die belangte Behörde im Hinblick auf diese ärztliche Beurteilung die Auffassung vertrat, daß sich daraus nicht ergebe, daß "dieser Zustand mehrere Stunden andauerte", und die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens unterließ, zumal der Beschwerdeführer kurz nach dem Unfall "zielorientiert gehandelt" habe, ist ihr zunächst zu erwidern, daß sie nicht schlüssig darstellte, wie sie zu dieser Annahme gelangte. Wenn sie ausführte, der Beschwerdeführer habe "dafür Sorge getragen, daß die Verletzte unverzüglich in die Klinik gebracht wurde", ist ihr zu entgegnen, daß nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers - wofür er auch den Beweis durch Einvernahme von Zeugen anbot -, nachdem es ihm gelungen war, gemeinsam mit der verletzten Beifahrerin auf die Landesstraße zurückzugelangen, ein zufällig vorbeifahrender Baupolier die Situation erkannt und den Beschwerdeführer und die verletzte Beifahrerin in die Klinik gebracht habe. Dieser Baupolier könne als Zeuge bestätigen, daß "beide Verunfallten" schwer verletzt gewesen seien und beide einen vollkommen verwirrten und benommenen Eindruck hinterlassen hätten. Der Beschwerdeführer sei auch unter einem relevanten Unfallschock gestanden.

Nun entspricht es zwar der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Feber 1987, Zl. 86/18/0254, u.v.a.), daß ein sogenannter Unfallschock nur in besonders gelagerten Fällen und bei gravierenden psychischen Ausnahmesituationen entschuldigend wirkt; die belangte Behörde unterließ es jedoch im angefochtenen Bescheid, zu dem diesbezüglichen näher ausgeführten Vorbringen des Beschwerdeführers Stellung zu beziehen. Im vorliegenden Fall erlitt der Beschwerdeführer nach seinen bisher nicht widerlegten Behauptungen beim Unfall nicht nur einen Unfallschock, sondern auch Verletzungen, insbesondere am Kopf, und war bewußtlos gewesen. Wenn dergestalt Indizien in Richtung einer mangelnden Zurechnungsfähigkeit zur Tatzeit vorlagen, hätte die belangte Behörde nicht nur die vom Beschwerdeführer zu einem relevanten Beweisthema geführten Zeugen vernehmen, sondern auch die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zur vollständigen Klärung der Frage der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers veranlassen müssen, wobei auch geklärt hätte werden müssen, wie lange allenfalls die Diskretions- und Dispositionsunfähigkeit des Beschwerdeführers konkret andauerte. Nach den bisher nicht schlüssig widerlegten Behauptungen des Beschwerdeführers dauerte der Zustand seiner Unzurechnungsfähigkeit bis in den folgenden Tag, dem 29. Oktober 1993, hinein. Die belangte Behörde wird daher, wenn sie zu dem Ergebnis gelangen sollte, daß der Beschwerdeführer eine bestimmte Zeit lang unzurechnungsfähig war, klären müssen, ob nach der Beendigung dieses Zustandes eine Verständigungspflicht im Sinne des § 4 Abs. 2 StVO 1960 noch bestand. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. das hg. Erkenntnis vom 10. November 1989, Zl. 89/18/0121, mit weiterem Judikaturhinweis) liegt nämlich der Zweck der Bestimmung des § 4 Abs. 2 StVO 1960 darin, daß den Verletzten unmittelbar Hilfe zuteil wird und die verständigte Sicherheitsdienststelle sofort die notwendigen Erhebungen am Unfallsort veranlassen bzw. vornehmen kann. Dieser Zweck kann daher nicht mehr erreicht werden, wenn die Verständigung der Sicherheitsdienststelle erst so spät erfolgen kann, daß eine "Unfallsaufnahme" an Ort und Stelle nicht mehr zielführend ist.

Da somit der Sachverhalt von der belangten Behörde nicht hinreichend erhoben wurde und Verfahrensvorschriften außer acht gelassen wurden, bei deren Einhaltung die belangte Behörde zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen eingegangen werden mußte.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Die Abweisung des Mehrbegehrens bezieht sich auf die bereits im Pauschalbetrag für Schriftsatzaufwand enthaltene Umsatzsteuer sowie auf überhöht verzeichneten Stempelgebührenaufwand.

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