VfGH G86/2013

VfGHG86/201327.2.2014

Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung des Asylgerichtshofgesetzes über den Ausschluss der Wiederholung einer mündlichen Verhandlung vor dem Kammersenat von Amts wegen nach Durchführung einer Verhandlung vor dem einfachen Senat wegen Verstoßes gegen die EU-Grundrechte-Charta, das Rechtsstaatsprinzip und das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander

Normen

AsylG 1997 §11 Abs4
B-VG Art18 Abs1
EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 1997 §11 Abs4
B-VG Art18 Abs1
EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1

 

Spruch:

I. §11 Abs4 letzter Satz des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof (Asylgerichtshofgesetz – AsylGHG), BGBl I Nr 4/2008, war verfassungswidrig.

II. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl U771/2013 eine auf Art144a B‑VG idF BGBl I 2/2008 gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

1.1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 31. Mai 2003 nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet einen Asylantrag. Das Bundes­asylamt wies diesen Antrag – nach mehrjähriger Verfahrensunterbrechung infolge Ortsabwesenheit des Beschwerdeführers – mit Bescheid vom 29. Jänner 2007 gemäß §7 Asylgesetz 1997, BGBl I 76/1997 idF BGBl I 101/2003, ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß §8 Abs1 leg.cit. für zulässig und wies ihn gemäß §8 Abs2 leg.cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet in den Irak aus.

1.2. Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer am 9. Februar 2007 Berufung an den Unabhängigen Bundesasylsenat, welche im Sinne des §23 Abs1 Asylgerichtshofgesetz, BGBl I 4/2008 (im Folgenden: AsylGHG), nunmehr als Beschwerde an den Asylgerichtshof zu behandeln war. Am 6. Dezember 2011 führten der vorsitzende Richter sowie die beisitzende Richterin der Gerichtsabteilung E/8 eine öffentliche mündliche Verhandlung in der Rechtssache des Beschwerdeführers durch. Da der Erledigungsentwurf des vorsitzenden Richters nicht die Zustimmung der beisitzenden Richterin fand, wurde die Rechtssache gemäß §11 Abs4 iVm §9 Abs3 AsylGHG zur Entscheidung an einen um drei Richter verstärkten Kammersenat herangetragen. Davon wurde der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 9. November 2012 in Kenntnis gesetzt; zugleich übermittelte der Asylgerichtshof auch Länderdokumentationsmaterial zur Lage im Irak und gab dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen. In seinen Stellungnahmen vom 5. Dezember 2012 und vom 1. März 2013 verwies der Beschwerdeführer im Wesentlichen auf seinen ununterbrochenen, sieben Jahre währenden Aufenthalt im Bundesgebiet, seine Integration in Österreich und seine Unbescholtenheit. Einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Kammersenat stellte der Beschwerdeführer nicht.

1.3. Mit der durch den nach §11 Abs4 AsylGHG zusammengetretenen Kammersenat getroffenen Entscheidung vom 19. März 2013 wies der Asylgerichtshof die Beschwerde "hinsichtlich Spruchpunkt I und II gemäß §§7, 8 Abs1 AsylG 1997 idgF sowie hinsichtlich Spruchpunkt III gemäß §10 Abs1 Z2 AsylG 2005 idgF als unbegründet" ab. Der Asylgerichtshof ging dabei von der Unglaubwürdigkeit der Ausführungen des Beschwerdeführers aus, weil seine Angaben in seinem Asylverfahren vollkommen widersprüchlich seien. Auch seien keine außergewöhnlichen Umstände ersichtlich, die einer Rückverbringung des Beschwerdeführers in den Irak im Lichte des Art3 EMRK entgegenstünden. Als jungem und arbeitsfähigem Mann sei es ihm möglich und zumutbar, sich durch eine Erwerbstätigkeit seinen Unterhalt zu sichern; im Übrigen verfüge er im Irak auch über ein Netz familiärer Angehöriger. Die im Sinne des Art8 Abs2 EMRK vorzunehmende Interessenabwägung hinsichtlich des in Österreich bestehenden Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers falle zu seinen Ungunsten aus.

1.4. In der gegen diese – ohne (weitere) mündliche Verhandlung vor dem Kammersenat ergangene – Entscheidung "gemäß Art144a B-VG" erhobenen Beschwerde wird die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte nach Art2, 3 und 8 EMRK, Art2, 3, 4, 7, 18, 19, 20 und 47 GRC sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt. Unter einem macht der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit des §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG geltend, weil der Umstand, dass dem Kammersenat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nur auf Antrag des Beschwerdeführers möglich sei, dem Unmittelbarkeitsgrundsatz nach Art6 EMRK bzw. Art47 GRC widerspreche. Es sei auch unsachlich, dass der Asylgerichtshof nicht einmal amtswegig eine mündliche Verhandlung wiederholen könne, wenn er dies für geboten erachte. Gerade in Fällen, in denen die beiden Richter eines Senates trotz der in einer mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrücke zu keiner einhelligen Entscheidung gefunden haben, erscheine die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Kammersenat geboten. Insoweit regt der Beschwerdeführer die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens und Aufhebung des §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG wegen Verfassungswidrigkeit an.

2. Bei der Behandlung dieser Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG, BGBl I 4/2008, entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am 24. September 2013 beschlossen, diese Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"Gemäß §9 Abs1 iVm Abs2 AsylGHG entscheidet der Asylgerichtshof in – jeweils aus einem Richter als Vorsitzendem und einem weiteren Richter als Beisitzer bestehenden – Senaten, sofern nicht die Entscheidung durch einen Einzelrichter oder einen Kammersenat vorgesehen ist. Bei einem Kammersenat handelt es sich gemäß §9 Abs3 leg.cit. um einen um drei Richter verstärkten Senat, an den eine Rechtssache unter anderem dann heranzutragen ist, wenn sich der vorsitzende und der beisitzende Richter eines Senates nicht auf einen Erledigungsentwurf einigen können.

§11 Abs4 letzter Satz AsylGHG sieht für diese Fallkonstellation vor, dass 'eine mündliche Verhandlung […] nur auf Verlangen des Beschwerdeführers wiederholt werden [kann]'. Seinen Bedenken legt der Verfassungsgerichtshof folgende Auslegung zugrunde: Die genannte Regelung dürfte sich auf eine durch den – einfachen – Senat durchgeführte Verhandlung beziehen (so auch AB 371 BlgNR 23. GP, 4) und nicht die Wiederholung einer bereits vor dem Kammersenat stattgefundenen Verhandlung meinen. Wenn der aus zwei Richtern bestehende Senat eine Verhandlung durchführte, dürfte eine Verhandlung vor dem Kammersenat gemäß §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG nur mehr auf Verlangen des Beschwerdeführers stattfinden; die Durchführung einer mündlichen Verhandlung von Amts wegen scheint nach dieser Bestimmung ausgeschlossen. Diese Beschränkung dürfte hingegen nicht gelten, wenn vor dem aus zwei Richtern bestehenden Senat noch keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat.

2.1. Der Verfassungsgerichtshof geht vorläufig davon aus, dass eine derartige Regelung zunächst Art47 Abs2 GRC widerspricht:

2.1.1. Die Anwendbarkeit von Art47 GRC im Asylverfahren setzt voraus, dass die zuständigen Behörden dabei in 'Durchführung des Rechts der Europäischen Union' handeln (Art51 Abs1 GRC). Wie in der Entscheidung VfSlg 19.632/2012 bereits näher ausgeführt, besteht daran im Asylverfahren nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes kein Zweifel. Das Asylverfahren ist nicht von Art6 EMRK erfasst (vgl. VfSlg 13.831/1994; s. auch EGMR 5.10.2000, Fall Maaouia, Appl. 39.652/98).

2.1.2. Es scheint den Grundsätzen eines fairen Verfahrens gemäß Art47 Abs2 GRC zu widersprechen, wenn innerhalb eines aus fünf Richtern bestehenden entscheidenden Senates zwei Richter bereits einen Eindruck von dem Beschwerdeführer haben, die drei übrigen Richter aber keine Gelegenheit bekommen, sich ein persönliches Bild von der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers oder sonstigen asylrechtlich relevanten Aspekten zu machen. Eine Regelung, die eine derartige Konstellation ermöglicht, dürfte dementsprechend Art47 Abs2 GRC widersprechen.

2.1.3. Ein Gericht im Sinne des Art47 Abs2 GRC hat eine Rechtssache 'öffentlich und innerhalb angemessener Frist' zu verhandeln (zum Gebot der Mündlichkeit im Rahmen einer 'öffentlichen Verhandlung' gemäß Art6 EMRK vgl. EGMR 23.2.1994, Fall Fredin, Appl. 12033/86). Nach der vorläufigen Auffassung des Verfassungsgerichtshofes dürfte §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG, der dem zur Entscheidung über eine Beschwerde berufenen Spruchkörper des Asylgerichtshofes die amtswegige Durchführung einer mündlichen Verhandlung generell verwehrt, dem Gebot zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung widersprechen. Daran dürfte auch nichts ändern, dass ein Beschwerdeführer die Möglichkeit hat, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verlangen, weil es dem Kammersenat des Asylgerichtshofs selbst bei überwiegenden öffentlichen Interessen, die für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen, verwehrt sein dürfte, eine solche anzuberaumen (vgl. in diesem Zusammenhang Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention5, 2012, 440).

2.2. Weiters hegt der Verfassungsgerichtshof das Bedenken, dass §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht:

Nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Verwaltungs- als auch des Asylgerichtshofes ist gerade der persön­liche Eindruck, den das zur Entscheidung berufene Mitglied einer Berufungsbehörde im Rahmen der Berufungsverhandlung von dem Berufungswerber gewinnt, von größter Relevanz für die Beurteilung eines Vorbringens im Hinblick auf dessen Glaubwürdigkeit (vgl. für viele AsylGH 1.8.2012, D9 409106-2/2010; 17.6.2013, D7 424783-2/2012; VwGH 24.6.1999, 98/20/0453; 20.5.1999, 98/20/0505). Bei einem Kammersenat handelt es sich gemäß §9 Abs3 AsylGHG um einen um drei bislang mit der Rechtssache eines Beschwerdeführers nicht vertraute Richter verstärkten Spruchkörper. Wenn es diesen drei Richtern generell verwehrt sein sollte, sich amtswegig ein Bild von der persönlichen Glaubwürdigkeit eines Beschwerdeführers machen zu können, scheint dies auch grundlegenden Anforderungen an ein rechtsstaatliches (Rechtsmittel-)Verfahren, in welchem dem Asylgerichtshof eine reformatorische Entscheidungsbefugnis zukommt, zu widersprechen. Dass ein Beschwerdeführer gemäß §11 Abs4 letzter Satz leg.cit. die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verlangen kann, dürfte daran nichts ändern. Dazu kommt, dass im Asylverfahren auf die im Regelfall anzunehmende Rechts- und Sprachunkundigkeit von Asylwerbern Bedacht zu nehmen ist (vgl. VfSlg 19.641/2012).

2.3. Schließlich geht der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, dass §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG dem – auch den Gesetzgeber bindenden – verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander widerspricht:

2.3.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung VfSlg 19.671/2012 festgehalten hat, sieht das Asylgesetz 2005 prinzipiell eine Verhandlung durch den Asylgerichtshof über eine an ihn gerichtete Beschwerde vor; von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann allerdings unter den Voraussetzungen des §41 Abs7 AsylG 2005 abgesehen werden.

2.3.2. Es ist vorderhand kein sachlicher Grund ersichtlich, warum in der Rechtssache eines Beschwerdeführers sowohl ein einfacher Senat des Asylgerichtshofes als auch ein ohne vorangehende mündliche Verhandlung vor dem einfachen Senat zusammentretender Kammersenat eine mündliche Verhandlung von Amts wegen durchzuführen haben (bzw. von der Durchführung einer Verhandlung nur unter den Voraussetzungen des §41 Abs7 AsylG 2005 absehen können), dies aber für den nach §11 Abs4 AsylGHG befassten Kammersenat nicht gelten soll, wenn vor dem einfachen Senat bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Warum gerade in diesen Fällen der Kammersenat – und damit ein um drei bislang mit der Rechtssache noch nicht betraut gewesene Richter verstärkter Spruchkörper – sich amtswegig kein eigenes Bild vom Beschwerdeführer machen können soll, um dessen Glaubwürdigkeit bzw. sonstige asylrechtlich relevante Aspekte beurteilen zu können, scheint nach der vorläufigen Ansicht des Verfassungsgerichtshofes sachlich nicht rechtfertigbar, woran auch die Ausführungen in den Materialen zu §11 Abs4 AsylGHG (AB 371 BlgNR 23. GP, 4) nichts ändern dürften.

Zudem dürfte in diesem Zusammenhang auf §10 Abs1 AsylGHG Bedacht zu nehmen sein, wonach eine Entscheidung nur von jenen Richtern des Asylgerichtshofes getroffen werden kann, die an einer im Beschwerdeverfahren stattgefundenen mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, und im Falle einer Änderung der Zusammensetzung eines Senates oder Kammersenates eine mündliche Verhandlung zu wiederholen ist. Gemäß den Materialien zu dieser Bestimmung (AB 371 BlgNR 23. GP, 3) dürfte der Gesetzgeber damit dem 'Grundsatz der Unmittelbarkeit' zum Durchbruch verhelfen wollen; warum er davon im Falle des Zusammentretens eines Kammersenates nach einer vor dem einfachen Senat bereits stattgefundenen Verhandlung abzusehen scheint, ist vorderhand nicht ersichtlich (zum Verstoß gegen die Verpflichtung gemäß §10 Abs1 AsylGHG vgl. VfSlg 19.153/2010)."

4. Die Bundesregierung sah von einer Äußerung zu den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken ab.

II. Rechtslage

1. Die im vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen des mit 1. Jänner 2014 gemäß §27 Abs1 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz außer Kraft getretenen Asylgerichtshofgesetzes, BGBl I 4/2008 idF BGBl I 140/2011, lauten (der in Prüfung gezogene Satz ist unterstrichen; §11 Abs4 AsylGHG wurde seit der Stammfassung des Asylgerichtshofgesetzes, BGBl I 4/2008, nicht geändert):

"Senate und Kammersenate

§9. (1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten, sofern bundesgesetzlich nicht die Entscheidung durch Einzelrichter oder verstärkte Senate (Kammersenate) vorgesehen ist.

(2) Jeder Senat besteht aus einem Richter als Vorsitzenden und einem weiteren Richter als Beisitzer. Für jeden Senat sind mindestens ein Stellvertreter des Vorsitzenden und mindestens ein Ersatzmitglied (Ersatzbeisitzer) zu bestimmen.

(3) Ist bundesgesetzlich die Entscheidung eines verstärkten Senates vorgesehen, so ist der zuständige Senat nach Maßgabe der Geschäftsverteilung um drei Richter zu verstärken (Kammersenat). Ist ein Kammersenat auf Antrag eines Einzelrichters zur Entscheidung berufen, so hat dieser dem Kammersenat anzugehören. Als Vorsitzender des Kammersenates fungiert der zuständige Kammervorsitzende (§14 Abs3). Die übrigen Richter sind aus der Mitte der in der Kammer zusammengefassten Richter (§14 Abs2) zu berufen.

(4) Ist ein Mitglied des Senats oder Kammersenates verhindert, so hat der Vorsitzende den Eintritt des in der Geschäftsverteilung vorgesehenen Ersatzmitgliedes zu verfügen. Im Fall der Verhinderung des Vorsitzenden eines Senates hat der zuständige Kammervorsitzende und im Fall der Verhinderung des Vorsitzenden eines Kammersenates der Präsident den Eintritt des in der Geschäftsverteilung vorgesehenen Stellvertreters zu verfügen.

(5) Die Tätigkeit des Präsidenten und des Vizepräsidenten in einem Senat oder Kammersenat bedarf deren Zustimmung.

Unmittelbarkeit des Verfahrens; Beratung und Abstimmung

§10. (1) Hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, so kann die Entscheidung nur von jenen Richtern des Asylgerichtshofes getroffen werden, die an dieser Verhandlung teilgenommen haben. Wenn sich die Zusammensetzung des Senates oder des Kammersenates geändert hat, ist die Verhandlung zu wiederholen.

(2) Ein Senat ist beschlussfähig, wenn der Vorsitzende und der Beisitzer, ein Kammersenat, wenn der Vorsitzende und alle übrigen Mitglieder anwesend sind. Verhinderte Mitglieder werden durch die Ersatzmitglieder (Stellvertreter, Ersatzbeisitzer) in der in der Geschäftsverteilung festgelegten Reihenfolge vertreten.

(3) Die Beratung und die Abstimmung sind nicht öffentlich und werden vom Vorsitzenden geleitet.

(4) Jedes Senatsmitglied ist berechtigt, in der Beratung Anträge zu stellen. Den anderen Senatsmitgliedern steht es frei, zu diesen Anträgen Gegenanträge oder Änderungsanträge zu stellen. Alle Anträge sind zu begründen.

(5) Der Vorsitzende bestimmt die Reihenfolge, in der über die Anträge abgestimmt wird, und die Reihenfolge der Stimmabgabe.

(6) Zu einem Beschluss des Senates ist Einstimmigkeit und zu einem Beschluss des Kammersenates die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. Eine Stimmenthaltung ist unzulässig.

(7) Über die Beratung und Abstimmung ist ein Protokoll zu führen.

Aufgaben des Vorsitzenden und des Beisitzers eines Senates

§11. (1) Der Vorsitzende leitet die Geschäfte des Senates und führt das Verfahren bis zur Verhandlung. Die dabei erforderlichen Verfahrensanordnungen bedürfen keines Senatsbeschlusses. Er entscheidet, ob eine mündliche Verhandlung anberaumt wird, eröffnet, leitet und schließt diese. Er verkündet die Beschlüsse des Senates, unterfertigt die schriftlichen Ausfertigungen, arbeitet den Erledigungsentwurf aus und stellt im Senat den Beschlussantrag.

(2) Stimmt der Beisitzer dem Erledigungsentwurf des Vorsitzenden zu, so hat der Vorsitzende die Entscheidung auszuarbeiten.

(3) Stimmt der Beisitzer dem Erledigungsentwurf des Vorsitzenden nicht zu, so hat der Beisitzer binnen zwei Wochen einen eigenen Erledigungsentwurf auszuarbeiten und dem Vorsitzenden vorzulegen. Stimmt der Vorsitzende dem Entwurf des Beisitzers zu, so hat der Beisitzer die Entscheidung auszuarbeiten.

(4) Findet der Erledigungsentwurf des Beisitzers nicht die Zustimmung des Vorsitzenden oder hat der Beisitzer seinen Erledigungsentwurf nicht binnen zwei Wochen vorgelegt, so hat der Vorsitzende die Rechtssache an den zuständigen Kammersenat zur Entscheidung heranzutragen. Der Vorsitzende und der Beisitzer des Senates sind Mitglieder des Kammersenates (§9 Abs3), wobei der Vorsitzende des Senates als Berichter des Kammersenates fungiert. Eine mündliche Verhandlung kann nur auf Verlangen des Beschwerdeführers wiederholt werden."

2. §41 Asylgesetz 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 67/2012 (im Folgenden: AsylG 2005), lautete:

"Verfahren vor dem Asylgerichtshof

§41. (1) Zu Verhandlungen vor dem Asylgerichtshof ist das Bundesasylamt zu laden; diesem kommt das Recht zu, Anträge und Fragen zu stellen (§67b Z1 AVG).

(2) Der Asylgerichtshof erkennt über Beschwerden gegen Entscheidungen, mit denen ein Antrag im Zulassungsverfahren zurückgewiesen wurde, binnen acht Wochen, soweit der Beschwerde gegen die mit der Entscheidung verbundenen Ausweisung die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt wurde.

(3) In einem Verfahren über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung ist §66 Abs2 AVG nicht anzuwenden. Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesasylamts im Zulassungsverfahren statt zu geben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch statt zu geben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

(4) Über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde, der diese von Gesetz wegen nicht zukommt (§37) oder der diese vom Bundesasylamt aberkannt wurde (§38), und über Beschwerden gegen zurückweisende Entscheidungen im Zulassungsverfahren kann der Asylgerichtshof ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung entscheiden. In anderen Verfahren gilt §67d AVG.

(5) – (6) […]

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt §67d AVG.

(8) Für den Ausschluss der Öffentlichkeit von Verhandlungen gilt, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, §67e AVG.

(9) Für die Erlassung der Entscheidung des Asylgerichtshofes gilt Folgendes:

1. Das Erkenntnis oder der Beschluss des Asylgerichtshofes und seine wesentliche Begründung sind auf Grund der Verhandlung, und zwar wenn möglich, sogleich nach deren Schluss zu beschließen und öffentlich zu verkünden. Die Verkündung des Erkenntnisses oder des Beschlusses ist von der Anwesenheit der Parteien unabhängig. §62 Abs2 und 4 AVG gilt.

2. Die Verkündung entfällt, wenn

a) eine Verhandlung nicht durchgeführt oder fortgesetzt worden ist oder

b) das Erkenntnis oder der Beschluss nicht sogleich nach Schluss der mündlichen Verhandlung beschlossen werden kann und jedem die Einsichtnahme in das Erkenntnis oder den Beschluss gewährleistet ist.

3. Den Parteien ist eine schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses oder des Beschlusses zuzustellen."

3. Art47 und 51 GRC haben folgenden Wortlaut:

"Artikel 47

Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht

Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.

[…]

Artikel 51

Anwendungsbereich

(1) Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung gemäß ihren jeweiligen Zuständigkeiten.

(2) Diese Charta begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse vorliegen, erweist sich das Gesetzesprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes haben sich als zutreffend erwiesen.

2.1. Gemäß §9 Abs1 iVm Abs2 AsylGHG entschied der Asylgerichtshof bis zu seiner mit 1. Jänner 2014 erfolgten Auflösung in – jeweils aus einem Richter als Vorsitzendem und einem weiteren Richter als Beisitzer bestehenden – Senaten, sofern nicht die Entscheidung durch einen Einzelrichter oder einen Kammersenat vorgesehen war. Bei einem Kammersenat handelte es sich gemäß §9 Abs3 leg.cit. um einen um drei Richter verstärkten Senat, an den eine Rechtssache unter anderem dann heranzutragen war, wenn sich der vorsitzende und der beisitzende Richter eines Senates nicht auf einen Erledigungsentwurf einigen konnten. §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG sah für diese Fallkonstellation vor, dass "eine mündliche Verhandlung […] nur auf Verlangen des Beschwerdeführers wiederholt werden [kann]".

Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner im zitierten Prüfungsbeschluss angenommenen Auslegung, wonach sich §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG auf eine durch den – einfachen – Senat durchgeführte Verhandlung bezog (so auch AB 371 BlgNR 23. GP, 4) und nicht die Wiederholung einer bereits vor dem Kammersenat stattgefundenen Verhandlung meinte. Hatte der aus zwei Richtern bestehende Senat eine Verhandlung bereits durchgeführt, durfte eine Verhandlung vor dem Kammersenat gemäß §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG nur mehr auf Verlangen des Beschwerdeführers stattfinden. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung von Amts wegen war somit ausgeschlossen. Diese Beschränkung galt hingegen nicht, wenn vor dem aus zwei Richtern bestehenden Senat noch keine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte.

2.2. Die Bundesregierung sah im Gesetzesprüfungsverfahren von einer Äußerung zu den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes ab.

Der Verfassungsgerichtshof hält vollinhaltlich an seinen Bedenken fest, wonach eine Regelung, die einen um drei zuvor mit der Rechtssache eines Beschwerdeführers nicht vertraute Richter verstärkten Spruchkörper generell daran hindert, sich amtswegig im Rahmen einer mündlichen Verhandlung ein Bild von der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers oder sonstigen asylrechtlich relevanten Aspekten zu machen, sowohl Art47 Abs2 GRC als auch dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht. Gerade vor dem Hintergrund des §10 Abs1 AsylGHG ist auch kein sachlicher Grund dafür zu erkennen, warum in der Rechtssache eines Beschwerdeführers sowohl ein einfacher Senat des Asylgerichtshofes als auch ein ohne vorangehende mündliche Verhandlung vor dem einfachen Senat zusammentretender Kammersenat eine mündliche Verhandlung von Amts wegen durchzuführen hatten (bzw. von der Durchführung einer Verhandlung nur unter den Voraussetzungen des §41 Abs7 AsylG 2005 absehen konnten), dies aber für den nach §11 Abs4 AsylGHG befassten Kammersenat nicht gelten sollte, wenn vor dem einfachen Senat bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte. Die in Prüfung gezogene – mittlerweile außer Kraft getretene – Regelung widersprach daher auch dem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander.

IV. Ergebnis

1. Es ist daher festzustellen, dass §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG, BGBl I 4/2008, wegen Verstoßes gegen Art47 Abs2 GRC, das Rechtsstaatsprinzip sowie das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verfassungswidrig war.

2. Eine Fristsetzung für das Außerkrafttreten der Aufhebung kommt bei einem Ausspruch gemäß Art140 Abs4 B-VG nicht in Betracht; ohne gleichzeitigen Ausspruch, dass die Gesetzesstelle auch auf die vor der Feststellung verwirklichten Tatbestände nicht mehr anzuwenden ist (Art140 Abs7 B-VG), wirkt sich eine solche Feststellung nur auf den Anlassfall aus (VfSlg 8726/1980; 10.834/1986; 13.288/1992; 16.564/2002; VfGH 27.6.2013, G64/2012).

3. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VfGG iVm §3 Z3 BGBlG.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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