VfGH B1743/88

VfGHB1743/8828.2.1989

Verhängung eines Aufenthaltsverbotes; Verletzung des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch denkunmögliche Vornahme der in §3 Abs3 FremdenpolizeiG idF BGBl. 575/1987 vorgesehenen Interessenabwägung

Normen

MRK Art8 / Familienleben
FremdenpolizeiG §3 Abs2 Z2 idF BGBl 575/1987
FremdenpolizeiG §3 Abs3 idF BGBl 575/1987
MRK Art8 / Familienleben
FremdenpolizeiG §3 Abs2 Z2 idF BGBl 575/1987
FremdenpolizeiG §3 Abs3 idF BGBl 575/1987

 

Spruch:

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 MRK) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin, zu Handen des Beschwerdevertreters, die mit 11.000,-- S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) Den vorgelegten Unterlagen zufolge hält sich die Beschwerdeführerin (eine tschechoslowakische Staatsangehörige) mit ihren beiden im Jahre 1974 geborenen Kindern (Zwillinge) seit 1986 in Innsbruck auf. Ihren - von der Behörde unwidersprochen gebliebenen - Behauptungen zufolge spricht sie fehler- und akzentfreies Deutsch und ist in der Innsbrucker Gesellschaft (als Eiskunstlauflehrerin) voll integriert. Die Kinder besuchen nun (nach Abschluß der Hauptschule) das Bundesoberstufenrealgymnasium in Innsbruck.

Die Beschwerdeführerin unterließ es zunächst, sich und ihre beiden Kinder polizeilich anzumelden und eine Aufenthaltsberechtigung zu erwirken. Über sie wurden daher wegen Übertretungen des Meldegesetzes, des Paßgesetzes und des Fremdenpolizeigesetzes im Jahre 1988 Geldstrafen verhängt.

b) Dies nahm die Bundespolizeidirektion Innsbruck zum Anlaß, über die Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 30. August 1988 ein Aufenthaltsverbot zu verhängen.

Die Sicherheitsdirektion (SDion) für das Bundesland Tirol gab der dagegen erhobenen Berufung keine Folge. Sie erließ folglich mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 22. September 1988 gegen die Beschwerdeführerin gemäß §3 Abs1 und Abs2 Z2 iVm §4 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. 75/1954, idF der Novelle BGBl. 575/1987, (FrPG nF) ein bis zum 30. August 1993 befristetes Aufenthaltsverbot für das gesamte Bundesgebiet.

2. Gegen diesen Berufungsbescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des durch Art8 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

3. Die SDion Tirol als belangte Behörde legte die bezughabenden Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der begehrt wird, die Beschwerde abzuweisen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.a) Nach den vorgelegten Aktenunterlagen und auch nach den Sachverhaltsfeststellungen der belangten Behörde bewirkt im vorliegenden Fall das Aufenthaltsverbot einen Eingriff in das Privat- und Familienleben iS des Art8 MRK. Die Behörde hatte also gemäß §3 Abs3 FrPG nF (zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des §3 FrPG nF und zu dessen Auslegung siehe VfGH 6.10.1988 B888/88, B1078/88) die dort vorgesehene Interessenabwägung vorzunehmen.

Diese Bestimmung lautet:

"(3) Würde durch ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist seine Erlassung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 genannten Ziele dringend geboten ist. In jedem Fall ist ein Aufenthaltsverbot nur zulässig, wenn nach dem Gewicht der maßgebenden öffentlichen Interessen die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes unverhältnismäßig schwerer wiegen, als seine Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf folgende Umstände Bedacht zu nehmen:

1. die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen;

2. die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen;

3. die mögliche Beeinträchtigung des beruflichen oder persönlichen Fortkommens des Fremden oder seiner Familienangehörigen."

b) Die SDion Tirol hat im angefochtenen Bescheid auf §3 Abs3 FrPG nF ausdrücklich Bezug genommen und kam zum Ergebnis, daß die Interessenabwägung zu Ungunsten der Beschwerdeführerin ausfalle:

"....... Die in Rede stehenden rechtskräftigen Bestrafungen"

(s.o. I.1.a) "der Berufungswerberin" (d.i. die Beschwerdeführerin

dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens) "bzw. die

zugrundeliegenden Sachverhalte lassen auch nach Ansicht der

Berufungsbehörde nur eine für die Berufungswerberin negativ

ausfallende Zukunftsprognose und somit den Schluß zu, daß der

Aufenthalt der Berufungswerberin im Bundesgebiet eine große Gefahr

für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt. ......

Die von der Erstbehörde vorgenommene Interessenabwägung im

Sinne des §3 Abs3 Fremdenpolizeigesetz ist durchaus 'gesetzmäßig

ausgeführt worden'. Daß die Berufungswerberin und ihre Kinder auf

Grund ihres langen, illegalen Aufenthaltes im Bundesgebiet in die

hiesige Gesellschaft integriert sind und hier Freunde, Bekannte und

eine berufliche bzw. schulische Bindung haben, mag sein, nur vermag

die Berufungswerberin damit nichts zu gewinnen, wie die Erstbehörde

in ihrer Interessenabwägung im Sinne des §3 Abs3

Fremdenpolizeigesetz zutreffend ausgeführt hat. Die Erstbehörde ist

in der Interessenabwägung auch ausführlich auf das Hauptargument

der Berufungswerberin, nämlich den Schulbesuch ihrer Kinder in

Innsbruck, eingegangen. Daß es in der Bundesrepublik Deutschland

keine Schule gibt, die auf eine österreichische Hauptschule

aufbaut, wird zutreffen, ändert aber nichts daran, daß es eine

allgemeine bekannte Tatsache ist, daß das Schulsystem in der

Bundesrepublik Deutschland, einem Land, das zu den größten

Wirtschaftsmächten der Welt zählt und sicherlich kein

'Bananenstaat' ist, dem österreichischen Schulsystem zumindest

gleichwertig ist. ...... Wenn die Berufungswerberin unbedingt

meint, daß ihre Kinder in Österreich eine Schule besuchen sollen, bestünde die Möglichkeit, da gegen die Kinder der Berufungswerberin ja kein Aufenthaltsverbot erlassen wird, die Kinder entweder bei Bekannten in Österreich bleiben zu lassen oder zwecks Schulbesuchs in ein Internat zu geben.

....... Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen die

Berufungswerberin ist zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe

und Ordnung sowie zur Verhinderung von strafbaren Handlungen (im

Gastland) und auch aus generalpräventiven Gründen dringend geboten.

Die Erstbehörde hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß ein

ordnungsgemäßer Vollzug der entsprechenden Vorschriften nicht mehr

möglich wäre, wenn ein Verhalten, wie es die Berufungswerberin an

den Tag gelegt hat, bei Fremden um sich greifen würde. Ein solches

Umsichgreifen würde mit Sicherheit stattfinden, sollte (unter

Fremden) bekannt werden, daß auf ein Verhalten, wie es die

Berufungswerberin an den Tag gelegt hat, von den Behörden nicht mit

fremdenpolizeilichen Maßnahmen reagiert wird. ......."

2.a) Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (zB VfGH 7.3.1988 B567/87, 6.10.1988 B888/88, B1078/88) wäre ein Eingriff in das durch Art8 MRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht nur dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 MRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 MRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 MRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte.

b) Gegen §3 FrPG nF bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. VfGH 6.10.1988 B888/88, B1078/88).

Der Behörde ist jedoch ein den Art8 MRK verletzender Vollzugsfehler anzulasten. Sie hat nämlich den §3 Abs3 FrPG nF denkunmöglich angewendet, indem sie die - durch Art8 MRK verfassungsrechtlich gebotene - Interessenabwägung völlig verfehlt vorgenommen hat.

Eine tragende Erwägung der SDion. Tirol war, daß das Aufenthaltsverbot aus generalpräventiven Gründen zu erlassen sei.

§3 Abs3 FrPG nF schließt aber vor dem Hintergrund des Art8 MRK die Zulässigkeit derartiger Überlegungen aus.

Fällt dieses Begründungselement aber weg, so ist es geradezu abwegig, aus dem Begehen einiger Verwaltungsübertretungen (die noch nicht als "schwerwiegend" iS des §3 Abs2 Z2 FrPG nF bezeichnet werden können) derart eminente öffentliche Interessen am Aufenthaltsverbot zu erschließen, daß diese schwerer wiegen würden als dessen Auswirkungen auf die Lebenssituation der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder. Die belangte Behörde hat die von der Beschwerdeführerin im Verwaltungsverfahren aufgestellten Behauptungen über die volle gesellschaftliche Integrierung und den Schulbesuch der Kinder den im Bescheid enthaltenen Sachverhaltsannahmen zugrundegelegt. Die Behörde stellt letztlich gar nicht in Abrede, daß es für die Kinder der Beschwerdeführerin zweckmäßig und förderlich ist, wenn sie das Bundesoberstufenrealgymnasium in Innsbruck besuchen und daß es für diese schulische Ausbildung eigentlich keine Alternative gibt. Der Vorschlag der Behörde, die Kinder mögen eben weiterhin in Innsbruck die Schule besuchen, während ihre Mutter (die Beschwerdeführerin) sich im Ausland aufhalten muß, ist vor dem Hintergrund des Art8 MRK unhaltbar.

Die Beschwerdeführerin wurde durch den angefochtenen Bescheid sohin in dem durch Art8 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt. Der Bescheid war infolgedessen aufzuheben.

3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000,-- S enthalten.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte