VfGH B144/79,B252/79

VfGHB144/79,B252/79B144/79,B252/7923.9.1983

Tir. Bauordnung 1974; keine Bedenken gegen §42 Abs1 und Abs2 idF der

1. Bauordnungs-Nov. betreffend vorübergebende Inanspruchnahme des Nachbargrundes durch den Bauwerber; keine denkunmögliche und keine willkürliche Gesetzesanwendung

Art83 Abs2 B-VG; kein Entzug des gesetzlichen Richters durch gesetzwidriges Einbinden einer Behörde als Mittelinstanz

Normen

B-VG Art83 Abs2
Tir BauO 1974 §42 Abs2
B-VG Art83 Abs2
Tir BauO 1974 §42 Abs2

 

Spruch:

Die Beschwerden werden abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Bürgermeister der Stadtgemeinde Lienz erteilte mit Bescheid vom 13. September 1978 dem Beteiligten dieser verfassungsgerichtlichen Verfahren AM über dessen Antrag vom 6. April 1976 gemäß §42 der Tir. Bauordnung, LGBl. Nr. 42/1974, (TBO) die Bewilligung, zur Durchführung bestimmter Bauarbeiten auf der ihm gehörenden Bp 158/1 KG Lienz das im Eigentum der Bf. stehende Nachbargrundstück Bp 1717 KG Lienz in Anspruch zu nehmen.

Der dagegen von der Bf. erhobenen Berufung gab die Bezirkshauptmannschaft Lienz mit Bescheid vom 18. Jänner 1979 Folge, behob den Bescheid des Bürgermeisters der Stadtgemeinde Lienz und wies den auf §42 TBO gestützen Antrag des Beteiligten M zurück.

Die Tir. Landesregierung gab der dagegen vom Beteiligten eingebrachten Berufung mit Bescheid vom 1. März 1979 Folge, hob den angefochtenen Bescheid auf und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die Bezirkshauptmannschaft Lienz zurück.

2. a) Gegen diesen Bescheid wendet sich die auf Art144 B-VG gestützte, zu B144/79 protokollierte Beschwerde an den VfGH, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt wird.

b) Der VfGH hat dem Antrag, dieser Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, mit Beschluß vom 30. Mai 1979 keine Folge gegeben.

3. In der Zwischenzeit erließ - in Verfolgung des zurückverweisenden Bescheides der Tir. Landesregierung vom 1. März 1979 - die Bezirkshauptmannschaft Lienz einen mit 18. April 1979 datierten Bescheid und erteilte dem Beteiligten M gemäß §42 TBO die beantragte Bewilligung zur Inanspruchnahme des der Bf. gehördenden Nachbargrundstückes Gp 1717 KG Lienz zwecks Durchführung bestimmter Bauarbeiten.

Die Tir. Landesregierung wies die dagegen von der Bf. erhobene Berufung mit Bescheid vom 29. Mai 1979 als unbegründet ab.

4. Gegen diesen Bescheid wendet sich die auf Art144 B-VG gegündete, zu B252/79 eingetragene Beschwerde an den VfGH, in der gleichfalls die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt wird.

5. a) Die Tir. Landesregierung als bel. Beh. hat in beiden Fällen eine Gegenschrift erstattet. Darin wird die Abweisung der Beschwerden begehrt.

b) Der Beteiligte M hat sich in beiden Verfahren geäußert und die Abweisung der Beschwerden beantragt.

II. Der VfGH hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. a) §42 Abs1 und 2 der Tir. Bauordnung - TBO, LGBl. Nr. 42/1974, in der Stammfassung lautet:

"(1) Die Eigentümer benachbarter Grundstücke haben das Betreten und die vorübergehende Benützung ihrer Grundstücke und der darauf befindlichen baulichen Anlagen zu dulden, soweit dies zur Errichtung einer baulichen Anlage oder zur Beseitigung eines Baugebrechens unumgänglich notwendig ist und dies auf andere Weise nicht oder nur unter verhältnismäßig hohen Mehrkosten durchgeführt werden könnte. Diese Benützung fremder Grundstücke ist unter möglichster Schonung der Interessen des Nachbarn auf das unbedingt erforderliche Ausmaß zu beschränken.

(2) Von der beabsichtigen Vornahme von Arbeiten gemäß Abs1 ist der Eigentümer des betroffenen Grundstückes vom Bauwerber mindestens zwei Wochen vorher schriftlich zu verständigen. Verweigert der Eigentümer die Inanspruchnahme seines Grundstückes oder seiner baulichen Anlage, so hat die Behörde auf Antrag mit Bescheid auszusprechen, ob und inwieweit eine solche Inanspruchnahme geduldet werden muß."

b) Durch die 1. Bauordnungsnovelle, LGBl. Nr. 37/1978, (1. BO-Nov.) wurde der Abs1 des §42 TBO unverändert gelassen.

Der Abs2 des §42 wurde durch diese Nov. wie folgt neu gefaßt:

"(2) Von der beabsichtigten Vornahme von Arbeiten nach Abs1 ist der Eigentümer des betroffenen Grundstückes vom Bauwerber mindestens zwei Wochen vorher schriftlich zu verständigen. Stimmt der Eigentümer der Inanspruchnahme seines Grundstückes oder seiner baulichen Anlage nicht ausdrücklich zu, so hat der Bürgermeister im übertragenen Wirkungsbereich auf Antrag mit Bescheid auszusprechen, ob und inwieweit eine solche Inanspruchnahme geduldet werden muß."

Dem ArtII der 1. Bauordnungsnovelle zufolge ist dieses Gesetz mit 1. September 1978 in Kraft getreten.

2. Zum Bescheid der Tir. Landesregierung vom 1. März 1979 (B144/79)

a) Die Bezirkshauptmannschaft Lienz hat ihren in 2. Instanz ergangenen Bescheid vom 18. Jänner 1979 (mit dem der Antrag des Beteiligten M als unzulässig zurückgewiesen worden war) im wesentlichen damit begründet, gemäß §24 Abs2 TBO sei Voraussetzung der Zulässigkeit eines Antrages, daß der Nachbar, dessen Grund benützt werden soll, zuvor schriftlich verständigt wird. Im vorliegenden Fall sei eine schriftliche Verständigung der Bf. E M durch den Beteiligten M nicht erfolgt.

Die Tir. Landesregierung kam im angefochtenen (drittinstanzlichen) Bescheid vom 1. März 1979 zum gegenteiligen Ergebnis: Das vom Beteiligten an Rechtsanwalt Dr. H gerichtete Schreiben vom 30. März 1976 sei als Verständigung iS des §24 Abs2 TBO zu werten, da daraus das Anliegen des Beteiligten M, das der Bf. gehörende Nachbargrundstück für Bauarbeiten benützen zu dürfen, klar erkennbar gewesen sei und da dem Beteiligten M bekannt gewesen sei, daß Rechtsanwalt Dr. H die Bf. ständig rechtsfreundlich vertrete. Dieser Rechtsanwalt habe sich auch sofort mit dem Rechtsvertreter des Beteiligten in Verbindung gesetzt. Die Bezirkshauptmannschaft Lienz habe daher dem Beteiligten M zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert; seiner Berufung, die sich gegen die Zurückweisung des Antrages als unzulässig wendet, sei sohin Folge zu geben gewesen.

b) In der gegen diesen zurückverweisenden Bescheid der Tir. Landesregierung vom 1. März 1979 gerichteten Beschwerde (B144/79) wird die behauptete Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wie folgt begründet:

aa) Die Bf. habe die vom Beteiligten begehrte Inanspruchnahme ihres Grundstückes nicht verweigert; vielmehr habe sie mit Schreiben vom 2. April 1967 (das ihr Rechtsvertreter an jenen des Beteiligten gerichtet hatte) ihre Bereitschaft angekündigt, mit dem Bauwerber M (dem Beteiligten) zu verhandeln. Die 1. BO-Nov. (mit der §42 Abs2 TBO derart neu gefaßt wurde, daß ein baubehördlicher Bescheid bereits dann zu erlassen ist, wenn der Nachbar der Inanspruchnahme seines Grundstückes nicht ausdrücklich zustimmt) sei nicht mit rückwirkender Kraft ausgestattet und daher im vorliegenden Fall nicht anwendbar.

Im übrigen wäre auch nach der neuen Gesetzeslage der Antrag des Beteiligten vom 6. April 1976 zurückzuweisen gewesen. Das Schreiben der Bf. vom 2. April 1976 habe nämlich eine Anfrage enthalten, ob der Bauwerber bereit sei, akzeptable Vorschläge zu einer gütlichen Bereinigung zu unterbreiten. Sie (die Bf.) habe ihrer Bereitschaft in Aussicht gestellt, mit dem Bauwerber zu verhandeln. Eine solche bloße Anfrage habe den Bauwerber auch nach der novellierten Gesetzeslage nicht berechtigt, sofort mit dem Antrag vom 6. April 1976 vorzugehen.

bb) In der Sache seien unzuständige Behörden - nämlich in zweiter Instanz die Bezirkshauptmannschaft Lienz und in dritter Instanz die Tir. Landesregierung - eingeschritten. Gesetzmäßig wäre es gewesen, wenn der Stadtsenat der Stadtgemeinde Lienz als Berufungsbehörde und die Tir. Landesregierung als Gemeindeaufsichtsbehörde im Vorstellungsverfahren tätig geworden wären.

c) aa) Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (vgl. zB VfSlg. 8828/1980), etwa, wenn die Behörde einen antragsbedürftigen Bescheid erläßt, ohne daß ein Antrag der Partei vorliegt (vgl. zB VfSlg. 5163/1965, 5419/1966).

Hier sind zumindest in erster und letzter Instanz die zuständigen Behörden eingeschritten: Zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides galt die TBO idF der 1. BO-Nov. (vgl. deren ArtII). Danach ist ein auf §42 Abs2 TBO gestützter baubehördlicher Ausspruch der ausdrücklichen Anordnung dieser Gesetzesbestimmung zufolge vom Bürgermeister im übertragenen Wirkungsbereich zu erlassen. Die Frage nach der Gesetzmäßigkeit des Einschreitens der Bezirkshauptmannschaft Lienz als Mittelinstanz - die vom VwGH verneint wird (s. VwGH 30. Oktober 1981 Z 81/04/0129 und 0130) - kann hier ungeprüft auf sich beruhen, weil nach der Rechtsprechung des VfGH selbst eine gesetzwidrige Einbindung dieser Behörde in das Verfahren in Form der Hinzufügung als weitere Instanz das Grundrecht des Art83 Abs2 B-VG nicht verletzt hätte (vgl. VfSlg. 9169/1981 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).

§42 Abs2 TBO (sowohl in der Stammfassung als auch idF der 1. BO-Nov.) setzt für die Erlassung des baubehördlichen Ausspruches, ob und inwieweit die Inanspruchnahme des Nachbargrundstückes geduldet werden muß, einen Antrag des Bauwerbers voraus. Hier hat der Beteiligte M unbestritten am 6. April 1976 einen derartigen Antrag an den Bürgermeister der Stadtgemeinde Lienz gestellt. Die Behörde hat sich mit der strittigen Frage auseinandergesetzt, ob sich der Beteiligte vor dieser Antragstellung mit dem Eigentümer des Nachbargrundstückes (der Bf.) iS des §42 Abs2 TBO in Verbindung gesetzt und wie die Bf. darauf reagiert hat.

Da die - zuständige - Behörde somit eine Sachentscheidung getroffen hat, ist es unter dem Blickwinkel des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter unerheblich, welcher prozeßtechnischer Mittel sie sich hiebei bedient und ob sie richtig entschieden hat.

Die Bf. ist sohin durch den Bescheid vom 1. März 1979 nicht in diesem Recht verletzt worden.

bb) Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der den angefochtenen Bescheid tragenden Rechtsgrundlagen könnte die Bf. im Eigentumsrecht oder im Gleichheitsrecht nur durch eine denkunmögliche oder willkürliche Gesetzesanwendung verletzt worden sein.

Derartige schwerwiegende, in die Verfassungssphäre reichende Fehler sind der Behörde aber nicht anzulasten:

Es ist jedenfalls vertretbar anzunehmen, daß bereits zum Zeitpunkt der Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides des Bürgermeisters der Stadtgemeinde Lienz vom 13. September 1978 die TBO idF der 1. BO-Nov. in Kraft stand (s. ArtII der 1. BO-Nov. "Dieses Gesetz tritt mit 1. September 1978 in Kraft.") und daß daher in jeder Hinsicht die Rechtslage nach der TBO idF der 1. BO-Nov. zu beurteilen ist.

Der vom §42 Abs2 TBO in dieser Fassung geforderte Antrag des Bauwerbers lag vor (s. die vorstehende sublitaa). Es ist weder denkunmöglich noch willkürlich, wenn die Behörde davon ausgegangen ist, daß sich der Bauwerber vor Antragstellung mit der Eigentümerin des Nachbargrundstückes (der Bf.) schriftlich in Verbindung gesetzt und daß diese die Inanspruchnahme ihres Grundstückes möglicherweise zwar nicht ausdrücklich ablehnt, ihr aber jedenfalls nicht ausdrücklich zugestimmt hatte. Dann aber durfte nach §42 Abs2 TBO idF der 1. BO-Nov. der Beteiligte M den Antrag bei der Baubehörde rechtmäßig stellen.

Die Bf. ist sohin durch den zu B144/79 angefochtenen Bescheid vom 1. März 1979 auch nicht im Gleichheitsrecht und Eigentumsrecht verletzt worden.

cc) Das Verfahren hat auch nicht die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes ergeben.

3. Zum Bescheid der Tir. Landesregierung vom 29. Mai 1979 (B252/79)

a) Die Tir. Landesregierung begründet diesen Bescheid ähnlich wie den zu B144/79 bekämpften Bescheid vom 1. März 1979 (s.o. II.2. a).

b) Die Bf. behauptet, auch durch diesen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden zu sein; dies deshalb, weil der Antragsteller (der Beteiligte dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens) der Bf. keine dem §42 Abs2 TBO entsprechende Verständigung zugehen habe lassen und weil nicht die zuständigen Behörden entschieden hätten.

c) Zur Widerlegung dieser Beschwerdeausführungen genügt es, auf die obigen Ausführungen unter II.2.c zu verweisen.

Die Bf. ist sohin auch durch den zu B252/79 angefochtenen Bescheid vom 29. Mai 1979 in keinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden.

4. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es ausgeschlossen, daß sie in ihren Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.

Die Beschwerden waren daher abzuweisen.

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