European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00180.24W.1119.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Unterhaltsrecht inkl. UVG
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Minderjährigen aufgetragen.
Begründung:
[1] Die Minderjährige lebt im Haushalt der Mutter. Der Vater ist neben der Minderjährigen auch zwei volljährigen Kindern gegenüber unterhaltspflichtig. Der Vater war bisher – seit 1997 – als Lehrer tätig und betrieb nebenbei seit 2000 ein Unternehmen, dessen einzige Angestellte die Ehefrau des Vaters ist. Dieses Unternehmen erwirtschaftete 2023 einen (geringen) Bilanzverlust.
[2] Von 11. 9. 2023 bis (voraussichtlich) 8. 9. 2024 befindet sich der Vater in Bildungskarenz und bezieht ein Weiterbildungsgeld von monatlich 1.769 EUR. Für die Pensions-, Kranken- und Unfallversicherung sowie Selbständigenvorsorge leistete er im September 2023 92,67 EUR, seit Oktober 2023 monatlich 145,36 EUR.
[3] Im Dezember 2022 wurde beim Vater eine Anpassungsstörung diagnostiziert. Es bestand eine Überlastung durch Aufrechterhaltung einer Doppelberufstätigkeit. Während der Bildungskarenz absolvierte er eine Weiterbildung mit dem Ziel der Optimierung der Digitalisierung und Skalierung seines Geschäftsmodells sowie der Online‑Kundengewinnung.
[4] Weiters traf das Erstgericht folgende, im Rekurs der Minderjährigen bekämpfte Feststellungen:
[5] Die Bildungskarenz dient einerseits der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit des Vaters und Abwendung eines bevorstehenden Burn‑Outs sowie andererseits zur Optimierung seiner Talente und Fähigkeiten im Hinblick auf seine selbständige Tätigkeit.
[6] Der Vater erzielt aus seiner selbständigen Tätigkeit kein Einkommen.
[7] Der Vater begehrt die Herabsetzung des von ihm an die Minderjährige zu leistenden Unterhalts ab 1. 10. 2023 (von 410 EUR) auf 205 EUR. Er habe um den Jahreswechsel 2022/2023 einen nicht mehr kompensierbaren Erschöpfungszustand bzw eine Anpassungsstörung („Burn Out“) erlitten. Die seit Jahren bestehende berufliche Doppelbelastung habe zu einer Überlastung geführt und die Erzielung von Gewinnen aus der selbständigen Tätigkeit verhindert, obwohl sich das Unternehmen grundsätzlich ansprechend entwickelt habe. Er habe daher Anfang 2023 den Entschluss gefasst, die ihn psychisch zunehmend belastende Lehrertätigkeit vorläufig zu beenden und ab dem Schuljahr 2023/2024 Bildungskarenz in Anspruch zu nehmen. Durch den Wegfall der beruflichen Belastung als Lehrer habe sich eine massive psychische Entlastung eingestellt. Ziel der Weiterbildung in der Bildungskarenz sei es, in absehbarer Zeit mit dem Unternehmen ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften und sich dann auf die selbständige Tätigkeit konzentrieren zu können. Die Bildungskarenz diene der Erhaltung derArbeitsfähigkeit. Eine Anspannung während der gerechtfertigt in Anspruch genommenen Bildungskarenz komme nicht in Betracht.
[8] Die Minderjährige trat dem Herabsetzungsantrag – soweit in dritter Instanz relevant – mit dem Argument entgegen, die nicht nachvollziehbare Vorgangsweise des Vaters sei eine offenkundige Verletzung der ihn treffenden Pflicht, seine Arbeitskraft so einzusetzen, dass er in der Lage sei, seinen Unterhaltspflichten nachzukommen. Sie ziele in mutwilliger Weise darauf ab, seine Unterhaltspflichten zu reduzieren, sodass der Vater auf ein für ihn erzielbares Einkommen anzuspannen sei. Ein gesundheitlicher Grund für eine Einschränkung der Erwerbstätigkeit liege beim Vater nicht vor.
[9] Das Erstgericht gab dem Antrag teilweise statt und setzte den monatlich zu leistenden Unterhalt für Oktober 2023 auf 218 EUR, für November und Dezember 2023 auf 241 EUR und für Jänner bis einschließlich August 2024 auf 228 EUR herab. Das darüber hinaus gehende Herabsetzungsbegehren wies es rechtskräftig ab. Der Vater habe die Bildungskarenz zur Aufrechterhaltung seiner Arbeitsfähigkeit und Abwendung eines bevorstehenden Burn‑Outs in Anspruch genommen, sodass eine Anspannung nicht in Betracht komme.
[10] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Minderjährigen Folge und wies den Antrag auf Herabsetzung des Unterhalts zur Gänze ab. Es erachtete den Rekurs der Minderjährigen alleine aus rechtlichen Gründen für berechtigt und erledigte daher die im Rekurs enthaltenen Beweis- und Mängelrügen nicht. Auch zur im Rekurs aufgeworfenen Frage der Nichtigkeit nahm das Rekursgericht nicht Stellung.
[11] Aus den vom Vater vorgelegten Unterlagen und seinen eigenen Angaben ergebe sich, dass er nicht nur im Jahr 2023, sondern auch in den vergangenen Jahren aus seiner selbständigen Tätigkeit kein Einkommen bezogen habe. Es sei angesichts des durch die Doppelbelastung bestehenden Risikos eines Burn‑Outs nicht nachvollziehbar, warum der Vater die Doppelberufstätigkeit, aus der kein wirtschaftlicher Nutzen resultiere und mit der kein höheres Einkommen erzielt werde, aufrecht erhalten habe. Ein Unternehmen, das nach mehr als 20 Jahren nicht gewinnbringend betrieben werden könne, sei als „Liebhaberei“ anzusehen. Dennoch derart viel an Arbeitskraft darin zu investieren und dadurch ein Burn‑Out zu riskieren, liege ausschließlich in der Sphäre des Unterhaltsschuldners. Dieser habe die Überlastung selbst herbeigeführt. Ein pflichtbewusster Vater hätte in der konkreten Situation seine unternehmerische Tätigkeit, die seit Jahren keinen Ertrag abwerfe, eingestellt oder erheblich eingeschränkt, seine Lehrertätigkeit aber weitergeführt. Durch die Inanspruchnahme der Bildungskarenz habe der Antragsteller schuldhaft die zumutbare Erzielung deutlich höherer Einkünfte verabsäumt.
[12] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich mit der Begründung zu, dass höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob der Unterhaltsschuldner auch dann anzuspannen sei, wenn er schuldhaft eine wirtschaftlich nicht sinnvolle Doppelbelastung beibehalten und dadurch gesundheitliche Beeinträchtigungen herbeigeführt habe.
[13] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters, mit dem er die Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts anstrebt. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
[14] Die Minderjährige beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung die Zurückweisung des Rechtsmittels, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[15] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[16] Der Vater macht zusammengefasst geltend, das Rekursgericht habe in Verkennung der Rechtslage bei der Anwendung des Anspannungsgrundsatzes darauf abgestellt, dass er seine gesundheitliche Beeinträchtigung selbst verschuldet habe. Auf die Gründe für die fehlende Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners komme es aber nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht an. Außerdem habe das Erstgericht gar nicht festgestellt, dass die Aufrechterhaltung einer Doppelberufstätigkeit kausal für die Inanspruchnahme der Bildungskarenz gewesen sei.
Dazu hat der Senat erwogen:
[17] 1. Gemäß § 231 Abs 1 ABGB haben die Eltern zur Deckung der ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse des Kindes nach ihren Kräften anteilig beizutragen. Der Unterhaltsschuldner hat alle Kräfte anzuspannen, um seiner Verpflichtung nachkommen zu können. Er muss alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einsetzen und seine Leistungskraft unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines Könnens ausschöpfen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RS0047686). Der für unselbständig und selbständig Erwerbstätige geltende (RS0047511) Anspannungsgrundsatz wird daher unter anderem dann verletzt, wenn sich der Unterhaltsschuldner mit einem geringeren Einkommen begnügt als es ihm möglich wäre. Der Verzicht auf die Erzielung eines höheren Einkommens, der nicht durch besondere berücksichtigungswürdige Umstände erzwungen ist, darf nicht zu Lasten eines Unterhaltsberechtigten gehen (RS0047686 [T5, T28]).
[18] Die im Gesetz vorgesehene Anspannung eines Unterhaltspflichtigen greift immer dann Platz, wenn dem Unterhaltspflichtigen die Erzielung eines höheren als des tatsächlichen Einkommens zugemutet werden kann (RS0047550). Maßstab für die den Unterhaltspflichtigen treffenden Obliegenheiten ist das Verhalten eines pflichtbewussten, rechtschaffenen Elternteils in der konkreten Lage des Unterhaltspflichtigen (RS0047421; RS0113751). Dessen Verhalten muss ex ante gegenüber dem Unterhaltsberechtigten vertretbar gewesen sein (1 Ob 108/21w Rz 13). Eine Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf aber nur erfolgen, wenn den Unterhaltsschuldner ein Verschulden am Einkommensmangel trifft, wobei leichte Fahrlässigkeit genügt (RS0047495 [insb auch T18]). Ist der Verzicht auf die Erzielung eines höheren Einkommens durch besondere berücksichtigungswürdige Gründe gerechtfertigt, ist der Anspannungsgrundsatz nicht anzuwenden (5 Ob 85/21t Rz 10; RS0047566).
[19] Die Anspannung darf nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern muss immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage wäre (RS0047579 [T1]). Wer – aus welchen Gründen immer (Krankheit, Haft, Schwangerschaft, Alter) – zu einer Erwerbstätigkeit nicht in der Lage ist, dem kann wegen der fehlenden Leistungsfähigkeit kein potentielles Einkommen unterstellt werden (RS0047686 [T9]). Zwar hat grundsätzlich der Unterhaltspflichtige die seine Unterhaltsverpflichtung aufhebenden oder vermindernden Umstände zu behaupten und zu beweisen (RS0006261 [T6]), die Behauptungs- und Beweislast für ein zumutbarerweise erzielbares höheres Einkommen trifft aber die durch den Anspannungsgrundsatz begünstigte Partei (RS0006261 [T5]).
[20] 2. Ob den Unterhaltspflichtigen ein Verschulden an der Herbeiführung jener Lage trifft, die es ihm unmöglich macht, ein höheres als das tatsächlich erzielte Einkommen zu lukrieren, ist unter Beachtung der zu Punkt 1. dargestellten Rechtsprechung für die Frage der Anspannung rechtlich unerheblich. Maßgeblich ist alleine das Bestehen konkreter – dem Unterhaltspflichtigen nach seinen subjektiven Fähigkeiten zumutbarer – Erwerbsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Der Anspannungsgrundsatz findet daher selbst auf solche Unterhaltsschuldner keine Anwendung, die im Zeitraum der Unterhaltsbemessung nur deshalb kein potentielles Einkommen erzielen können, weil ihnen aufgrund der Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe eine Erwerbstätigkeit nicht möglich ist (RS0047622).
[21] 3. Ob dem Vater im Hinblick auf die ruhend gestellte unselbständige Erwerbstätigkeit als Lehrer eine zumindest leicht fahrlässige Schmälerung der Unterhaltsbemessungsgrundlage durch Inanspruchnahme der Bildungskarenz vorzuwerfen ist oder sein Verhalten vielmehr ex ante betrachtet gegenüber der Unterhaltsberechtigten vertretbar war, hängt entscheidend davon ab, ob die Inanspruchnahme der Bildungskarenz – und die damit in Zusammenhang stehende temporäre Aufgabe der Tätigkeit als Lehrer – aus gerechtfertigten medizinischen Gründen erfolgte (vgl bereits 1 Ob 75/12d Punkt 4.). Maßgeblich ist, ob die in Anspruch genommene Bildungskarenz ein geeignetes Mittel zur Behebung der festgestellten psychischen Erkrankung und zugleich auch erforderlich zur Erreichung dieses Ziels war.
[22] Die gesicherte Feststellungsgrundlage reicht zur Beurteilung dieser Frage nicht aus. Einerseits sind bereits die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen wenig präzise. Andererseits ist die Behandlung der Beweisrüge, mit der entscheidungswesentliche Feststellungen bekämpft wurden, durch das Rekursgericht aus rechtlichen Gründen unterblieben. In diesem Fall liegt mangels gesicherter Tatsachengrundlage ein Feststellungsmangel vor, der im Rahmen der Behandlung der Rechtsrüge in dritter Instanz wahrzunehmen ist (2 Ob 170/22x Rz 28 mwN).
[23] 4. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung als erforderlich. Dem Rekursgericht war die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Minderjährigen aufzutragen.
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