OGH 1Ob137/24i

OGH1Ob137/24i9.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely-Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, geboren am * 2005, Lehrling, *, vertreten durch Mag. Gerhard Posch, Rechtsanwalt in Micheldorf, gegen die beklagte Partei J*, geboren am * 2006, Lehrling, *, vertreten durch Mag. Hartmut Gräf, Rechtsanwalt in Kirchdorf an der Krems, wegen 5.100 EUR und Feststellung, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 5.100 EUR) gegen das Urteil des Landesgerichts Steyr als Berufungsgericht vom 21. März 2024, GZ 1 R 3/24w-21, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Kirchdorf an der Krems vom 27. November 2023, GZ 2 C 28/23m-17, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00137.24I.1009.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Teilzwischenurteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass die das Zahlungsbegehren abweisende Entscheidung des Erstgerichts in ihrem Punkt 1 wieder hergestellt wird.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei deren mit 1.364,54 EUR (darin 100,42 EUR USt und 762 EUR Barauslagen) bestimmte Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 15. 1. 2022 traf der zu diesem Zeitpunkt alkoholisierte (1,3 Promille) Kläger in Begleitung eines Freundes auf den ihm aus der Schulzeit bekannten Beklagten und zwei seiner Freunde. Der Kläger machte sich über diese lustig und provozierte sie. Im Laufe der sich daraus entwickelnden verbalen Auseinandersetzung zog der Kläger plötzlich seine Jacke aus, warf sein Kebab zu Boden und forderte den Beklagten und dessen Begleiter zu einem Faustkampf sowie dazu auf, „ihm ins Gesicht zu schlagen“. In der Folge schubste er den Beklagten und tippte ihm immer wieder mit dem Finger gegen die Brust, wodurch er ihn zurückdrängte. Der Beklagte forderte den Kläger mehrmals auf, weg zu gehen. Als der Kläger erfolglos versucht hatte, dem Beklagten eine Ohrfeige zu geben, schlug ihm dieser mit der Faust ins Gesicht, was weitgehend ohne Folgen blieb. Im Zuge der weiteren Auseinandersetzung versuchte der Kläger erneut, den Beklagten zu schlagen. Um dem zu entgehen, lief er ein paar Meter weg, wurde aber vom Kläger verfolgt. Der Beklagte drehte sich plötzlich um und schlug dem Kläger mit der Faust ins Gesicht, wodurch dieser „zu Boden ging“. Er erlitt durch den Faustschlag eine Kieferhöhlenwandfraktur.

[2] Der Kläger begehrt vom Beklagten im Wesentlichen Schmerzengeld. Er erhob außerdem ein Feststellungsbegehren.

[3] Der Beklagte berief sich auf Notwehr.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil der Beklagte in Notwehr gehandelt habe.

[5] Das Berufungsgericht änderte die klageabweisende erstinstanzliche Entscheidung über das Zahlungsbegehren ab und sprach mit Teilzwischenurteil aus, dass dieses dem Grunde nach zu Recht bestehe. Die Entscheidung über das Feststellungsbegehren hob es zur Verfahrensergänzung auf. Die Revision gegen das Teilzwischenurteil ließ das Berufungsgericht nachträglich zu. Ein Ausspruch über die Zulässigkeit des Rekurses gegen den Aufhebungsbeschluss unterblieb.

[6] Auch das Berufungsgericht ging von einer Notwehrsituation aus, weil der Kläger versucht habe, den Beklagten zu schlagen. Allerdings habe dieser das gerechtfertigte Maß der Verteidigung durch den mit großer Wucht geführten Faustschlag in das Gesicht des Gegners schuldhaft überschritten. Ein Mitverschulden des Klägers habe der Beklagte nicht eingewandt.

[7] Die Zulässigkeit der Revision begründete es damit, dass dem erstinstanzlichen Vorbringen des Beklagten möglicherweise doch ein Mitverschuldenseinwand zu entnehmen sei.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision des Beklagten ist nicht nur aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund, sondern schon deswegen zulässig, weil das Berufungsgericht zu Unrecht eine Notwehrüberschreitung durch den Beklagten annahm; sie ist aus diesem Grund auch berechtigt:

[9] 1. Die behaupteten Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der Aktenwidrigkeit wurden geprüft; sie liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[10] 2. In seiner Rechtsrüge steht der Beklagte nicht nur (zu Recht) auf dem Standpunkt, in erster Instanz ein Mitverschulden des Klägers eingewandt zu haben, sondern er argumentiert auch, sein Notwehrrecht – dass er sich in einer Notwehrsituation befand, ist unstrittig – nicht überschritten zu haben.

[11] 2.1. Notwendig ist jene Verteidigung, die unter den verfügbaren Mitteln das schonendste darstellt, um einen gegenwärtigen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff sofort und endgültig abzuwenden (RS0088842; siehe auch RS0095988). Die Notwendigkeit einer Verteidigungshandlung ist ex ante aus der Situation des Angegriffenen unter Beachtung objektiver Kriterien zu beurteilen (4 Ob 116/19s mwN). Sie darf gerade so weit in die Rechtsgüter des Angreifers eingreifen, dass der Angriff verlässlich abgewehrt werden kann (RS0089309). Es muss jene Abwehr gewählt werden, die mit möglichst geringer Verletzung der Interessen des Angreifers noch zum Ziel führt (RS0009046). Das Maß der Abwehr bestimmt sich regelmäßig nach der Art, Wucht und Intensität des zur Notwehr berechtigenden Angriffs, nach der Gefährlichkeit des Angreifers und nach den zur Abwehr zur Verfügung stehenden Mitteln (RS0089259). Ein Risiko betreffend die Effektivität seiner Verteidigung braucht der Verteidiger nicht einzugehen (14 Os 72/12p).

[12] 2.2. Nach den Feststellungen begegnete der Kläger dem Beklagten ausgesprochen aggressiv. Er forderte ihn zum „Faustkampf“ sowie dazu auf, „ihm ins Gesicht zu schlagen“. Der Kläger ließ auch nicht vom Beklagten – der den Kläger in keiner Weise provoziert hatte – ab, nachdem ihn dieser mehrmals aufgefordert hatte, „weg zu gehen“. Selbst durch den ersten, noch weitgehend folgenlos gebliebenen Faustschlag des Beklagten ließ sich der Kläger nicht von weiteren Aggressionen abhalten. Vielmehr verfolgte er den Beklagten, als sich dieser einer weiteren Bedrohung durch den Kläger durch Flucht entziehen wollte.

[13] 2.3. Dass sich der Beklagte in dieser Situation gegen den neuerlichen Versuch des Klägers, ihn zu schlagen, mit einem weiteren Faustschlag zur Wehr setzte, begründete keine – jedenfalls keine verschuldete (vgl § 3 Abs 2 StGB) – Überschreitung des ihm zustehenden Abwehrrechts, zumal der Beklagte zunächst ohnehin versucht hatte, diesem Angriff durch Flucht zu entgehen. Da der erste – offensichtlich weniger fest ausgeführte – Faustschlag den Kläger nicht von einem weiteren Angriff abhielt, war es unter dem Aspekt der Verlässlichkeit der Abwehrhandlung auch gerechtfertigt, den zweiten Schlag mit einer höheren Intensität auszuführen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger dem Beklagten nach den Feststellungen körperlich (sowohl hinsichtlich des Gewichts als auch der Größe) überlegen und der Kläger aufgrund seiner Alkoholisierung unberechenbar war. Insoweit konnte vom Beklagten nicht verlangt werden, den weiteren Angriff bloß durch solche Handlungen abzuwehren, die (wie etwa ein bloßes Wegstoßen) keine oder eine bloß geringe Verletzungsgefahr mit sich gebracht hätten. Dies hätte ihn vielmehr dem Risiko ausgesetzt, dass seine Abwehrhandlung (wie beim ersten Faustschlag) nicht ausreichend effektiv gewesen wäre (vgl dazu – zu Angriffen Betrunkener – auch RS0089073). Es bestand auch keine Pflicht des Beklagten, seine begonnene Flucht nach Verfolgung durch den Kläger fortzusetzen (RS0089005 [insb T2, T4]). Da die Notwendigkeit der Abwehrhandlung ex ante zu beurteilen ist, kann die Unzulässigkeit der Reaktion des Beklagten auch nicht aus der beim Kläger letztlich eingetretenen Verletzungsfolge abgeleitet werden.

[14] 2.4. Die vom Berufungsgericht und dem Revisionsgegner ins Treffen geführte Entscheidung 4 Ob 143/09x erfordert keine abweichende Beurteilung des vorliegenden (Einzel-)Falls. Zwar wurde dort ein Faustschlag mit vergleichbaren Folgen wie hier als Notwehrüberschreitung angesehen. Die Bedrohungslage war aber insoweit eine andere, als sich der dortige Beklagte in eine Schlägerei einließ, in deren Verlauf er mehrere kräftige Faustschläge „austeilte“, wobei hervorgehoben wurde, dass vor allem der Beklagte die Auseinandersetzung gesucht hatte. Hier hat der Beklagte aber zunächst versucht, der grundlosen Aggression des Klägers durch ungefährliche (Zureden; Flucht) oder weniger gefährliche (erster – offensichtlich weniger wuchtigere – Faustschlag) Reaktionen zu entgehen. Insoweit ist keine Parallele zur genannten Entscheidung zu ziehen.

[15] 2.5. Da die Haftung des Beklagten schon daran scheitert, dass dieser in gerechtfertigter Notwehr – ohne (schuldhafte) Notwehrüberschreitung – handelte, stellt sich die Frage nach einem Mitverschulden des Klägers nicht mehr.

[16] 3. Zusammengefasst erweist sich die Revision aus den vorstehenden Erwägungen als berechtigt. Das Teilzwischenurteil des Berufungsgerichts ist daher als Teilurteil im Sinne einer Abweisung des Zahlungsbegehrens abzuändern und insoweit das Ersturteil (in Punkt 1) wieder herzustellen.

[17] 4. Für eine Prüfung des zur Entscheidung über das Feststellungsbegehren ergangenen Aufhebungsbeschlusses besteht mangels Ausspruchs nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO keine Grundlage (RS0043854 [T1]). Das Erstgericht ist im fortgesetzten Verfahren über dieses Begehren aber an die hier zugrunde gelegte rechtliche Beurteilung gebunden (RS0042279 [T3]).

[18] 5. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf §§ 41, 50 ZPO, weil über das den alleinigen Gegenstand des Revisionsverfahrens bildende Zahlungsbegehren endgültig entschieden wurde (RS0035972). Der Kostenvorbehalt für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren beruht auf § 52 Abs 4 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte