OGH 10ObS55/24x

OGH10ObS55/24x8.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Manfred Joachimsthaler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Mag. Nikolay Dimitrov, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 21. März 2024, GZ 7 Rs 80/23 y‑31, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 7. September 2023, GZ 58 Cgs 61/23k‑26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00055.24X.1008.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Am Morgen des 10. Februar 2023 fuhr der Kläger mit einem E-Scooter Renault Electric Scooter Connect von seiner Wohnung zu seiner Dienststelle im Stadtgebiet von G*. Er wollte seine Geschwindigkeit (von 22 km/h auf 20 km/h) reduzieren und betätigte den Bremshebel. Dabei kam es aufgrund der (im Vergleich mit einem üblichen Damen- oder Herrenfahrrad) nicht so stark ausgeprägten Stabilität des E‑Scooters, seiner geringeren Lenkerbreite, der kleineren Räder und des geringeren Nachlaufs zu einer leichten Verlagerung der Fahrlinie, die in Verbindung mit der feuchten Fahrbahn zum Wegrutschen des Vorderrads führte, wodurch der Kläger stürzte. Weder ohne die Fahrlinienverlagerung noch bei Benützung eines Fahrrads wäre der Kläger in dieser Situation gestürzt.

[2] Der E-Scooter des Klägers wiegt 12 kg, wird von einem 350 Watt starken Elektromotor angetrieben und ist mit einer Scheibenbremse am Hinterrad ausgestattet. Die Räder haben einen Durchmesser von 216 mm; die maximale Fahrgeschwindigkeit beträgt 25 km/h. Er wird mit einer Lenkstange gesteuert und verfügt über ein Trittbrett ohne Sitzgelegenheit.

[3] Mit Bescheid vom 21. Februar 2023 sprach die Beklagte aus, dass dieser Unfall nicht als Dienstunfall anerkannt und Leistungen gemäß §§ 88 ff B‑KUVG nicht gewährt würden.

[4] Mit seiner dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger neben der Feststellung, die von ihm im Zuge des Unfalls vom 10. Februar 2023 erlittenen Verletzungen seien Folgen eines Dienstunfalls, die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß. Der von ihm verwendete E‑Scooter sei ein für die Zurücklegung eines Arbeitsweges übliches und zulässiges, einem Fahrrad gleichgestelltes Fortbewegungsmittel, dessen Verwendung keine besondere Geschicklichkeit oder Eignung erfordere. Da viele Dienstnehmer täglich mit E‑Scootern zur Arbeit führen, seien sie auch nicht als bloßes Spiel- oder Sportgerät für Freizeitzwecke anzusehen. Abgesehen davon sei der Unfall auf die allgemeine Weggefahr zurückzuführen und nicht durch eine vom E-Scooter ausgehende spezifische Gefahr ausgelöst worden.

[5] Die Beklagte hielt dem entgegen, der Sturz des Klägers sei auf ein mit der Verwendung eines E-Scooters verbundenes typisches Risiko zurückzuführen, das insbesondere in der relativ hohen Fahrgeschwindigkeit in Kombination mit schlechter Schwerpunktlage und relativ kleinen Rädern bestehe, was eine instabile Fahrsituation bewirke. Der vom Kläger verwendete E‑Scooter sei auch kein Fahrzeug iSd StVO, sondern ein fahrzeugähnliches Spiel- oder Sportgerät, das der Gesetzgeber Fahrrädern bewusst nicht gleichgestellt habe.

[6] Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Zwar stehe dem Versicherten die Wahl des Verkehrsmittels bzw die Art der Fortbewegung auf Arbeitswegen grundsätzlich frei. Es sei aber eine Grenze zwischen allgemein üblichen Verkehrsmitteln auf der einen und Spiel- und Sportgeräten auf der anderen Seite zu ziehen. Ob die Freiheit der Wahl des Fortbewegungsmittels auch E-Scooter erfasse, hänge davon ab, ob die Gesamtumstände bei wertender Betrachtung dafür oder dagegen sprächen, das zum Unfall führende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zuzurechnen. Dafür könnten die Bestimmungen der StVO Anhaltspunkte liefern. Aus diesen ergebe sich, dass E‑Scooter ungeachtet des § 88b StVO Trendsportgeräte seien, weil ihre Benützung ein besonderes Maß an Geschicklichkeit erfordere. Im vorliegenden Fall habe sich auch gerade die daraus resultierende Gefahr und keine allgemeine Weggefahr verwirklicht.

[7] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage der Qualifikation von E‑Scootern als Spiel‑ und Sportgerät oder als Fahrzeug und dazu, ob deren Verwendung unter Unfallversicherungsschutz stehe, keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

[8] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, der Klage stattzugeben. Hilfsweise stellt er auch einen Aufhebungsantrag.

[9] In ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[11] 1. Der Umstand, dass ein völlig gleich gelagerter Sachverhalt vom Obersten Gerichtshof noch nicht beurteilt wurde, kann die Zulässigkeit der Revision für sich allein noch nicht begründen (RS0107773; RS0110702; RS0102181). Das gilt vor allem dann, wenn der Streitfall – wie hier – durch Anwendung bestehender Rechtsprechung gelöst werden kann und auch gelöst wurde (RS0042742 [T13]; RS0042656 [T48]; RS0107773 [T3]).

[12] 2. Der Oberste Gerichtshof hat im Zusammenhang mit der Verwendung eines Monowheels die Grundsätze, ob und wann das Verwenden eines Spiel‑ und Sportgeräts bei Zurücklegung eines Arbeitsweges Unfallversicherungsschutz genießt, in den Entscheidungen 10 ObS 150/20m (DRdA 2021/45 [Pfalz]; EvBl 2021/67 [Labner]; DRdA‑infas 2021, 223 [Marcian]) und 10 ObS 127/23h ausführlich dargelegt.

[13] Demnach steht dem Versicherten zwar die Wahl des Verkehrsmittels bzw die Art der Fortbewegung auf Arbeitswegen grundsätzlich frei. Dennoch handelt es sich bei Wegunfällen im Sinn des § 90 Abs 2 Z 1 B‑KUVG (§ 175 Abs 2 Z 1 ASVG) um eine rechtlich nicht zwingend gebotene, aus sozialpolitischen Überlegungen vorgenommene Erweiterung des Versicherungsschutzes, obwohl dieser Bereich dem Einfluss des Dienstgebers weitgehend entzogen ist. Vor diesem Hintergrund sollen nur die typischen (allgemeinen) Weggefahren und Risiken versichert sein, nicht aber jegliche mit dem Weg in irgendeinem Zusammenhang stehende andere Ereignisse und Gefahren.

[14] Bei der Beantwortung der Frage, ob und welche Sport‑ oder Spielgeräte (noch) von der Freiheit der Wahl des Fortbewegungsmittels erfasst sind, geht es daher darum, die Grenze des Versicherungsschutzes zu bestimmen, dh, den von der Unfallversicherung geschützten Lebensbereich von der Privatsphäre des Versicherten abzugrenzen. Das erfordert eine Wertentscheidung, bei der nicht allein das Verhalten des Versicherten, sondern alle Gesichtspunkte und Überlegungen einzubeziehen sind. Entscheidend ist, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten oder dem privaten Bereich zuzurechnen. Anhaltspunkte dafür, was als (übliches) Verkehrsmittel und was als Sport‑ oder Spielgerät anzusehen ist, können auch die Bestimmungen der StVO liefern (10 ObS 150/20m Rz 20 bis 22).

[15] 3. Der Kläger zieht diese zu Recht bereits von den Vorinstanzen zitierte Rechtsprechung an sich nicht in Zweifel. Er meint im Wesentlichen nur, dass er den E‑Scooter zulässigerweise verwendet und dabei keine Rechtsvorschriften verletzt habe und ein E‑Scooter ein übliches Verkehrsmittel und kein Spiel‑ oder Sportgerät für Freizeitzwecke sei.

[16] 3.1. Dem ersten Argument des Klägers ist nur zu entgegen, dass ihm die Vorinstanzen ein verbotswidriges Handeln nicht vorgeworfen haben. Ein solches könnte die Annahme eines Dienstunfalls auch nicht ausschließen (§ 90 Abs 3 B‑KUVG bzw § 175 Abs 6 ASVG).

[17] 3.2. Soweit der Kläger davon ausgeht, dass ein E‑Scooter von der StVO als Fahrzeug eingestuft werde, greift seine Argumentation zu kurz.

[18] 3.2.1. Es trifft zu, dass angesichts der Regelungen des § 2 Abs 1 Z 19 und § 88b StVO in der Rechtsprechung und in der Literatur unterschiedliche Ansichten zur Frage vertreten werden, ob ein E-Scooter wie der vom Kläger verwendete ein Fahrzeug ist (ausführlich jüngst 2 Ob 92/24d Rz 28 ff mwN). Diese Einstufung ist aber nur für die Frage relevant, welchen verkehrs‑ und kraftfahrrechtlichen Vorschriften das Fahren und der Betrieb von E‑Scootern unterliegen. Für die hier interessierende Abgrenzung ist sie dagegen nicht entscheidend, weil dafür die Einordnung nach der StVO nur Anhaltspunkte bietet und aus der Verwendung eines Fahrzeugs iSd StVO daher nicht zwangsläufig die Zuordnung zum geschützten anstatt zum privaten Bereich folgt. Wesentlich ist in diesem Kontext vielmehr, ob es sich um ein allgemein übliches Verkehrsmittel handelt, bei dem ein sicheres Fahren gewährleistet ist (10 ObS 127/23h Rz 6). Die Grenze des Unfallversicherungsschutzes verläuft daher nicht zwischen Spiel‑ und Sportgeräten und Fahrzeugen iSd StVO, sondern allgemein üblichen und anderen Verkehrs‑ bzw Fortbewegungsmitteln (zu Reitpferden: Müller, DRdA 1995/38, Glosse zu 10 ObS 200/94 Pkt 6.c.).

[19] 3.2.2. Dazu ergibt sich aus den Materialien zur 31. StVO‑Novelle (BGBl I 2019/37), dass der Gesetzgeber neben Einrädern (Monowheels) auch elektrisch betriebene Scooter als „Trendsportgeräte“ einstuft, deren Benutzung eine besondere Geschicklichkeit erfordert und die aufgrund ihrer technischen Eigenschaften (insbesondere im Zusammenhang mit Lenken und Bremsen) kein sicheres Fahren gewährleisten (ErläutRV 559 BlgNR 26. GP  1). Letzteres ist auch der Sukkus der überaus detaillierten und umfassenden Feststellungen des Erstgerichts, nach denen etwa das Fahren mit E‑Scootern ein stetes aktives Ausbalancieren durch den Fahrer erfordert, schon ein starkes Bremsen oder das Geben von Handzeichen kritische Manöver sind und im Vergleich zu einem Fahrrad die Stabilität deutlich geringer ausgeprägt ist, das Vorderrad leichter wegrutscht sowie infolge der kleinen Räder eine Selbststabilisierung nicht gegeben ist, sodass es leichter zu ungewollten Fahrlinienverlagerungen oder Auslenkbewegungen kommt.

[20] 3.2.3. Die Gründe, die zu 10 ObS 150/20m und 10 ObS 127/23h dazu führten, dass mit einem Monowheel zurückgelegte Arbeitswege nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterstellt wurden, treffen auf E‑Scooter daher in gleicher Weise zu. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich davon nur insoweit, als Monowheels eindeutig keine Fahrzeuge im Sinn des § 2 Abs 1 Z 19 StVO sondern fahrzeugähnliche Spielzeuge sind, wohingegen dies in Bezug auf die von § 88b StVO erfassten E‑Scooter (noch) nicht ganz klar ist. Wie ausgeführt gibt das aber nicht den Ausschlag.

[21] 3.3. Darauf aufbauend mag zwar sein, dass E‑Scooter in erster Linie im innerstädtischen (Nah‑)Verkehr inzwischen öfters anzutreffen sind. Das ändert aber nichts daran, dass sie der Gesetzgeber weder als allgemein übliches noch als sicher handhabbares Verkehrsmittel ansieht. Dass bei der Verwendung eines E‑Scooters wegen seiner spezifischen Eigenschaften bzw Bauart ein sicheres Fahren nicht garantiert ist und gerade die daraus resultierende besondere Gefahr und keine allgemeine Weggefahr zum Unfall des Klägers geführt hat, steht fest.

[22] Angesichts dessen entspricht die Ansicht der Vorinstanzen, dass sich im Anlassfall keine typische Gefahr eines Dienst‑ bzw Arbeitsweges verwirklicht hat, die unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen soll, der Rechtslage. Stichhaltige Argumente, die Anlass zu einer anderen Beurteilung geben könnten, zeigt der Kläger in seinen kurz gehaltenen Ausführungen auch nicht auf.

[23] 4. Warum – wie der Revisionswerber behauptet – die Einschätzung des Betriebsrats, der den Unfall des Klägers in einer von ihm erstatteten Unfallmeldung an ein Versicherungsunternehmen als „Arbeitsunfall“ qualifiziert hat, eine „unmittelbare Bindungswirkung“ für das vorliegende Verfahren entfalten sollte, ist nicht nachvollziehbar.

[24] 5. Zwar kann ein Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG auch dann erfolgen, wenn das Berufungsgericht die ordentliche Revision zugelassen hat, der Oberste Gerichtshof diese jedoch mangels einer Rechtsfrage im Sinn des § 502 ZPO zurückweist (RS0085898 [T2]). Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden jedoch nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

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