OGH 9ObA1/24y

OGH9ObA1/24y23.7.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätin Dr. Wallner-Friedl sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei N*, vertreten durch HAIDER | OBEREDER | PILZ Rechtsanwält:innen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei * GmbH, *, vertreten durch Mag. Filip Frank, Rechtsanwalt in Wien, wegen (zuletzt) 10.049,39 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Oktober 2023, GZ 9 Ra 35/23t‑38, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00001.24Y.0723.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Soweit der Revisionswerber eine erhebliche Rechtsfrage darin erblickt, dass Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Beurteilung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und der Zulässigkeit von Zeugen vom Hörensagen vor dem Hintergrund der Vorgaben nach Art 30 iVm Art 47 GRC fehle und diesbezüglich auch ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV anregt, ist ihm entgegenzuhalten, dass der Anwendungsbereich von Art 30 und Art 47 GRC im vorliegenden Fall nicht eröffnet ist.

[2] Der Anwendungsbereich der GRC ist hinsichtlich des Handelns der Mitgliedstaaten in Art 51 Abs 1 GRC definiert. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Aus der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen und nicht außerhalb derselben Anwendung finden (9 ObA 21/23p Rz 23; EuGH C-117/14 , Poclava, Rn 28 f, ECLI:EU:C:2015:60). Der Anwendungsbereich von Art 30 GRC ist somit dort eröffnet, wo eine Art 30 GRC konkretisierende Richtlinie umgesetzt wird (Jarass, Charta der Grundrechte der EU4 Art 30 Rn 3). Über die partiellen Regelungen durch Richtlinien hinaus sind die Mitgliedstaaten derzeit nicht an Art 30 GRC gebunden ( Rebhahn/SchörghoferinGrabenwarter[Hrsg], Europäischer Grundrechteschutz2 § 21 Rechte des Arbeitslebens [Art 27 bis 33 GRC] Rz 85). Eine für den hier vorliegenden Fall einschlägige Richtlinie besteht nicht. Es besteht auch keine eigenständige Richtlinie mit Fokus auf den individuellen Bestandschutz ( Kovács , Ein europäisches Grundrecht auf Kündigungsschutz. Art 30 GRC, 190 f).

[3] Schon aus diesem Grund erübrigt sich daher auch das vom Revisionswerber angeregte Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art 267 AEUV.

[4] 2. Der Revisionswerber moniert neuerlich eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens aufgrund der Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und der Verkennung der Rechtslage.

[5] Nach ständiger Rechtsprechung können vom Berufungsgericht verneinte Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens in dritter Instanz nicht mehr geltend gemacht werden (RS0042963). Die in der Revision angesprochene Ausnahme von diesem Grundsatz liegt nur dann vor, wenn das Gericht zweiter Instanz einen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens infolge einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht wahrgenommen hat (RS0043051). Die in diesem Sinn ergangenen Entscheidungen beziehen sich jedoch nicht auf den Fall, dass das zweitinstanzliche Gericht einen Verfahrensmangel – wie hier – nach ausdrücklicher Prüfung verneint hat, unterläge ansonsten doch jede zweitinstanzliche Entscheidung über eine Mängelrüge der Nachprüfung durch den Obersten Gerichtshof (RS0043051 [T4]; 6 Ob 155/21v mwN).

[6] Welcher Beweiswert bloß mittelbaren Beweisergebnissen zuzubilligen ist, ist zudem ausschließlich Domäne der im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof keiner weiteren Überprüfung unterliegenden Beweiswürdigung (RS0114723 [T2]).

[7] 3. Die Frage, ob dem Erfordernis der Unverzüglichkeit des Ausspruchs der Entlassung entsprochen wurde, hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab und stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0031571 [T12]).

[8] Der Geschäftsführer der Beklagten erlangte unstrittig am Abend des 5. 10. 2020 Kenntnis von dem Sachverhalt und wurde nach Rücksprache mit der Konzernleitung (in Deutschland) ein Gesprächstermin für den 9. 10. 2020 vereinbart, da ab März 2020 die Mitarbeiter der Beklagten grundsätzlich im Home Office sowie in Kurzarbeit tätig waren. Wenn das Berufungsgericht meint, dass aufgrund der Covid-19-Pandemie die Vereinbarung eines Gesprächstermins sowie die Kommunikation untereinander erschwert und nicht mit der Situation während eines Regelbetriebs vergleichbar waren, sowie dass es der Beklagten nicht zum Nachteil gereichen könne, dem Kläger die Möglichkeit der Stellungnahme in einem persönlichen Gespräch einzuräumen, begründet dies keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung (vgl RS0029381; RS0029386).

[9] 4. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision des Klägers zurückzuweisen.

[10] 5. Der Oberste Gerichtshof hat die Beantwortung der Revision nicht freigestellt, sodass die hilfsweise erstattete Revisionsbeantwortung der Beklagten gemäß § 508a Abs 2 Satz 2 ZPO nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig ist. Für diese steht daher kein Kostenersatz zu (vgl RS0043690 [T6, T7]).

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